Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 79

kalorienreichen und mit Aromen auf-
gepeppten Pseudobuletten investier-
ten sogar Microsoft-Gründer Bill Gates
und Schauspieler Leo nardo DiCaprio.
Fermenterkäse oder In-vitro-Fleisch
aus künstlich vermehrten Hühner-,
Rinder- oder Fischzellen sind der
nächste Schritt. Sie sollen die Origi-
nale ersetzen und die Menschheit mit
den begehrten Proteinen versorgen.
Nur ein paar Zellen aus dem lebenden
Tier sind für den Fleischnachbau
nötig, für den Käse reichen Pilze und
Hefen. Den Rest besorgt die Wissen-
schaft, so die Theorie.
Der Mensch spielt Gott. Er expe-
rimentiert mit Nährlösungen, Gen-
sequenzen und Enzymen, um die
Natur im Labor nachzuahmen – bes-
ser, billiger, klimafreundlicher.
Das Experiment könnte sich loh-
nen. Denn der Agrarsektor ist ein-
same Spitze beim Wasser- und Anti-
biotikaverbrauch und, rechnet man
die Transporte mit ein, bereits heute
für rund ein Drittel der schädlichen
Klimagase verantwortlich. Tendenz
steigend. Sollte die weltweite Fleisch-
produktion weiterhin zulegen, wäre
das verheerend fürs Klima und würde
weitere wertvolle Flächen fressen: In
Deutschland landen fast 60 Prozent
des verwendeten Getreides in den
Futtertrögen von Nutztieren.
Ist Fleisch aus dem Bioreaktor also
die Lösung? Oder verhindern diese
Novel-Food-Innovationen bloß, dass
die Menschen ihren Fleischkonsum
endlich reduzieren, wie es Ernäh-
rungswissenschaftler seit Jahren no-
torisch empfehlen? Ganz nach dem
Prinzip E-Auto, wo es ja auch darum
geht, das Schädliche durch etwas
vermeintlich Sauberes zu ersetzen,
um weiterfahren zu können wie
bisher.
Unter Investoren herrscht jeden-
falls euphorische Stimmung, und mit
jedem neuen Jahr, jedem neuen
Start-up, jedem neuartigen Lebens-
mittel wächst ihre Hoffnung auf das
In-vitro-Wunder – und auf ein enor-
mes Geschäft.
Zumindest beim Fleisch könnte es
noch etwas dauern mit den Milliarden-
umsätzen. Zwar stellte die niederlän-
dische Firma Mosa Meat bereits vor
acht Jahren den ersten Kunst burger
aus dem Labor vor. Das Ding kostete
in der Herstellung jedoch 250 000 Euro.
Und die Testesser empfanden ihn als
trocken, von Frankensteinfleisch war
die Rede. Seitdem gibt es kaum ver-
zehrfertige Produkte.
Die Natur nachzubauen scheint
schwierig: Die Nährlösungen für die
Tierzellen sind teuer, ihre industrielle
Vermehrung gilt als kompliziert.

Bisher existiert nur eine kommer-
zielle Zulassung für Züchtungen aus
dem Labor: Hühnchen-Nuggets in
Singapur zum Preis von 17 Dollar pro
Portion.
Die Story kaufen Investoren aller-
dings schon jetzt. Laut Zahlen der
Marktforscher des amerikanischen
Good Food Institute flossen in den
ersten neun Monaten 2021 rund
3,4 Milliarden Dollar in pflanzenba-
sierte Fleischalternativen und Reagenz-
glaslebensmittel. Die Zahl der Start-ups
die zellbasierte Produkte entwickeln,
stieg von 4 (2016) auf fast 70. Geld-
geber zu finden, scheint kaum ein
Problem: Neben dem Emirat Katar,
Weltraumpionier Richard Branson
oder Google-Mitgründer Sergey Brin
mischen auch Fleischkonzerne wie
die deutsche PHW-Gruppe (Wiesen-
hof) mit. Bis 2035 prognostizieren die
Berater von A. T. Kearney (siehe Gra-
fik), werden auf Alternativen aus
Pflanzen oder künstlich vermehrten
Tierzellen 45 Prozent des globalen
Fleischmarktes entfallen – und sogar
eine Schicht »neuer Veganer« über-
zeugen.
Noch überwiegen beim Konsum
allerdings die Vorbehalte gegenüber
Laborfleisch. Selbst in Untersuchun-
gen mit höher Gebildeten erklären
sich in Deutschland oder Italien ge-
rade einmal die Hälfte der Befragten
bereit, so etwas überhaupt zu pro-
bieren. Ein Viertel lehnt das kate-
gorisch ab. Grüne Wiesen und glück-

