Der Spiegel - ALE (2022-01-08)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 95

Mancuso machte Geschäfte. Am


  1. De zember 2019 kam es zum
    Showdown. Fahnder nahmen Man-
    cuso und europaweit Hunderte Ver-
    dächtige fest. »Rinascita Scott« nann-
    te Gratteri die Razzia, weil er eine
    Wiedergeburt, Rinascita, seiner Hei-
    mat erhofft (»Scott« ist eine Reminis-
    zenz an einen verstorbenen Ermitt-
    lerfreund).
    Die Razzia führte zum Jahrhun-
    dertprozess von Lamezia Terme, aber
    ihre Bedeutung reicht über das Straf-
    recht hinaus. Der Kampf gegen die
    Mafia sei nur in der Gesellschaft zu
    gewinnen, sagt Gratteri, wenn sich
    die Menschen im Land gegen die
    Clans engagierten. »Innerhalb von
    zwei Jahren«, hofft der Staatsanwalt,
    »können wir Kalabrien zu einem
    freien Land machen.«
    Es ist ein ehrgeiziges Versprechen.
    Je mehr Menschen man dazu spricht,
    desto verworrener wirkt das Bild.
    »Kalabrien ist nicht Italien, Kalabrien
    ist nicht Europa«, sagt ein hochran-
    giger Regierungsmitarbeiter in Rom,
    »Kalabrien ist wie Libyen, ein ›failed
    state‹.«
    Gibt es Verbindungen zwischen
    Wirtschaftsverbrechen im Manager-
    milieu und Bluttaten wie jener am Oli-
    venhain? Sind Morde so ein Betriebs-
    unfall im Milliardenbusiness? Oder
    war, ist und bleibt Gewalt die Ge-
    schäftsgrundlage der ’Ndrangheta –
    und sie selbst eine nicht auszumerzen-
    de Krankheit?


Die Tragödie der Maria Chindamo und
ihrer Kinder begann lange vor ihrem
Verschwinden. Nachdem Chindamo,
eine Landwirtin, ihre Ehe beendet
hatte, fiel ihr Mann in eine schwere
Depression. Am 8. Mai 2015 nahm er
sich das Leben.
Fast auf den Tag genau ein Jahr
später fuhr die Witwe, damals 44 Jah-
re alt, gegen sieben Uhr in der Früh
zu ihren Feldern. Auf der gegenüber-
liegenden Straßenseite überwachen

Kameras die Landstraße und die Ein-
fahrt zum Nachbarhof. Zufall oder
nicht: Ausgerechnet an diesem Mor-
gen waren sie ausgeschaltet.
Etwas später klingelte bei Vincen-
zo Chindamo, ihrem Bruder, das Tele-
fon: Ein Landarbeiter schlug Alarm,
nachdem er das leere Auto und das
Blut an der Einfahrt entdeckt hatte.
»Maria wollte nach einem leidvollen
Jahr ihr Leben wieder in die Hand
nehmen, aber ein geheimes Tribunal
hatte schon ihr Ende beschlossen«,
sagt Chindamo.
Ihr Schicksal gehört zu den zahl-
reichen rätselhaften Vorkommnissen
in Kalabrien. Viele Verbrechen wer-
den nie aufgeklärt. So entsteht ein
Klima der Verunsicherung, von dem
die ’Ndrangheta profitiert, weil sie so
ohne große Widerstände ihren Ge-
schäften nachgehen kann. Lupara
bianca werden Fälle wie der von
Chindamo genannt. Lupara ist der
Name für ein abgesägtes Jagdgewehr,
das Symbol der Mafia; bianca, weiß,
steht für das Fehlen von Spuren.
Dutzende Menschen werden ver-
misst, sie alle waren mutmaßlich
Opfer der ’Ndrangheta und wurden,
wenn man Zeugenaussagen glaubt, in
Säure aufgelöst, von Traktoren unter-
gepflügt, in mit Steinen beschwerten
Säcken lebend versenkt oder Schwei-
nen zum Fraß vorgeworfen.
Auch Vincenzo Chindamo und sei-
ne Verwandten warten seit Jahren
darauf, dass der oder die Täter über-
führt werden. Mafiaaussteiger lenk-
ten die Ermittler mit ihren Aussagen
ins ’Ndrangheta-Milieu, für eine An-
klage reichte es bisher aber nicht.
In einem Punkt allerdings ist Chin-
damo jetzt schon sicher: Frauen hät-
ten in der Welt der ’Ndrangheta nur
folgende Aufgaben, sagt er: »Sie müs-
sen die Kinder hüten, den Haushalt
betreuen, den Gemüsegarten hegen.«
Ein selbstbestimmtes Leben sei in die-
sem Milieu schlecht angesehen. Er ist
überzeugt, dass seine Schwester Op-
fer einer Vendetta wurde, weil sie
ihren Mann angeblich in den Selbst-
mord getrieben und die Ehre seiner
Familie verletzt habe. »Schmerz le-
benslänglich«, so laute das Urteil für
die Angehörigen, sagt er.
Am Ortsrand von Limbadi, weni-
ge Autominuten vom Feld der Chin-
damos entfernt, steht hinter Palmen
eine grün gestrichene Villa. Das Ge-
lände wird von einer Mauer umfasst,
im Garten sprießt Unkraut zwischen
Betonplatten hervor.
Mafiavillen ähneln sich häufig:
Von außen wirken sie wie halb ferti-
ge Rohbauten, um kein Aufsehen zu
erregen. Drinnen hingegen Luxus

