„Wir müssen Zivilität verteidigen, Anstand
und Vernunft zurückgewinnen, ohne beides
kann Demokratie nicht gelingen.“
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, hat angesichts einer
Welle von Hass und Gewalt gegen Kommunalpolitiker in ganz
Deutschland zum Einsatz für die Demokratie aufgerufen.
Worte des Tages
EU – Türkei
Es geht um
mehr als Geld
I
mmerhin, sie reden noch mitei-
nander. Anderthalb Stunden
diskutierte der türkische Präsi-
dent Erdogan mit den Spitzen der
EU. Die Lage an der türkisch-grie-
chischen Grenze hat sich seitdem
entspannt. Am Dienstag wurde an
der Grenze kein Einsatz von Gewalt
und Schusswaffen mehr gemeldet.
Doch das Risiko einer neuen Kri-
se ist lange nicht gebannt. Die Be-
ziehungen zwischen Brüssel und
Ankara lassen sich so zusammenfas-
sen: Die EU fühlt sich von Erdogan
erpresst. Erdogan fühlt sich von der
EU im Stich gelassen. Ein „guter An-
fang“, wie Kommissionschefin Ur-
sula von der Leyen das Treffen
nannte, sieht anders aus.
Erdogans politische Ziele haben
sich gewandelt. Und die EU muss
entscheiden, wie sie mit einem
Nachbarn umgehen soll, dem die
Beziehungen zu Brüssel egal gewor-
den sind.
Wie es nun weitergeht, ist leicht
vorherzusagen, wenn man Erdogan
kennt. Er ist tief im Innern kein
Ideologe, sondern Pragmatiker.
Lange hatte er zugelassen, dass
knapp vier Millionen Flüchtlinge
und Migranten in der Türkei ver-
sorgt werden. Dafür gab es Geld aus
Europa und viele junge Arbeitskräf-
te in einer Zeit, in der die Wirt-
schaft im Land noch gut lief. Doch
jetzt, wo die Wirtschaft stottert und
der Sozialneid steigt, ist die Stim-
mung gekippt. Erdogan wird daher
weiter versuchen, die Migranten
loszuwerden.
Die jüngste Krise ist nur der
Brennpunkt der EU-Türkei-Bezie-
hungen. Da sind die gestoppten Bei-
trittsverhandlungen, die Bohrungen
nach Erdgas vor der Küste des EU-
Mitglieds Zypern oder Attentate auf
Muslime, etwa in Hanau. Erdogan,
der einen starken Sensor für Gefüh-
le in der Bevölkerung hat, spürt,
dass vor allem seine Wähler aufge-
bracht sind: Unter Nationalisten
und religiös orientierten Türken
steigt der Unmut gegenüber der EU.
Erdogans Politik spiegelt das. Die
EU, die seit Jahren eine konkrete
Türkeistrategie vermissen lässt,
muss sich auf weitere Probleme mit
Ankara einstellen. Geld allein wird
nicht reichen, die zu lösen.
Die Krise zwischen der EU und der
türkischen Regierung wird noch
lange anhalten, erwartet Ozan
Demircan.
Der Autor ist Korrespondent in
Istanbul.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]
D
ie Angst vor einer Rezession durch das
Coronavirus hat am Montag einen Ver-
stärker bekommen. Stundenlang hat-
ten die Spitzen der Bundesregierung
und der sie tragenden Parteien Sonn-
tagnacht im Koalitionsausschuss miteinander gerun-
gen. Am Montagmorgen aber kamen sie nicht mit
Lösungen gegen die Krise aus ihrer Sitzung. Das
14-seitige Ergebnispapier enthielt als Mittel gegen die
Rezession nur erweiterte Kurzarbeitsregeln und die
vage Ankündigung von Liquiditätshilfen. Schnelle
und unbürokratische Hilfen für Unternehmen, de-
nen das Geschäft wegzubrechen droht, fehlten.
Stattdessen listeten Union und SPD umso ausführli-
cher mittelfristige Projekte auf, wie Reformen der
Unternehmensteuern und der Planungsverfahren.
Die Beschlüsse wirkten damit am Montag wie ein
weiterer Tropfen Öl ins Feuer der Börsenpanik.
Denn sie vermittelten die Botschaft, dass die Regie-
rung des größten europäischen Landes nicht in der
Lage ist, aus ihrer Selbstlähmung herauszufinden, in
die sie die sinkenden Zustimmungswerte der Wähler
für CDU und SPD gestoßen haben. In Italien explo-
dieren die Infektionszahlen, auch in Deutschland le-
gen sie seit dem Wochenende beschleunigt zu, Re-
gionen werden unter Quarantäne gestellt und Veran-
staltungen reihenweise abgesagt. Aber anstelle eines
Hilfspakets präsentierten Union und SPD einen Ko-
alitionsvertrag 2.0 für die Restlaufzeit ihrer Regie-
rung. Ein Notpaket für die Wirtschaft jedoch ist
überfällig, um die Rezessionsangst einzufangen.
