Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
Stokowski wurde
1986 in Polen
geboren, seit 1988
lebt sie in Berlin.
Sie arbeitet als freie
Autorin für diverse
Medien. Ihr femi­
nistischer Bestseller
»Untenrum frei«
ist 2016 im Rowohlt
Verlag erschienen.
2018 folgte
»Die letzten Tage
des Patriarchats«.

Kommentar im Netz

Spätestens wenn man Opfer von
Doxing wird, ist der Hass im Netz
nicht mehr nur im Netz. Dann kann
es passieren, dass man, um ein paar
Beispiele zu nennen, am Tag 20 Piz­
zen geliefert bekommt, die man nicht
bestellt hat, oder dass jemand vor der
Tür steht und Sturm klingelt oder dass
man tote Vögel und Hundekot im
Briefkasten findet, Graffiti im Trep­
penhaus, ein Hakenkreuz an der
Wohnungstür und so weiter. Das ist
eine Auswahl der Dinge, die Journa­
list:innen oder Aktivist:innen, die ich
kenne, in den vergangenen Jahren
passiert sind
Das kann für Betroffene die Folge
haben, dass sie umziehen, den Job
wechseln, eine Kamera am Haus­
eingang installieren oder die Familie
warnen, dass merkwürdige und un­
angenehme Dinge passieren könnten.
Oder all die kleinen, aber sehr ner­
vigen und oft teuren Dinge, die den
Alltag erschweren: den Namen am
Klingelschild ändern, nichts mehr
nach Hause bestellen, um die eigene
Adresse zu schützen, alle Post an ein
Postfach umleiten, die Wohnungstür
verstärken.
Wer das noch nicht erlebt hat, wird
wahrscheinlich denken: Ja, aber bei
so was geht man doch zur Polizei! Ja,
sicher. Oft geht man dann zur Polizei.
Allein: Die tut nicht immer was. Teils
weil sie nichts tun kann und teils weil
das Problem nicht erkannt wird. Zu­
sätzlich haben Betroffene von rechter
oder rassistischer Gewalt nicht un­
bedingt ein gutes Gefühl dabei, zur
Polizei zu gehen, wenn sie regelmäßig
die Nachrichten verfolgen und wissen,
wie oft rechtsextreme Chatgruppen
von Polizist:innen auffliegen.
In einer Forsa­Umfrage im Früh­
jahr 2021 gaben 78 Prozent der Be­
fragten an, strafrechtliche Verfolgung
sei eine effektive Maßnahme gegen
Hasskommentare. Nur: Zur tatsäch­
lichen Strafverfolgung kommt es mit­
unter nicht, teils weil die Situation
von den Ermittlern als nicht schlimm
genug wahrgenommen wird, teils
weil Verfahren schnell wieder einge­
stellt werden.
Deswegen wäre ein notwendiger
Schritt im Kampf gegen Hass im Netz,
das zuständige Personal bei Polizei
und Justiz in allen Bundesländern so
zu schulen, dass Betroffene ernst ge­
nommen werden. Bis man nicht selbst
in der Situation war, glaubt man nicht,
wie schlecht geschützt Betroffene
sind. Als ich einmal eine konkrete
Drohung anzeigte, in der mir meine
angeblich bevorstehende brutale Ver­
gewaltigung sehr explizit und brutal
beschrieben wurde, ermittelte zwar