»Der Boss
ist Herr
über Leben
und Tod.«

den Autor Roberto Saviano ein PR-
Desaster anrichtete, baute die ’Ndran-
gheta geschmeidig ihr Geschäftsmo-
dell aus – und überflügelte die Kon-
kurrenz von Palermo bis Neapel.
Ihre Manager suchen den Kontakt
zu Politik und Gesellschaft. Die Stra-
tegie wirkt effizient: Sie wollen den
Staat nicht attackieren, sondern infil-
trieren. »Wir müssen uns Jackett und
Krawatte anziehen«, sagte einer von
ihnen in einem abgehörten Telefonat.
Es ist ein Narrativ, das jetzt häufig
zu hören ist: die ’Ndrangheta als
Unternehmensgruppe, die in Immo-
bilien und Infrastrukturprojekte in-
vestiert, mit Geldern, deren kriminel-
le Herkunft Anwälte geschickt ver-
tuschen. Auf 50 Milliarden Euro wird
der Jahresumsatz der kalabrischen
Clans geschätzt.
Die ’Ndrangheta zu zerschlagen,
ihre Netzwerke aufzudecken, das war
lange unmöglich. Mal fehlte Unter-
stützung aus der Politik, mal erlahm-
te plötzlich der Ermittlungseifer. Sel-
ten waren Opfer zur Aussage bereit.
Kalabrien kann bis heute manch-
mal wie ein traumatisiertes Land wir-
ken: knapp zwei Millionen Einwoh-
ner in einer historisch armen Region,
regiert nicht allein vom Staat, son-
dern auch von der Organisierten Kri-
minalität, geprägt vom Schweigege-
bot, der Omertà.
Aber etwas ändert sich gerade. Seit
zwölf Monaten läuft in der kalabri-
schen Stadt Lamezia Terme Italiens
größtes Mafiaverfahren seit den le-
gendären Prozessen gegen die sizilia-
nische Cosa Nostra von 1986 bis 1992.
355 Angeklagte stehen vor Ge-
richt, 900 Zeugen sind geladen. In
ihren Akten legen die Fahnder dar,
wie Bürgermeister, Abgeordnete,
Unternehmer, Anwälte und Justiz-
angestellte die Interessen der ’Ndran-
gheta gefördert und beschützt haben
sollen. Für 70 Beschuldigte gibt es
bereits Haftstrafen von bis zu 20 Jah-
ren. Geldwäsche, Scheingeschäfte,
Zinswucher, Erpressung: Es wird
noch lange dauern, bis alle Vorwürfe
abgehandelt und die wichtigsten An-
geklagten verurteilt sind.
Zwei Männer stehen im Zentrum
der Auseinandersetzung, Luigi Man-
cuso und Nicola Gratteri. Der eine,
Mancuso, gilt als Chef des mächtigs-
ten ’Ndrangheta-Clans, als Boss der
Bosse. Der andere, Gratteri, ist Ita-
liens berühmtester Staatsanwalt, ein
Mafiajäger, der als Junge mit den Söh-
nen der ’Ndrangheta spielte und sich
heute nur unter Polizeischutz bewe-
gen kann.
Jahrelang haben sich die Gegen-
spieler belauert. Gratteri ermittelte,

Ermittler Gratteri:
»Ich liebe diesen Job«

Alberto Pizzoli / AFP

2022-02SPAllAusland456652202_Mafia-Report-094095 952022-02SPAllAusland456652202_Mafia-Report-094095 95 06.01.2022 19:58:2406.01.2022 19:58:24

Free download pdf