liche Rinder in der Werbung verliehen
den heutigen Produkten – egal wie
industriell ihre Herstellung sei –
einen »Nimbus von Natürlichkeit«,
schreibt Merck in einer Studie. Der
Pharmakonzern forscht selbst an
In-vitro-Fleisch. Um die Kundinnen
und Kunden zu überzeugen, gebe es
bei den neuen Lebensmitteln daher
einen »Wettbewerb der besten Sto-
rys«. Der Klimawandel biete hier
eine große Chance, zumal das Mar-
keting mit der unberührten Natur
jede Unschuld verloren habe.
Kunstkäse-Kreateur Korteweg hat
sich für sein Marketing eine Western-
story zurechtgelegt. Neben dem Ein-
gang zum Labor hängt ein gezeich-
netes Porträt vom Firmengründer im
John-Wayne-Look mit Cowboyhut.
Am Ende des Laborflurs weist neben
einer Saloontür ein Holzschild den
Weg zu den »magnificent seven«,
Kortewegs Molekularbiologen aus
dem Team, das inzwischen auf ins-
gesamt 20 Leute angewachsen ist.
Die Wissenschaftler bauen Kopien
von Rinder-DNA, die wiederum den
Bauplan für das Milcheiweiß Kasein
enthält, in Mikroorganismen ein.
Diese genetisch veränderten Zellen
bekommen so den Auftrag, Kaseine
zu produzieren. In Bioreaktoren wer-
den die Zellen mit einer Nährlösung
aus Wasser, Zucker, Vitaminen und
Mineralstoffen versorgt, damit sie
sich vermehren und Milchproteine
produzieren. Präzisionsfermentation
wird der Prozess genannt. Ganz neu
ist derlei nicht: Schon heute werden
viele Käsesorten mit mikrobiellem
Lab hergestellt, das für die Dicklegung
der Milch nötig ist. Das aus gentech-
nisch veränderten Mikroorganismen
erzeugte Produkt ersetzt das Enzym,
das traditionell aus Kälbermägen ge-
wonnen wird.
»Bisher hat veganer Käse ver-
sucht, die Käseproteine nachzu-
ahmen – mit einer dürftigen Mi-
schung aus Fett, Stärke und Salz«,
sagt Britta Winterberg, »erst die Ka-
seine sorgen aber dafür, dass der Käse
so schön schmilzt.« Die Mikrobiolo-
gin ist Co-Gründerin von Formo,
einem Start-up aus Berlin. Auch sie
setzt darauf, dass karotingefärbte
Scheiben aus Kartoffelstärke, Man-
delmilch und Kokosöl oder geriebene
Stückchen »Typ Mozzarella«, den
Kunden nicht reichen werden, um auf
Kuhmilchprodukte zu verzichten.
Formo- Erfinder Raffael Wohgen-
singer vergleicht sich gern mit einem
großen Vorbild. »Tesla hat eine ganze
Industrie auf den Kopf gestellt« und
den Markt erst geschaffen, sagt er,
»und genau das wollen wir mit

Kunstkäse-
Unternehmer
Korteweg,
Niko Koffeman:
Wettstreit um
die beste Story

3 , 4
Milliarden
Dollar

wurden in
den ersten
neun Monaten
2021 in
pflanzen­
basierte
Fleisch­
alternativen
und Labor­
lebensmittel
investiert.
Good Food Institute

Those Vegan Cowboys

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