Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
#NichtSelbstverständlich«. Danke den Ärzten
Carola Holzner, Uwe Janssens sowie den Ini­
tiatoren und mehr als 300 000 Unterstützern
der Petition »Pflege braucht Würde«. Auch
Altenpflege ist intensiv.
Warum wird immer noch so viel über Pfle­
gende, aber so wenig mit ihnen gesprochen?
Wo ist ihre Lobby? Warum gibt es bis heute
keine schlagkräftige bundesweite Pflegekam­
mer, die den Kammern der Ärzte und Apo­
theker etwas entgegensetzt? Ein Podcast von
Pflegen den für Pflegende könnte theoretisch
1,5 Millionen Menschen erreichen, die wich­
tigsten neuen Entwicklungen und Ideen ver­
mitteln, inklusive allem, was die seelische
Gesundheit schützt.
Aus der größten Gruppe im Gesundheits­
wesen könnte so auch der effektivste Ver­
mittler in die Mitte der Gesellschaft werden.

Wunsch 5: Gemeinsinn macht Sinn. Hass nie
Als ich vor der Wahl Karl Lauterbach zufällig
im Zug traf, reiste er mit Personenschützern,
weil er verbal und tätlich angegriffen worden
war. Es hat mich erschüttert. Laut der Zeit­
schrift »Nature« haben 60 Prozent der Wis­
senschaftler, die sich mit Covid­19 beschäf­
tigten, Attacken auf ihre Glaubwürdigkeit
erfahren, 15 Prozent haben Todesdrohungen
bekommen.
Diese Einschüchterungsversuche dürfen
wir als Gesellschaft nicht zulassen – und erst
recht nicht durch idiotische Sündenbocksuche
medial anheizen. Wissenschaft erleichtert uns
das Leben. Wissenschaftlerinnen und Wissen­
schaftlern das Leben unnötig schwerer zu
machen ist verantwortungslos. Menschen, die
versuchen, qua Beruf und Berufung der Wahr­
heit näherzukommen, dürfen weder verteu­
felt noch bedroht werden, auch wenn deren
Erkenntnisse nicht allen in den Kram passen

oder wehtun. Sonst wird das 21. Jahrhundert
wieder zum Mittelalter.
So wichtig es für die Demokratie, jeden
Bürger und die Presse ist, Politik und öffent­
liche Akteure kritisieren zu dürfen: Wir als
Gesellschaft verlieren, wenn sämtliche reflek­
tierten, sensiblen und vernunftbegabten Men­
schen vergrault werden. Dann bleiben für die
Aufgaben und Ämter die Egomanen übrig,
die Narzissten und Psychopathen. Wer will
das? Wenn diese Pandemie irgendeinen Sinn
hat, dann diesen: im Kampf gegen das Virus
das »Wir« wiederzuentdecken.

Wunsch 6: Unsinn professionell und
kunstvoll kontern!
Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung,
aber nicht auf eigene Fakten. Im Kampf gegen
Falschinformationen ist Geschwindigkeit ein
Schlüssel. Eine verzögerte Reaktion auf vira­
len Bullshit wirkt in der Schnelllebigkeit der
Aufmerksamkeitsgesellschaft wie eine Bestä­
tigung. Momentan fühlt sich dafür aber keine
Institution so richtig zuständig. Segensrei­
cherweise gibt es viele großartige aufkläreri­
sche Projekte mit Faktencheckern, Richtig­
stellern und Aufklärern. Danke dafür!
Es fehlt aber eine gut ausgestattete zen trale
schnelle Einsatztruppe, die gefährliche
Trends im Netz frühzeitig erkennt und »zer­
stört«. Und zwar auf denselben Plattformen,
mit GIFs, Clips und bekannten Köpfen. Und
kann man nicht Facebook, YouTube und Goo­

gle verpflichten, nach dem Bullshit direkt das
zugehörige Faktencheck­Video anzuzeigen?
Erste freiwillige Ansätze gibt es bereits, aber
sie reichen in meinen Augen nicht aus.
Aufseiten der User müssen wir die »Bull­
shit­Resilienz« erhöhen. Das heißt, von der
Grundschule bis in die Politik müssen Recher­
chekompetenz, Quellenprüfung und das Wis­
sen über Verzerrungen und Denkfehler All­
gemeinwissen werden. Wir haben gelernt, uns
die Hände zu waschen, um keine Keime wei­
terzugeben. Wann lernen wir, auch auf den
Handys Hygienestandards einzuhalten und
keine toxischen Falschinformationen zu ver­
breiten?

Wunsch 7: Die wichtigsten Fragen stellen
für die nächsten 75 Jahre
Wir stecken in drei globalen Krisen: der Pan­
demie, der Klimakrise und dem Artensterben.
Neu daran ist: Wir sind Opfer und Täter. Wie
viele »Jahrhundertereignisse« benötigen wir
noch, um zu verstehen, dass dieses Jahrhun­
dert anders ist als alle zuvor? Ein CO 2 ­Molekül
ist nicht durch Abkommen zu beeindrucken,
sondern durch ein Ende fossiler Emissionen.
Ein Virus braucht kein Visum, um Ländergren­
zen zu überschreiten, ihm ist es sogar egal, ob
wir Mensch sind oder Tier, Privatpatient oder
gesetzlich versichert. Es tut, was es tut.
Warum mutiert das Virus? Wegen der Un­
geimpften! Blickwechsel von Sachsen nach
Soweto: Das ist eine »Pandemie der Unge­
impften«! Und zwar der unfreiwillig un­
geimpften Menschen auf dem afrikanischen
Kontinent – ebenso wie in Indien, Südame­
rika und der Hälfte der Welt, die wir ignorie­
ren, obwohl wir ständig das Wort »Pandemie«
nutzen – was »überall« bedeutet. Neun von
zehn Menschen in Afrika hatten bislang keine
Grundimmunisierung. Dabei würden laut
Covax­Initiative 20 Milliarden Euro reichen,
um 40 Prozent der Ärmsten zu schützen. Das
war es uns bis heute nicht wert.
Sind 20 Milliarden viel Geld? Nein. Allein
die Deutschen geben mehr als 60 Milliarden
Euro im Jahr für Medikamente aus, die wahr­
scheinlich nicht mal zur Hälfte genommen
werden. Die europäische Wirtschaft zu för­
dern ist uns 800 Milliarden wert. Jede neue
Coronawelle kostet uns weitere Menschen­
leben und Milliarden. So wie jede Flutwelle,
Flächenbrände und Hurrikane.
Beide Krisen offenbaren massive Unge­
rechtigkeiten und Kleingeistigkeit und erfor­
dern jetzt globales Umdenken und Umver­
teilen, von mir aus auch aus Eigennutz. Es
geht erst allen besser, wenn es allen besser
geht. In der Impfprävention wie in der Klima­
politik gilt: Das Teuerste, was wir jetzt tun
können, ist nichts.

Wunsch 7,5: Humor
Was noch in der Debatte fehlt? Humor. Mein
liebster Post dazu: »Menschen, die glauben,
dass die Impfung ihr Erbgut verändert, soll ­
ten das als Chance begreifen.« In diesem
Sinne! n

»Ein Virus braucht
kein Visum.
Es tut, was es tut.«

Streitobjekt Spritze (von Schafen und Ziegen gebildet): Langzeitschäden macht das Virus

Hanspeter Etzold / REUTERS

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 73

75 JAHRE DER SPIEGEL TITEL

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