Der Spiegel - ALE (2022-05-07)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


36 DER SPIEGELNr. 19 / 7.5.2022


E


s ist wie auf dem Schulhof: Wer nicht
auf die Mütze bekommen will, holt die
großen Geschwister dazu. Und so ist auf
den SPD-Plakaten in Münster, Dortmund und
Bonn ein Mann zu sehen, der gar nicht zur
Wahl steht: Olaf Scholz. Er lächelt und blickt
in die Ferne. Ein paar Zentimeter hinter ihm
steht Thomas Kutschaty und schaut in die-
selbe Richtung. Beide tragen einen blauen
Anzug, blaue Krawatte. Großer Bruder, klei-
ner Bruder, so könnte man das Motiv deuten.
Unter dem Foto steht: »Gemeinsam für NRW
und Deutschland.«
Kutschaty tritt an ein Pult in Düsseldorf,
hinter ihm liegt der Landtag, er ist hier, um
das neue Plakat zu präsentieren. Es sei gut
für die Wählerinnen und Wähler, sagt er, »dass
ein zukünftiger Ministerpräsident einen en-
gen Draht zur Bundesregierung« habe.
Ich und Olaf, Olaf und ich. Das ist die Mes-
sage, auch wenn der Kanzler wegen seiner
Ukrainepolitik in der Kritik steht. Scholz tue
das Nötige zur richtigen Zeit, sei »eine wun-
derbare Person, mit der ich mich gerne habe
fotografieren lassen«, das sagt Kutschaty. Es
klingt fast, als hätte Scholz um das gemein-
same Plakatmotiv gebeten, doch es war natür-
lich Kutschatys Idee.


Noch im Herbst sah es nach einem Macht-
wechsel auch in Nordrhein-Westfalen aus. Bei
der Bundestagswahl holte die SPD in NRW
29 Prozent, die CDU, die in Düsseldorf mit
der FDP regiert, kam auf 26. Scholz hatte
seine Partei wachgeküsst, und es schien, als
könnte Kutschaty im Windschatten des neuen
Kanzlers in die Staatskanzlei einziehen.
Inzwischen liegen die SPD und die CDU
von Ministerpräsident Hendrik Wüst in den
Umfragen nahezu gleichauf, die Entscheidung
fällt am 15. Mai. Kein Land ist für die Bundes-
regierung so wichtig wie Nordrhein-Westfalen,
die kleine Bundesrepublik, wie es die Politiker
dort gern nennen. Wer in NRW regiert, kann
das Kanzleramt wahlweise stützen oder ärgern.
Kutschaty, 53, ein Rechtsanwalt aus Essen,
war zwischen 2010 und 2017 Justizminister
in NRW. Nachdem Hannelore Kraft die
Staatskanzlei für Armin Laschet räumen
musste, versank die SPD in einer Existenz-
krise. Kutschaty wurde zum Trümmermann,
er übernahm den Fraktionsvorsitz im Landtag
und ließ sich später zum Chef der Landes-
partei wählen. Damals lag die SPD in Um-
fragen bei unter 20 Prozent.
Heute sagt Kutschaty: »Die Leute wech-
seln nicht mehr die Straßenseite, wenn sie

einen SPD-Wahlkampfstand sehen.« Es hört
sich an, als könnte er es selbst nicht ganz glau-
ben. Und er weiß, dass das eher nicht an ihm
liegt, sondern am Kanzler.
Als Scholz 2019 SPD-Vorsitzender werden
wollte, sprach sich Kutschaty noch gegen ihn
aus. Inzwischen ist neben dem großen Scholz
von der Spree ein kleiner Scholz vom Rhein
entstanden. Kutschaty imitiert den SPD-Bun-
destagswahlkampf, lehnt sich bei Inhalten
und im Auftreten an den Kanzler an. Wenn
sie miteinander telefonieren, gibt Scholz den
Berater. So hört man es aus der SPD. Lass
dich nicht verrückt machen, sage er, auch
nicht von Putin oder Schröder, mach’s wie ich
letztes Jahr, bleib ruhig und konzentriere dich
auf wenige Themen.
Klonen als Wahlkampfstrategie, funktio-
niert das?
Unna, östliches Ruhrgebiet, an einem
April abend steht Kutschaty auf dem Markt-
platz auf einer Bühne und schnappt sich ein
Mikrofon. »Wir sind da, wir sind fit«, sagt er.
Von den 400 000 neuen Wohnungen, die der
Kanzler pro Jahr versprochen habe, würden
allein 100 000 in NRW gebaut. Das habe er
mit »dem Olaf« besprochen. Es sind ein paar
Impfgegner gekommen, sie rufen »Hetzer,

Ein Scholz vom Rhein


NORDRHEIN-WESTFALEN Der Sozialdemokrat Thomas Kutschaty möchte Ministerpräsident werden.


Er setzt ganz auf den Kanzler, doch in dessen Windschatten ist es ungemütlich geworden.


SPD-Parteivorsitzender Lars Klingbeil, NRW-Spitzenkandidat Kutschaty in Düsseldorf: Ich und Olaf, Olaf und ich, das ist die Message


Xander Heinl / photothek / IMAGO
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