Denn Angst wirkt zuverlässig als Krisenverstärker.
Es brauchte wohl erst die Börsenpanik, um die
Bundesregierung zu wecken. Am Dienstag immerhin
schalteten Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU)
und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dann doch
in den Handlungsmodus. Sie bringen nun die Er-
leichterungen für das Kurzarbeitergeld diese Woche
in den Bundestag und nicht erst Ende März. Bürg-
schaften und Liquiditätshilfen will die Regierung in
dieser Woche endlich passgenau für die Coronakrise
bündeln. Und notleidende Firmen werden bald um
die Stundung von Steuern und Sozialabgaben nach-
suchen können. Hoffnung macht auch die Ankündi-
gung, dass Heil und Altmaier sich nun permanent
mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Gesund-
heitsminister Jens Spahn (CDU) abstimmen und
nicht länger aneinander vorbei arbeiten wollen.
Mit das Wichtigste wird nun sein, dass die Minister
klar analysieren, welche Mittel wie wirken, und allen
ideologischen Ballast bis auf Weiteres fallen lassen.
Erfahrungen aus der Finanzkrisenrezession von
2009 können sie dabei nutzen, ebenso die aus der
Flutkatastrophe des Jahres 2013: Mit Milliarden ge-
füllte Hilfspakete standen damals jeweils bereit, um
kurzfristige Notlagen von Firmen zu überbrücken.
In den Jahren 2009 und 2010 gab es den „Wirt-
schaftsfonds Deutschland“, der für Firmen in Not
KfW-Sonderkredite mit Bundesbürgschaften verband
und 20 000 Firmen durch die Krise und 2,7 Millio-
nen Arbeitsplätze zu erhalten half. Ähnlich dem
Fluthilfefonds 2013, der Bürgern und Firmen nicht
versicherte Schäden ersetzte. Aus beiden Fonds wur-
den längst nicht alle Mittel benötigt. Aber wer drin-
gend Überbrückungsgeld brauchte, bekam es. Da-
rauf kommt es, auch als Mittel gegen die Angst, in
den nächsten Wochen an.
Ökonomen betonen, dass geförderte Kredite und
Bürgschaften besser sind als Direktzahlungen an Fir-
men: Es besteht die Gefahr, dass die Verluste der Kri-
se sozialisiert und die Gewinne im Wiederauf-
schwung komplett privatisiert werden. Für Klein-
selbstständige allerdings sollte die Regierung
trotzdem Zuschüsse erwägen: Das Restaurant und
das Hotel, denen plötzlich alle Gäste fehlen, werden
Wochen ohne Einnahmen nicht durchstehen können.
Aktuell weiß noch niemand, wie lange die Corona-
krise andauert, wie lange also Veranstaltungen aus-
fallen und wie viele Zulieferungen aus dem Ausland
nicht in den Fabriken ankommen werden. Aller-
dings: So schnell verschwinden, wie anfangs erhofft,
wird diese Krise nicht. Auf eine Rezession muss sich
die Regierung vorbereiten und zusätzlich zu den
Nothilfen ein Konjunkturpaket schnüren.
Das ist schwieriger als während der Finanzkrise:
Eine Abwrackprämie für Autos, die mangels fehlen-
der Zulieferungen nicht gebaut werden können,
bringt wenig. Auch andere Kaufanreize für die Bür-
ger müssen so gestaltet werden, dass sie nicht ein
Anreiz sind, in die Innenstädte zu strömen.
Steuersenkungen wirken schnell. Das Vorziehen
des Soli-Abbaus könnte der Bundestag sofort be-
schließen. Das würde Handlungsfähigkeit beweisen.
Eine befristete Mehrwertsteuersenkung dagegen hät-
te den Nachteil, dass sie mit zehn Milliarden pro Pro-
zentpunkt sehr teuer wäre und großenteils von den
Händlern vereinnahmt würde. Direkte Kaufprämien
für langlebige Konsumgüter dürften effizienter sein.
Jedenfalls: Alle Mittel gegen den Konjunkturein-
bruch, dessen Existenz Scholz und Altmaier seit Be-
ginn der Industrierezession vor anderthalb Jahren
beschwören, müssen jetzt eingesetzt werden.
Coronakrise
Gezielt gegen die
Corona-Rezession
Die Coronakrise
erfordert ein
Hilfspaket der
Regierung für die
Wirtschaft, nicht
politische
Wunscherfüllung
der Parteien, sagt
Donata Riedel.
Ein Notpaket
für die
Wirtschaft ist
überfällig, um
die Rezessions-
angst einzufan-
gen. Denn Angst
wirkt als Krisen-
verstärker.
Die Autorin ist Hauptstadtkorrespondentin in
Berlin. Sie erreichen sie unter:
[email protected]
Meinung
& Analyse
MITTWOCH, 11. MÄRZ 2020, NR. 50
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