POLITIK
Fotos:
Alfred Hennig/dpa, Patrick Slesiona für FOCUS-Magazin
handelt. Ohne die damals geschlossenen
Abkommen von Minsk wäre der heutige
Krieg mit hoher Wahrscheinlichkeit schon
damals ausgebrochen.
Gibt es trotzdem in puncto Russland
so etwas wie eine Lebenslüge der SPD,
die noch aufgearbeitet werden muss?
Es gab eine sehr erfolgreiche Ostpolitik
der SPD unter Willy Brandt und Helmut
Schmidt, die von Helmut Kohl fortgesetzt
wurde und mit der die Voraussetzun-
gen für die deutsche Einheit geschaf-
fen wurden. Für Willy Brandt und Egon
Bahr stand dabei immer fest, dass mit
der damaligen Sowjetunion nur aus einer
Position der Stärke und mit der Veran-
kerung in der Nato verhandelt werden
konnte. Sonst hätte der damalige Füh-
rer der Sowjetunion, Leonid Breschnew,
Deutschland gar nicht ernst genommen.
Diese erste Phase der Entspannungspoli-
tik war ein großer Erfolg.
Und die zweite Phase ...
... ließ sich zu sehr von der Idee leiten,
Stabilität sei die zentrale Voraussetzung
für die Sicherheit in Europa. Das ging
so weit, dass Menschen- und Bürger-
rechtsbewegungen wie Solidarnosc in
Polen als Gefahr für eben diese Stabili-
tät angesehen und von Teilen der SPD
auch ignoriert wurden. Und weit über
die SPD hinaus gab es in Deutschland
die Überzeugung, wir Deutschen hät-
ten die richtige Formel für den Umgang
mit autoritären Regimen wie in Russ-
land gefunden: Durch immer engere wirt-
schaftliche Beziehungen werde – so die
Überzeugung auch in CDU/CSU und FDP
- auch politische Annäherung erwachsen.
Aus dem ursprünglichen Motto
„Wandel durch Annäherung“ wurde
„Wandel durch Handel“.
Dass da jemand wie Putin kommen
würde, dessen Währung gerade nicht
wirtschaftlicher Erfolg ist, sondern pure
Macht, kam in unserer Weltsicht nicht vor.
Die Einwände der Osteuropäer haben wir
zwar gehört, aber nicht ernst genommen.
Denn wir dachten ja nach den Erfolgen
der Ostpolitik, dem Fall der Mauer und
dem Zusammenbruch der Sowjetunion,
wir wüssten es besser.
Wir Deutschen dachten: Hauptsache,
unsere Wirtschaft floriert?
Es ist bestimmt nicht wahr, dass Deutsch-
land sich nur für den wirtschaftlichen
Erfolg interessiert hat und den Bundes-
regierungen der letzten 50 Jahre der Rest
egal war. Aber die ganze Globalisierung
wurde ja von der Idee getragen, dass eine
immer stärkere wirtschaftliche Verflech-
tung die Welt auch friedlicher machen
würde. Heute merken wir, dass das nicht
der Fall ist, sondern Staaten sogar bereit
sind, erhebliche wirtschaftliche Nachteile
in Kauf zu nehmen, wenn sie sich dadurch
einen Machtzuwachs in der Welt erhoffen.
Sie selbst haben jüngst „Fehlein-
schätzungen“ zugegeben, unter anderem,
dass Sie die Warnungen Osteuropas
vor Putin zu lange ignoriert haben.
Es gibt etwas, was vor allem bei uns
in Deutschland zu einer falsch verstan-
denen Nachsichtigkeit mit Russland bei-
getragen hat.
Nämlich?
Bei unserer Verantwortung für Milli-
onen von russischen Toten im Zweiten
Weltkrieg haben wir bisweilen verges-
sen, dass das auch für die Kriegstoten
in Belarus, in den baltischen Staaten, in
Polen oder der Ukraine gilt. Insbesondere
die Ukraine, aber auch die Polen wurden
zweimal Opfer: der Nazis und von Stalin.
Ich war in den letzten Wochen erstaunt,
wie viele Briefe ich bekommen habe, die
an das Leid der Russen unter den Nazis
erinnerten. Und dass all die anderen Län-
der darin nie vorkamen.
Wir Deutschen spielen uns aber gern mal als
Oberlehrer der Weltgemeinschaft auf, oder?
Wir vergessen bisweilen, dass wir selbst
ja auch nicht über Nacht zu Musterdemo-
kraten wurden. In Wahrheit sind wir vor-
her knietief durch das Blut unserer Opfer
gewatet. Für Überheblichkeit anderen
gegenüber gibt es keinen Grund. Das
gilt vor allem dann nicht, wenn man auf
die Hilfe und Unterstützung anderer an-
gewiesen ist. Natürlich entspricht die
gesellschaftliche Ordnung Chinas nicht
unseren Vorstellungen. Aber wir brau-
chen China. Wie wollen wir weltweit das
Klima schützen oder Pandemien verhin-
dern ohne China? Und aktuell ist China
eines der wenigen Länder, die noch Ein-
fluss auf Russland nehmen könnten.
War es schlau von Olaf Scholz,
seinen ersten Besuch in Asien
jüngst nicht Peking abzustatten,
sondern Tokio?
Aktuell dürfte es praktisch wegen der
Pandemie unmöglich sein, nach China zu
reisen. Aber die Bundesregierung wird
sicher ein großes Interesse an den Bezie-
hungen zu China haben.
Wird die Volksrepublik sonst
womöglich unser nächstes ökono-
misches und politisches Problem?