die Staatsanwaltschaft. Allerdings
lautete der Straftatbestand nicht etwa
Bedrohung, sondern »Verbreitung
pornographischer Schriften«.
Noch ein Beispiel: eine Sicher­
heitsberatung beim LKA wegen aku­
ter Bedrohungslage. Die Tipps, die
ich bekam: »Posten Sie nicht Ihren
Standort im Internet. Wenn Sie
abends alleine raus müssen, nehmen
Sie eine Taschenlampe mit. Meiden
Sie dunkle Gegenden, in denen sonst
niemand ist. Und wenn Ihnen etwas
komisch vorkommt, rufen Sie die
110.« Ich kenne Dutzende solche Er­
zählungen von anderen Journalist:in­
nen. Manchen wird geraten, gar nicht
mehr allein rauszugehen. Oder ab
und zu unters Auto zu gucken, ob da
der von irgendwelchen Hatern an­
gekündigte Sprengsatz zu finden ist.
Polizei und Justiz zu schulen ist
eine Forderung, die man leicht er­
heben kann. Aber natürlich können
auch Einzelne etwas tun. Selbst unter
Journalist:innen ist es nicht selbstver­
ständlich, sich Betroffenen gegenüber
solidarisch zu zeigen. Ich hatte schon
Gespräche mit Kolleg:innen, die auf
die Tatsache, dass ich mal wieder
Morddrohungen erhalten hatte, mit
Sätzen reagierten wie: »Also, ich bin
ja nicht so wichtig, tja, mich bedroht
ja keiner.« Oder: »Tja, das ist halt die
andere Seite der Medaille, wenn man
Bestseller schreibt, ne?«
Als wären Drohungen der Preis für
Ruhm und Ehre. Alles daran ist falsch.
Denn man kann natürlich auch Best­
seller schreiben, ohne bedroht zu
werden. Manchmal denke ich, in
einer Welt, in der Aufmerksamkeit
und möglichst große Followerzahlen
manchen Leuten so unbedingt erstre­
benswert erscheinen, werden wir nie

einen vernünftigen Umgang mit Hass
im Netz finden.
Zwar wird Hass im Netz in den
Medien häufig thematisiert, oft aber
auch mit Formulierungen à la »Es
kann jeden treffen«. Das stimmt zwar
theoretisch, faktisch aber nicht wirk­
lich: Hass im Netz ist keine Natur­
gewalt, die ab und zu wahllos über
Einzelne hereinbricht. Gewalt im
digitalen Raum trifft Frauen, die sich
öffentlich politisch äußern, häufiger
als Leute, die Backrezepte auf Chef­
koch.de teilen.

M


an weiß aus anderen Umfra­
gen auch: Jüngere sind öfter
betroffen als Ältere, und wer
im Alltag von Sexismus, Rassismus,
Queer­ oder Transfeindlichkeit be­
troffen ist, ist es im Netz auch. »Mäd­
chen und Frauen erhalten viel hefti­
gere Inhalte zugeschickt als Männer,
etwa Vergewaltigungsandrohungen.
Die sexualisierte Gewalt ist bei Frau­
en im Netz viel massiver«, sagt Anna­
Lena von Hodenberg von HateAid,
einer Beratungsstelle für Opfer digi­
taler Gewalt, in einem Interview.
»Eine Frau, die heute in die Öffent­
lichkeit geht und sich politisch äußert,
ist nicht mehr sicher.«
Im Moment ist es so, dass es zu
wenige Anlaufstellen für Betroffene
gibt, auch deswegen helfen sich Men­
schen, die beleidigt und bedroht wer­
den, oft gegenseitig. Ich könnte nicht
mehr an beiden Händen abzählen,
wie oft sich schon Kolleg:innen an
mich gewendet haben, wenn sie An­
feindungen erlebten. Manchmal kann
ich dann helfen. Das ist aber eigent­
lich eine Aufgabe, die Arbeitgeber,
Polizei und Justiz übernehmen müss­
ten. Und es wäre eine Aufgabe der
allgemeinen Bildung durch Medien.
Wer Angst hat, zu Hause angegrif­
fen zu werden, löscht womöglich erst
mal hektisch sämtliche öffentlich ge­
posteten Fotos vom eigenen Balkon,
das Schneefoto aus dem Schlafzim­
merfenster, die Fotos der Kinder. Wer
schon länger beleidigt und bedroht
wird, postet so etwas längst nicht
mehr. Der weiß: Die Hauptaufgabe
besteht darin, sich selbst zu schützen,
anderen zu helfen und dabei – und
das ist vielleicht das Schwierigste –
nicht paranoid zu werden.
Ein bitterer Schluss, ich weiß. Um
aber am Ende doch noch was dazu
zu sagen, was »es« mit mir macht:
Manchmal antworte ich den Leuten,
die mich bodenlos beleidigen, und
beleidige sie zurück. Bisschen Psy­
chohygiene zwischendurch. Sollen sie
mich von mir aus anzeigen – da pas­
Thomas Trutschel / photothek / IMAGOsiert meistens eh nix. n

Jelka von Langen

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 71

75 JAHRE DER SPIEGEL TITEL

2022-02SPAllTitel456552202_Aurich-EssayKul-068071 712022-02SPAllTitel456552202_Aurich-EssayKul-068071 71 06.01.2022 23:13:4806.01.2022 23:13:48

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