Flugrevue April 2017

(Barré) #1
dass am Ende ein Sitz herauskommt, der
Chancen auf dem Markt hat.
Dabei ist der Entwurf für einen Busi-
ness-Class-Sitz aufwendiger als für einen
Economy-Class-Stuhl. „Das fängt schon
mit der Anzahl der behördlichen Regula-
rien an, die zu erfüllen sind. Bei unserem
Business-Class-Sitz CL6710 für die
Langstrecke sind wir bei fast 100 000
Einzelanforderungen“, erklärt René
Dankwerth, Ressortleiter Forschung und
Entwicklung. Dabei geht es in erster Li-
nie um Sicherheit: Beispielsweise dürfen
Materialien im Brandfall keine giftigen
Dämpfe entwickeln oder in Flammen
aufgehen. Die Hersteller müssen auch
durch Tests nachweisen, dass die Sitz-
struktur Kräfte von 16 g nach vorne und
14 g nach unten aushält. „Diese Anfor-
derungen decken mehr als das ab, was
im seltenen Fall einer harten Landung
auftritt“, so Dankwerth. Zudem sind
Business-Class-Sitze, gerade für die
Langstrecke, komplexe mechatronische
Produkte mit eigener Stromversorgung
sowie einer Vielzahl von Aktuatoren und
Mechanik zur Steuerung. „Und wenn Sie
sich die Umhausung anschauen, ist das
schon fast Möbelbau“, sagt Joachim Ley,
Ressortleiter Supply Chain.
Doch auch in die Economy Class flie-
ßen immer wieder Innovationen ein. Für
den Langstreckensitz CL3710 wurden
18 Erfindungen zum Patent angemeldet,

Aircraft Interiors Expo Crystal Cabin Award


Auf der internationalen Kabinenmesse Aircraft
Interiors Expo vom 4. bis 6. April in Hamburg
ist Recaro als einer von mehr als 500 Ausstellern
vertreten. Der Sitzhersteller zeigt dort unter
anderem den zum intelligenten Business-Class-
Sitz weiterentwickelten CL6710 sowie speziell
beschichtete Oberflächen für mehr Hygiene und
Sauberkeit im Flugzeug.
Im Rahmen der Messe wird zum elften Mal der
Crystal Cabin Award verliehen, der Innovationen
rund um die Flugzeugkabine auszeichnet.
Der vom Luftfahrtcluster Hamburg Aviation
initiierte Preis wird in acht Kategorien vergeben.
Insgesamt 85 Flugzeughersteller, Airlines,
Zulieferer, Ingenieurbüros und Universitäten
haben ihre Ideen im Vorfeld eingereicht. Eine
davon ist die „Smart Cabin Reconfiguration“

von Airbus (siehe Foto). Der europäische Flug-
zeugbauer und Recaro haben dafür ein System
flexibler Sitzschienen entwickelt. So kann das
Kabinenpersonal bei nicht ausgebuchten Flügen

den Sitzabstand anpassen. Die letzten Sitzreihen
können hochgeklappt und die verbleibenden
Reihen nach hinten verschoben werden.
So haben die Passagiere mehr Beinfreiheit.

beispielsweise die Kopfstütze. Sie ist
sechsfach höhenverstellbar, an den Sei-
ten nach vorne klappbar und kann auch
horizontal gekippt werden, um den Na-
cken zu unterstützen. In der Economy
Class reagiert Recaro auch auf die zu-
nehmende Digitalisierung: mit Tablet-
Halterungen und Lademöglichkeiten.

VIELFLIEGER ALS TESTPERSONEN
Während der Entwicklung stehen Sitz-
hersteller nicht nur im Austausch mit
Airlines, Flugzeugbauern und Zulas-
sungsbehörden. Auch diejenigen, die
später darauf Platz nehmen, werden ein-
bezogen: Prototypen werden Fluggesell-
schaften und deren Passagieren zur Ver-
fügung gestellt. Mit Vielfliegern führt
Recaro selbst Tests durch, zum Beispiel
Schlafstudien. Nicht zuletzt sind auch
die eigenen Führungskräfte Versuchs-
kaninchen. „Im neuen Business-Class-
Sitz [CL6710; d. Red.] haben wir im
Prototypenstatus alle schon erfolgreich
gut geschlafen“, so Dankwerth.
Neben dem Komfort spielt das Ge-
wicht eine Rolle, denn jedes Kilogramm
macht sich im Treibstoffverbrauch be-
merkbar. Der Economy-Kurzstreckensitz
BL3710, den Recaro im vergangenen
Jahr auf der Aircraft Interiors Expo in
Hamburg vorgestellt hat, wiegt nur etwa
9,5 Kilogramm und zählt zu den Leicht-
gewichten dieser Klasse. Die Sitzstruk-

tur ist aus einer Aluminiumlegierung,
die Rückenlehne aus Faserverbundwerk-
stoffen, die Sitzschale aus Styropor. An-
stelle eines Kissens soll die Kombination
aus einer dünnen Schaumstoffauflage
mit Netzbespannung für ein angenehmes
Sitzgefühl sorgen. Schon vor dem ersten
Prototypenbau arbeiten die Ingenieure
mit Computersimulationen, um Lastver-
läufe zu identifizieren und dadurch das
jeweils am besten geeignete Material
auszuwählen.
Endmontiert werden die Recaro-Sit-
ze im Zweischichtbetrieb an den Stand-
orten Schwäbisch Hall, Swiebodzin (Po-
len), Fort Worth (USA) und Qingdao
(China), wobei die meisten Einzelteile
von Zulieferern stammen. Weil je nach
Airline andere Bezüge, Bordunterhal-
tungssysteme oder unterschiedlich hohe
Armstützen verwendet werden, ist we-

Immer mehr Passagiere reisen mit
Smartphone und Tablet. Diesen Trend
greift Recaro mit einer Halterung auf.

70 FLUG REVUE A pr i l 2017 http://www.flugrevue.de

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