Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


32 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


Baerbock: Ich verstehe, dass man in einem
Land, dem so lange vergönnt war, in Frieden
zu leben, Sorgen hat. Mir geht es nicht anders.
In vielen Familien fragen derzeit die Kinder
ihre Eltern: Gibt es Krieg bei uns? Was ist eine
Atombombe? Und natürlich muss man immer
auch über Worst-Case-Szenarien sprechen.
Aber als Regierung dürfen wir nicht aus Stim-
mungen heraus entscheiden, sondern aus der
Verantwortung für die Zukunft unseres Lan-
des. Zu dieser Verantwortung gehört, dass
wir der Ukraine beistehen, die auch unsere
europäische Sicherheit verteidigt – wenn-
gleich auch mir manche Entscheidung nicht
leichtfällt. Und ich halte es für eine Stärke
unserer Gesellschaft, dass es jetzt keine Jubel-
stürme über immer neue Panzerlieferungen
gibt. Denn klar ist: Diese Waffen töten.
SPIEGEL: 45 Prozent der Deutschen lehnen
die Lieferung schwerer Waffen ab. Wie neh-
men Sie ihnen die Angst?
Baerbock: Vor unserer Haustür führt eine
Atommacht einen brutalen Angriffskrieg.
Wem das keine Angst macht, der ist entweder
unehrlich oder hat die Lage nicht verstanden,
in der Europa seit dem 24. Februar ist. Ich
bin überzeugt, dass die allermeisten genau
sehen, welche Abwägungen wir zu treffen
haben. Das Ziel unserer Politik ist Deeskala-
tion. Wir wollen ein Übergreifen des Krieges
auf andere Länder verhindern. Daher müssen
wir Putin deutlich machen, dass wir unser
Bündnisgebiet mit allem, was wir haben, ver-
teidigen. Und die Ukraine unterstützen wir
mit Waffenlieferungen, damit Putins Truppen
zurückgedrängt werden und nicht ungehin-
dert weitere massive Kriegsverbrechen ver-
üben können.
SPIEGEL: Waffenlieferungen wirken deeska-
lierend?
Baerbock: Ich würde mir mit allem, was ich
habe, wünschen, wir müssten keine Waffen
liefern. Aber wenn wir nicht helfen, den rus-
sischen Vormarsch zu stoppen – mit Waffen,
denn auf Worte hört Putin derzeit nicht –,
tragen wir eine Mitverantwortung dafür, dass
weitere Orte in der Ukraine in ein Mariupol
oder Butscha verwandelt werden.
SPIEGEL: Was sagen Sie den rund 200 000
Menschen, die den Aufruf von Alice Schwar-
zer unterschrieben haben?
Baerbock: Ich nutze jede Gelegenheit, um ins
Gespräch zu kommen. Ich mache da aus mei-
nem Herzen keine Mördergrube: Es gibt Mo-
mente, da hadere auch ich damit, ob wir zu
viel oder zu wenig machen. Ich erlebe fast
keinen Menschen in unserem Land, der sagt,
mit hundertprozentiger Sicherheit bin ich für
oder gegen jegliche Art von Waffenlieferun-
gen. Zugleich stelle ich dann immer die
Gegenfrage: Hieltet ihr es für verantwor-
tungsvoll, wenn wir einfach zusehen, wie un-
schuldige Menschen jeden Tag ermordet wer-
den? Ich fände das unverantwortlich, politisch
aber auch menschlich.


SPIEGEL: Hat es Sie frustriert, dass der Kanz-
ler öffentlich so wenig kommuniziert hat?
Baerbock: Wir kommunizieren ja als gesamte
Bundesregierung, jeder in seiner Verantwor-
tung und Rolle. Da gibt es nicht die Kommu-
nikation des Kanzlers, der Außenministerin
oder des Wirtschaftsministers. Wir erklären
beharrlich gemeinsam, welche Schritte wir
im Einzelnen gehen.
SPIEGEL: Was ist aus Ihrer Sicht eigentlich das
Kriegsziel?
Baerbock: Dass die Menschen in der Ukraine
wieder in Frieden leben können. Und dafür
tun wir alles, auf unterschiedlichen Ebenen:
humanitär, finanziell und auch mit wirtschaft-
lichen Sanktionen.
SPIEGEL: Russland wird die Territorien, die
es erobert hat, wahrscheinlich nicht räumen.
Wird sich Kiew auf einen Kompromiss ein-
stellen müssen?
Baerbock: Über die Zukunft der Ukraine kann
nur die Ukraine selbst entscheiden. Wir kön-
nen sie aber dabei unterstützen, dass sie über-
haupt eine Chance hat, frei zu entscheiden.
SPIEGEL: Nach der Ausladung von Bundes-
präsident Frank-Walter Steinmeier wollten
weder der Kanzler noch Sie in die Ukraine
reisen. Was hat jetzt den Ausschlag gegeben,
dass Sie sich in Kürze auf den Weg nach
Kiew machen?
Baerbock: Diese Reisen sind ja kein Selbst-
zweck. Es geht darum, wie wir die Ukraine
am besten unterstützen können. Unmittelbar
nach dem furchtbaren Verbrechen in Butscha
hatte ich mit meinem ukrainischen Kollegen
besprochen zu reisen, um insbesondere auch
die Arbeit des Internationalen Strafgerichts-
hofs zu unterstützen. Die Ausladung des Bun-
despräsidenten hat dann auch meine Reise-
pläne beeinträchtigt. Es ist gut, dass das jetzt
aus der Welt geschafft ist.
SPIEGEL: 141 Staaten der Uno haben Anfang
März den russischen Angriff verurteilt. Wie

