102 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022
KULTUR
Z
wei Worte Schweizerdeutsch sollten Sie
können, bevor Sie die neue Schweizer
Sky-Serie »Tschugger« einschalten (beim
Rest können Sie sich auf die Synchronisation
oder die Untertitel verlassen): »Tschugger« und
»huere guet«. Das erste Wort ist umgangssprach-
lich für Polizist und das zweite eine Umschrei-
bung für die Serie selbst: saugut. In der Schweiz
war »Tschugger« der Serienhit des Jahres 2021,
ab dem 12. Mai ist die fünfteilige Krimikomödie
nun auch in Deutschland zu sehen. Bax (gespielt
von David Constantin, der auch Co-Regisseur
und Co-Autor ist) arbeitet als Polizist im derben
südschweizer Kanton Wallis. Obwohl er keine
40 Jahre alt ist, liegen seine besten Tage schon
lang zurück. Ein Coup muss her, wie vor zehn
Jahren, als er einen lokalen Cannabisbaron
verhaftete – und die Ex-Freundin soll bitte auch
zurückkommen. Neuen Ruhm könnte ein Under-
cover-Einsatz bei einem Drogenschmuggel über
die schweizerisch-italienische Grenze bringen.
Doch der Polizist schickt einen Hospitanten
mit einem Sprachfehler und einer ungenehmigten
Dienstwaffe los, die Mafia und ein Laster voller
Tomatensoße kreuzen seinen Weg, bald schon
liegen die ersten Toten im Schnee. Mit schnellen
Schnitten, dynamischer Kamera und Schnurrbart-
Lederjacken-Style kommt »Tschugger« breit-
beinig wie eine Quentin-Tarantino-Produktion
daher, zeigt dann aber die Verschmitztheit eines
Wolf-Haas-Krimis, bei dem die Lösung des Kri-
minalfalls schnell nebensächlich wird und statt-
dessen der Spaß an den grandiosen Figuren und
den irrwitzigen Wendungen zählt. Hinter dem
Drogenschmuggel stecken etwa zwei Provinzkids,
die mit dem Geld den Dreh eines Deutschrap-
Videos finanzieren wollen – so funktionieren
Fantasien vom sozialen Aufstieg heute. In der
Schweiz steht schon die zweite Staffel für den
kommenden Herbst bereit. Bis dahin können
Sie noch etwas auf Schweizerdeutsch lernen:
»Lueget das a!« (»Seht euch das an!«). HPI
Ein Coup muss her!
SERIEN Ein kleines Meisterwerk aus der Schweiz: Die Kriminalserie »Tschugger«
erzählt so breitbeinig wie verschmitzt von einem Drogendeal.
Verkorkstes
Verhältnis
SACHBÜCHER Es gibt keine
europäische Öffentlichkeit, das
lässt sich vor dem Hintergrund
des russischen Krieges gegen
die Ukraine gerade schmerzhaft
erfahren, wo zwar viel von den
europäischen Werten die Rede
ist – aber gleichzeitig unklar
bleibt, was damit eigentlich
gemeint ist. »Verstellter Blick«
von Thomas Urban, 67, der
viele Jahre für die »Süddeut-
sche Zeitung« aus Warschau,
Moskau und Kiew berichtet hat,
ist ein Buch über die deutsche
Ostpolitik der vergangenen
Jahrzehnte. Urban erzählt zwar
auch von den Fallstricken der
Energiepolitik, aber vor allem
von der Bewältigung der ge-
meinsamen Vergangenheit, den
unterschiedlichen Auffassungen
davon, was politisch »links«
und was »rechts« ist. Er fächert
die Pleiten, Pech und Pannen
etwa des deutsch-polnischen
Verhältnisses auf. In den Acht-
zigern setzten die Sozialdemo-
kraten auf enge Kontakte zu
den kommunistischen Regierun-
gen und hielten die Bewegung
Solidarność für eine Gefahr für
die europäische Stabilität. Nach
dem Ende des Kalten Krieges
hatten die Politiker von SPD
wie Union ein seltenes Talent,
sich die falschen Ansprechpart-
ner in Polen zu suchen – und
die Polen die Gabe, sich immer
wieder aufs Neue wegen Banali-
täten existenziell bedroht zu
fühlen. Es ist eine so verkorkste
Ansammlung von Missver-
ständnissen, dass man Urbans
Buch auf beiden Seiten der
Grenze möglichst viele Leserin-
nen und Leser wünscht, weil
hier nur noch ein großes gemein-
sames Lachen
weiterhilft. Das
könnte eine
neue Öffentlich-
keit ergeben. RAP
Thomas Urban:
»Verstellter Blick«.
Edition Fototapeta;
192 Seiten; 15 Euro.
Szene aus »Tschugger«
Dominic Steinmann / SFR