Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 117
»Sonst würden wir nicht
existieren«
PHYSIK Der Teilchenforscher Stefan Ulmer, 44, über
die Frage, warum sich Materie und
Antimaterie beim Urknall nicht ausgelöscht haben
SPIEGEL: Herr Ulmer, eigentlich
dürfte es unser Universum gar
nicht geben. Warum können
wir dieses Interview trotzdem
führen?
Ulmer: Das ist eines der großen
Rätsel der fundamentalen Phy
sik. Wenn man die Urknalltheo
rie und das Standardmodell der
Teilchenphysik zusammenfasst,
dann sollten am Beginn des
Universums Materie und Anti
materie in gleicher Menge ent
standen sein. Und wenn sich ein
Teilchen und sein Antiteilchen
treffen, vernichten sie sich
gegenseitig. Aber irgendwie ist
vor 13,8 Milliarden Jahren
trotzdem Materie übrig geblie
ben, sonst würden wir nicht
existieren. Dieser Asymmetrie
sind wir auf der Spur.
SPIEGEL: Um das Rätsel zu lö
sen, haben Sie sich Antiproto
nen genauer angesehen. Warum
sind die wichtig?
Ulmer: Es gab die Vermutung,
dass es minimale Unterschiede
zwischen Materie und Anti
materie geben könnte. Hätten
zum Beispiel Protonen etwas
mehr Masse als Antiprotonen,
dann hätten einige die Aus
löschung von Materie und Anti
materie nach dem Urknall
überstehen können. Außerdem
haben Antiprotonen für uns
Physiker noch eine praktische
Eigenschaft. Sie zerfallen
nicht von sich aus. Das gibt
uns Zeit, sie extrem präzise zu
untersuchen.
SPIEGEL: Wo bekommen Sie
Ihre Antiprotonen her?
Ulmer: In einer Anlage hier am
Cern bei Genf, dem »Antipro
ton Decelerator«, wird zunächst
ein Strahl aus beschleunigten
Protonen auf ein Ziel aus dem
Edelmetall Iridium geschossen.
Beim Zusammenstoß entstehen
Teilchenpaare, zu denen auch
Protonen und Antiprotonen ge
hören. Diese müssen dann mit
hilfe starker Felder verlangsamt
werden, damit wir an ihnen
unsere Messungen durchführen
können.
SPIEGEL: Wie schaffen Sie es,
dass sich Ihre Antiprotonen
nicht mit normaler Materie tref
fen und auslöschen?
Ulmer: Dafür haben wir eine
sogenannte Penningfalle
konstruiert. Sie sorgt mit star
ken elektrischen und mag
netischen Feldern dafür, dass es
nicht zu Kollisionen zwischen
der Antimaterie und unserer
normalen Materie kommt. Eine
wichtige Zutat ist ein extrem
geringer Druck im Inneren der
Falle. Er liegt bei Werten, wie
man sie auch im freien Welt
raum findet. Das heißt, in der
etwa einen Liter großen Falle
befinden sich dann nur noch
ein paar Tausend Atome Mate
rie. Da ist es extrem unwahr
scheinlich, dass es zu Kollisio
nen mit der gespeicherten Anti
materie kommt. Um solch ein
perfektes Vakuum herzustellen,
müssen wir unser Experiment
stark kühlen, auf etwa minus
269 Grad Celsius.
SPIEGEL: Sie haben die Masse
der Antiprotonen jetzt so genau
vermessen wie noch niemand
zuvor, auf elf Stellen nach dem
Komma, aber keine Unterschie
de zu Protonen gefunden. Ha
ben Sie vielleicht noch immer
nicht genau genug gemessen?
Ulmer: Wir haben uns große
Mühe gegeben. Aber natürlich
ist es nicht auszuschließen, dass
es auf einem noch nicht mess
baren Level doch Unterschiede
gibt. Diese hoffen wir in Zu
kunft zu finden. Ein anderer
Ansatz erscheint mir aber aktu
ell spannender.
SPIEGEL: Wie lautet der?
Ulmer: Wir wollen uns noch ein
mal genauer ansehen, ob sich
statt der Massen vielleicht die
magnetischen Momente unter
scheiden. Dafür messen wir das
Kreiseln der Teilchen um ihre
eigene Achse. Bei dieser Art der
Messungen sind wir bisher im
Vergleich zur Masse noch um
den Faktor 100 ungenauer. Im
Laufe der kommenden zwei
Jahre wollen wir den Abstand
deutlich verkleinern. Aber auch
hier sehen wir bisher keine
Unterschiede zwischen Proto
nen und Antiprotonen. CHS
Wie kam Corona in
die Antarktis?
PANDEMIE Trotz strenger Hygienemaß
nahmen haben sich auf der belgischen Prin
zessinElisabethPolarstation seit Dezem
ber einige Frauen und Männer mit dem Co
ronaerreger angesteckt. Von elf Fällen unter
den 25 Teammitgliedern berichtet Nicolas
Van Hoecke von der International Polar
Foundation, die den Komplex in der Ant
arktis betreibt. Die Infizierten sollen alle
samt mindestens zweimal geimpft gewesen
sein. Außerdem soll sich das Team vor Ab
reise einer zehntägigen Quarantäne unter
zogen haben, ergänzt um insgesamt vier
PCRTests. Wie konnte das Coronavirus
trotzdem zuschlagen? Diese Frage beschäf
tigt die Wissenschaftler nun intensiv. Um
die Pandemie so gut wie möglich von den
antarktischen Forschungsstationen fern
zuhalten, gibt es internationale Empfehlun
gen. Dazu zählen unter anderem eine
14 tägige Quarantäne vor der Abreise und
mindestens drei PCRTestungen. Häufig
erfolgt die Anreise über die südafrikanische
Metropole Kapstadt; von dort ist auch jenes
Team aufgebrochen, das den Erreger ver
mutlich einschleppte. Womöglich haben
sich die Forscher bei ihrer Hotelquarantäne
angesteckt. Zu dieser Zeit grassierte Omi
kron besonders stark in Südafrika. Auch
einige Wissenschaftler des deutschen
AlfredWegenerInstituts (AWI) steckten
sich jüngst in Kapstadt an – beim Hotel
personal. »Daraufhin haben wir die Isola
tion noch einmal so lange verlängert, dass
die betroffenen Personen genesen konn
ten«, berichtet Eberhard Kohlberg vom
AWI. Offenbar mit Erfolg: Auf der deut
schen Station, sagt Kohlberg, habe man bis
her keinen Coronafall gehabt. In Zeiten
der hochansteckenden OmikronVariante
sind also auch für Antarktisfahrer beson
ders strenge Regeln nötig. Die Impfungen
indes scheinen wie überall gut zu wirken:
Auf der belgischen Station habe es bislang
nur milde Verläufe gegeben, berichtet Van
Hoecke. Von den Erkrankten weise inzwi
schen keiner mehr Symptome auf. Drei Per
sonen seien bereits wieder – negativ getes
tet – turnusmäßig nach Hause geflogen. CHS
Prinzessin-Elisabeth-Polarstation
Ulmer am Cern
René Robert / International Polar Foundation
Maximilien Brice / BASE / CERN
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