AUSLAND
Nr. 2 / 8.1.2022DER SPIEGEL 99
sagt: Er rief das russisch geführte, re-
gionale Militärbündnis OVKS.
Die Organisation des Vertrags
über kollektive Sicherheit hat prak-
tisch wenig Bedeutung, auch wenn
sie theoretisch so etwas wie Russ-
lands Gegenstück zur Nato ist. Das
Bündnis ist, wie die Gemeinschaft
Unabhängiger Staaten, mit dem Ende
der Sowjetunion entstanden. Anders
als die Nato hat es keine bindende
Beistandsklausel, von den neun
Gründungsmitgliedern sind nur noch
sechs übrig geblieben, das Sekretariat
ist in einem kleinen Altbau in der
Moskauer Innenstadt untergebracht.
Die OVKS führt zwar Übungen
durch, aber sie interveniert so gut wie
nie, nicht einmal bei Grenzkonflikten.
Hauptvorteil für die Mitglieder ist der
Rabatt, den sie beim Kauf russischer
Waffen erhalten.
Vergangenen Mittwoch, als in der
größten kasachischen Stadt Almaty
protestiert, geschossen und geplün-
dert wurde, bat Präsident Tokajew
trotzdem die OVKS um Hilfe. Er stellt
die Krise als Angriff von außen dar.
Es handele sich um »internationale
terroristische Banden«, die »im Aus-
land trainiert« worden seien.
Die Zusage der OVKS erfolgte
schon Stunden später: »Kollektive
Friedenstruppen« würden geschickt,
verkündete der armenische Regie-
rungschef Nikol Paschinjan – und
damit ausgerechnet ein Mann, der
selbst mit Straßenprotesten seinen
Vorgänger gestürzt hatte. Auch das
Bündnismitglied Kirgisistan wird von
einem Mann angeführt, der durch
Straßenproteste an die Macht kam.
Aber am Ende kommt es nicht
auf Armenien und Kirgisistan an und
auch nicht auf Belarus oder Tadschi-
kistan, sondern einzig auf Russland.
Die OVKS ist lediglich die multilate-
rale Verpackung für Moskaus Bei-
stand.
Wie viele Truppen Russland tat-
sächlich verlegt, ist für den kasachi-
schen Präsidenten dabei nicht ent-
scheidend – es kommt auf das Signal
an. Das Signal richtet sich an seine
eigenen Sicherheitskräfte, die derzeit
vor der Frage stehen, ob sie zu den
Demonstrierenden überlaufen sollen
oder nicht. Wenn Russland mit seinen
Truppen hinter dem Regime in der
Hauptstadt Nur-Sultan steht, dann
dürfte das potenzielle Überläufer ab-
schrecken.
Womöglich hilft der Beistand auch
im Clan-Kampf, der derzeit hinter
den Kulissen geführt wird. Tokajew
hat den Einfluss von Ex-Präsident
Nursultan Nasarbajew und dessen
Clan beschnitten, hat den Vorsitz im
Sicherheitsrat übernommen und den
Geheimdienstchef ausgetauscht.
Was aber sind Putins Interessen?
Er muss abwägen. Die Krise in Ka-
sachstan kommt für ihn einerseits
zum falschen Zeitpunkt, er bereitet
sich gerade auf eine mögliche Inter-
vention in der Ukraine vor und hat
Truppen in ihrer Nähe zusammen-
gezogen. Es ist zudem unklar, wie die
kasachische Gesellschaft auf den Ein-
satz russischer Truppen im Land re-
agieren wird. Wird er nationalistische
Strömungen befördern?
Andererseits ist Kasachstan strate-
gisch zu wichtig für Russland, um
Tokajews Bitte nicht nachzukommen.
Das Land ist fast achtmal so groß wie
Deutschland und hat reiche Öl- und
Gasvorkommen. Es beherbergt den
russischen Weltraumflughafen Baiko-
nur, teilt mit Russland die zweitlängs-
te Landgrenze der Welt und ist mit
ihm in der Eurasischen Wirtschafts-
union verbunden.
Wenn es für Putin gut läuft, dann
könnte die Krise die Chance bieten,
mit überschaubarem Einsatz einen
wichtigen Nachbarn noch fester an
Moskau zu binden, als das bisher der
Fall war. Die Proteste in den Straßen
von Almaty hätten dann ausgerechnet
dem Kreml in die Hände gespielt.
S
o überraschend die Proteste in
Kasachstan begonnen haben,
so überraschend ist, was nun
folgt: Die Führung des Landes hat
den Nachbarn Russland um militäri-
sche Unterstützung gebeten – und
Moskau ist der Bitte nachgekommen.
Drei Jahrzehnte ist es her, dass sich
die Sowjetrepublik Kasachstan von
Moskau gelöst hat. Seither hat die
kasachische Führung versucht, einen
souveränen Nationalstaat aufzubau-
en, ohne eine Abspaltung russisch
besiedelter Gebiete im Norden zu
provozieren. Sie hat sich dabei erfolg-
reich gegen Moskaus politische, mi-
litärische und kulturelle Dominanz
behauptet. Nun gibt sie einen Teil der
mühsam errungenen Souveränität
freiwillig wieder auf.
Warum tut Kasachstans Präsident
Kassym-Schomart Tokajew das? Und
was bedeutet diese Wendung für
Russlands Präsidenten Wladimir
Putin?
Kasachstan steckt in einer innen-
politischen Krise: Was als Protest
gegen gestiegene Kraftstoffpreise im
Westen des Landes begann, ist diese
Woche zum Aufstand gegen ein au-
toritäres Regime gewachsen. In Al-
maty, der größten Stadt des Landes,
wurden Verwaltungsgebäude und
Geschäfte gestürmt, Polizeiautos an-
gezündet. In seiner Not blickt Toka-
jew nach Russland.
Entgegen einer landläufigen Mei-
nung interveniert der Kreml ungern
im postsowjetischen Raum, jedenfalls
nicht offen. Zwar missfällt es Moskau,
wenn in den Nachbarstaaten autori-
täre Regime durch Straßenproteste
stürzen. Aber derlei passiert zu oft,
als dass man jedes Mal einschreiten
könnte.
In Kasachstans Nachbarland Kir-
gisistan etwa wechselte die Führung
wiederholt durch Tumulte, ohne dass
Moskau eingegriffen hätte, nicht
einmal 2010, als es zu regelrechten
Pogro men kam und der Präsident
Moskau um Hilfe rief. Genauer ge-
Am Ende
kommt es auf
Moskau an.
Hilfe mit Hintersinn
ANALYSE Russland schickt Soldaten nach Kasachstan, um das taumelnde
Regime zu stützen. Für Kremlchef Putin kommen die Unruhen im Nachbarland
zur Unzeit – und bieten doch eine Gelegenheit.
Brennendes
Rathaus in Almaty
Valery Sharifulin / ITAR-TASS / IMAGOChristian Esch n
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