DEUTSCHLAND
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 45
Oberst Anwar Raslan setzte sich Ende 2012
unter Lebensgefahr aus Syrien ab. Ähnlich
der zunächst Mitangeklagte Eyad Alghareib,
ein Feldwebel, dessen Verfahren abgetrennt
wurde und den das Koblenzer Oberlandes-
gericht schon im Februar 2021 zu viereinhalb
Jahren Haft verurteilte, wegen Beihilfe zu
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er hat
Revision eingelegt, über die noch nicht ent-
schieden ist.
Als Raslan 2012 floh, feierte die syrische
Exil-Opposition das als Gewinn. Ihre politi-
sche Wertschätzung galt dem Überläufer, des-
sen frühere Tätigkeit stand nicht im Vorder-
grund. Denn je mehr Generäle, Oberste die
Seiten wechseln würden, desto eher werde
die Diktatur zusammenbrechen. Das war die
politische Mengenlehre jener Zeit. Selbst die
Zeugin L., die inzwischen in Paris lebt, sagt,
sie habe aus dem Treffen mit Raslan in Am-
man auch Hoffnung geschöpft. »Die Revolu-
tionäre wurden nicht von den Großmächten
der Welt unterstützt, und so war jeder De-
serteur eine Quelle der Kraft.«
Das al-Khatib-Gefängnis, dem Raslan of-
fiziell bis September 2012 vorstand, war eine
Quelle des Schreckens, eine Zwischenhölle
auf dem Weg ins Verschwinden oder, viel-
leicht, zurück in die Freiheit. Es untersteht
der Abteilung 251 der syrischen Staatssicher-
heit. Die zwei mehrstöckigen Gebäude liegen
mitten in einem Wohngebiet im Damaszener
Viertel al-Khatib, daher der Name, gegenüber
einem Krankenhaus zwischen Supermärkten,
einer Apotheke, einem Park. Davon sahen
die meisten Insassen nichts, die mit verbun-
denen Augen in überfüllten Bussen gebracht
wurden.
Überlebende haben in Koblenz von ihrer
Zeit in al-Khatib berichtet: von den »Will-
kommenspartys« im Innenhof, bei denen
Wärter wie entfesselt auf die Gefangenen ein-
schlugen. Vom Gang in den Keller, wo die
meisten ohne Tageslicht vegetieren mussten.
Wer Pech hatte, kam in eine Einzelzelle und
fürchtete, nach Tagen völliger Isolation den
Verstand zu verlieren. Wer Pech hatte, kam
in eine überfüllte Sammelzelle, in der sich die
Gefangenen mit dem Sitzen und Liegen ab-
wechseln mussten.
»Man brachte mich in die Todeszelle mit
der Nummer 5«, erzählte ein Syrer Mitte fünf-
zig, der als Beamter in einem Labor gearbei-
tet hatte und vermutlich nur wegen einer Na-
mensverwechslung festgenommen worden
war. Heute ist er anerkannter Flüchtling in
Deutschland: »Die Todeszelle erlebe ich bis
heute. Sie ist wie ein Grab, kein Licht, kein
Fenster, nur ein Spalt unter der Tür, um mich
herum 130 bis 140 Personen.« Zur Strafe
hätten die Wärter manchmal den Lüftungs-
schacht geschlossen, sodass innerhalb von
Minuten panische Atemnot herrschte.
Schlimmer noch als die Schläge und die
quälenden Haftbedingungen aber seien die
Schreie gewesen, berichteten fast alle Über-
lebenden im Oberlandesgericht. Tag und
Nacht hätten die Schreie durch die Gänge und
Zellen gehallt. Manchmal, so eine Zeugin, ver-
mischten sie sich mit der Stimme der libane-
sischen Sängerin Fairuz, die die Wärter im
Radio hörten. »Die Schreie haben mich über-
zeugt, dass ich auch so enden werde«, erzähl-
te ein Zeuge. Eine andere Zeugin sagte: »Ein-
mal folterten sie jemanden sehr heftig, seine
Schreie waren laut und lange zu hören, und
irgendwann hörte man ihn dann gar nicht
mehr.«
Die Massenverhaftungen, das wahllose
Morden hätten ihn dazu bewogen zu fliehen,
sagte Anwar Raslan später in Deutschland.
Er ist einer von nur einer Handvoll hoher
Geheimdienstoffiziere, die zur Opposition
überliefen, während Hunderte blieben.
Doch er hatte kein grundsätzlich moralisches
Motiv, wie er immer wieder selbst erwähnt
hat, in seiner schriftlichen Einlassung und
in einer früheren Befragung. »Was sollen
wir als Ermittler mit Toten?«, gab er im Ok-
tober 2017 beim Landeskriminalamt (LKA)
in Stuttgart als Zeuge in einem anderen
Fall zu Protokoll: »Die können wir nicht ver-
hören.«
Bei einem Treffen mit dem SPIEGEL im
April 2013 in Amman berichtete der Ex-
Oberst detailliert aus dem Innenleben der
Geheimdienste. Er kannte ihr virtuoses Dop-
pelspiel, schon ab 2005 hatten sie dschihadis-
tische Terrorgruppen aufgebaut, um mit ihnen
Von desertiertem syrischen Militärfotografen »Caesar« aufgenommene Leichenbilder: Erstmals als Beweismittel verwendet
Juma Mohammad / picture alliance / ZUMAPRESS.com
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