groß ist Ihre Sorge, dass diese Front angesichts
steigender Preise für Nahrungsmittel und
Energie bröckelt?
Baerbock: Die Auswirkungen dieses Krieges
treffen unterschiedliche Länder unterschied-
lich hart. Staaten wie Somalia, Ägypten und
Libanon sind fast vollständig von Weizen und
Mais aus Russland und der Ukraine abhängig.
Jetzt blockiert Russland die ukrainischen
Häfen, in denen das dringend benötigte Ge-
treide lagert, Felder können wegen des Krie-
ges nicht bestellt werden. Damit hat Präsi-
dent Putin viele Länder in eine akute Not-
lage gebracht.
SPIEGEL: Haben Sie die Sorge, dass Putins
Erzählung in den ärmsten Ländern greift, wo-
nach die westlichen Sanktionen gegen Russ-
land an ihrer Lage schuld sind?
Baerbock: Ja, denn Russland verfolgt seit Län-
gerem eine hybride Strategie. Und Teil der
Kriegspropaganda ist die Erzählung, die
Sanktionen seien gar nicht gegen das russische
Regime gerichtet, sondern gegen andere
Länder. Deswegen bin ich kürzlich nach Mali
und Niger gereist, um deutlich zu machen:
Wir lassen euch nicht im Stich, sondern tun
alles, damit aus dem russischen Krieg nicht
eine weltweite Ernährungskrise wird und
noch weitere Millionen Menschen deshalb
hungern müssen.
SPIEGEL: Deutschland hält ja gerade die Prä-
sidentschaft der G7, der größten Industrie-
nationen. Wollen Sie hier konkret etwas
unternehmen?
Baerbock: Das werden wir, denn als Industrie-
nationen stehen wir in vorderster Verantwor-
tung. Ein Schwerpunkt unseres G7-Vorsitzes
ist, eine Allianz gegen diese Ernährungskrise
zu schmieden. Auch als Einladung an die
Golfstaaten und andere Länder in dieser
Welt, von denen einige erklären, sie hätten
mit diesem Krieg gar nichts zu tun. Den
Kampf gegen den weltweiten Hunger können
wir ähnlich wie die Bewältigung der Klima-
krise nur gemeinsam angehen. Mir ist wich-
tig, dass unser Land dabei Verantwortung
übernimmt.
SPIEGEL: Jüngst wurde bekannt gegeben, dass
Ihr Mann Partner bei der Kommunikations-
beratung MSL wird. Die Organisation Lob-
bycontrol bezeichnete den Wechsel als
pro blematisch. MSL sei mitunter für auslän-
dische Regierungen tätig und könne bei der
Kundenakquise mit dem Mann der deutschen
Außenministerin werben. Finden Sie das kein
Problem?
Baerbock: Mein Mann ist während meines
Wahlkampfs komplett zu Hause geblieben,
um sich um unsere beiden Kinder zu küm-
mern. Jetzt steigt er in Teilzeit wieder in sei-
nen Beruf ein.
SPIEGEL: Aber er ist als Lobbyist sehr nah am
politischen Betrieb und damit an der Bundes-
regierung, und damit auch an Ihnen.
Baerbock: Daher haben wir genau darauf ge-
achtet, dass es keine Interessenkonflikte gibt.
SPIEGEL: Frau Baerbock, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch. n


  • Christoph Schult, Severin Weiland, Melanie Amann
    im Auswärtigen Amt in Berlin.


»In vielen Familien
fragen derzeit die Kinder
ihre Eltern: Gibt es
Krieg bei uns? Was ist
eine Atombombe?«

Baerbock, SPIEGEL-Team*

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL
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