Handelsblatt - 01.11.2019

(Brent) #1
Gemein-
schaftswerk:
Das über fünf
Meter lange
Bild haben
Frauen vom
Apy Land
gemalt.

ProLitteris, Wawiriya Burton, Vincent Girier-Dufournier


Olga Grimm-Weissert Lens


E


inzigartig in Europa sind Ort
und Sammlungsschwerpunkt.
Die Schweizer Fondation Opale
zeigt in Lens im Feriengebiet
von Crans–Montana eine ge-
zielte Auswahl ihrer Stammeskunst-Samm-
lung unter dem Titel: „Before Time Be-
gan“. Die Französin Bérengère Primat, 46,
gründete die Fondation Opale samt dem
privaten Ausstellungshaus im letzten Jahr,
um ihre Sammlung australischer „Aborigi-
nal Art“ der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen.
Abseits von den Kunsthandelszentren
und ihrem Kommerz liegt die Bahnstation
Sierre, wo der Dichter Rainer Maria Rilke
einst seine letzten Jahre verbrachte, und in
1 000 Meter Höhe liegt Lens. Hier ließ Pri-
mat ein diskretes Gebäude aus Glas für die
prachtvolle Kunst aus dem fernen Austra-
lien errichten. Bérengère Primat selbst
wohnt unweit in Crans-Montana mit Blick
auf das beeindruckende Alpenpanorama.
Primat, ihre Mutter und ihre sieben Ge-
schwister sind nach dem Tod des Vaters
Teilerben von Marcel Schlumberger, der in
Rohöl und Immobilien investierte. Die Fa-
milie Primat lässt ein Privatvermögen von
geschätzt 2,3 Milliarden Euro verwalten.
Die Ausstellung „Vor der Zeitrechnung“
gibt einen Überblick über die Entwicklung
der Kunst der Ureinwohner seit den
1970er-Jahren. In diesem Jahr beginnt ihre
Kommerzialisierung.
Die Malerei basiert auf den seit 40 000
Jahren mündlich überlieferten Symbolen
der indigenen Bevölkerung Australiens.
Von den englischen Kolonialherren ihrer
Länder beraubt, erkrankten die in Reserva-
ten lebenden Menschen massenweise in

mat wiederholt nach Australien, wo die
beiden separat in den Malerkooperativen
Kunstwerke ankauften.
Zunächst verkaufte man die Aborigines-
Gemälde, um die Krankenhauskosten für
die Dialyse der damals sozial ausgegrenz-
ten Aborigines zu begleichen. Das be-
schreibt die Kuratorin der Art Gallery of
New South Wales in Sydney, Hetti Perkins,
in ihrem Buch „Art + Soul“. Der Kunstver-
kauf ermöglichte sukzessive eine gewisse
Integration. Außerdem wurden einige Ma-
ler seither zu posthum anerkannten Stars,
wie Emily Kame Kngwarreye (1910–1996),
die Australien 1997 bei der Kunstbiennale
in Venedig vertrat.
Der als „Regenmacher“ bekannte Johnny
Warangkula Tjuppurrula (1925–2001) malte
Traumbilder des Wassers, die typisch für
die Perfektion der australischen Kunst
sind. Wesentliche Beiträge leistete auch
John Mawurndjul (geboren 1952), dem das
Musée Tinguely in Basel 2005 eine Retro-
spektive widmete. Er zählte zu den acht
australischen Malern, die im Pariser Musée
du Quai Branly 2005/06 die Deckengemäl-
de gestalteten.
Ein anderer Teil der Sammlung der fröh-
lichen, blonden Bérengère Primat wird
demnächst im Menil Museum in Houston
gezeigt. Außerdem klinkt sich die Galerie
Gagosian in dieses Kunstsegment ein und
lenkt damit die internationale Aufmerk-
samkeit von Kunstsammlern erneut auf
dieses Sammelgebiet. Im Frühjahr 2019
stellte die Gagosian Gallery unter anderem
in New York Aboriginal Art aus der Samm-
lung von Steve Martin und seiner Frau
Anne Stringfield aus, dazu Arbeiten aus der
Kluge-Ruhe-Sammlung der Universität Vir-
ginia.
Und in definitiver Anerkennung dieses
Marktsegments kündigt Sotheby’s New York
für die prestigeprächtige November-Session
erstmals eine Aboriginal-Art-Auktion im
„Headquarter“ in New York an. Bisher ver-
steigerte Sotheby’s dieses Sammelgebiet in
Melbourne und London. Mit diesen Prämis-
sen erhält die australische Kunstform ihr
kommerzielles Adelsprädikat.

„Before Time Began“ in der Fondation
Opale, Lens-Crans-Montana, Schweiz,
bis 29. März 2020
„Mapa Wiya / Ihre Landkarte wird
nicht benötigt. Aboriginal Art aus der
Fondation Opale“ in der Mesnil
Collection, Houston, Texas, USA, bis


  1. Februar 2020


Australische Stammeskunst


Spuren lesen in den


Schweizer Alpen


Die Schlumberger-Erbin Bérengère Primat widmet Australiens
Ureinwohner ein Kunstmuseum vor prachtvoller Bergkulisse. Und
plötzlich interessiert sich auch der Markt für die Aboriginal Art.

Mick Kubarkku (1925–2008)
„Der Vorfahr Krokodil“:
Gemalt mit natürlichem Ocker
auf Baumrinde.

ProLitteris, Zurich, Vincent Girier-Dufournier


den 1950er-Jahren wegen der britischen
Atomversuche.
Anfang der 1970er-Jahre ermutigte ein
Lehrer die in den Wüstengebieten leben-
den Aborigines, ihre bisher in den Sand
skizzierten Zeichnungen mit Acrylfarben
auf Leinwand zu übertragen. Im bewalde-
ten australischen Norden benutzte man da-
gegen Baumrinde als Unterlage für Tier-
und Pflanzendarstellungen. Die Fondation
Opale bietet einige Beispiele dieser figurati-
ven, in Beige-Braun-Tönen gehaltenen Ma-
lerei auf Baumrinde. „Die Darstellungen
sind wie Röntgenaufnahmen, sie stellen die
Form und die Innenansicht dar“, erklärt
der profunde Kenner und Kurator der Opa-
le-Schau, Georges Petitjean, Technik und
Doppelperspektive.
Im Zentrum Australiens entstand eine
für europäische Begriffe völlig abstrakte
Malerei. Denn die lange Zeit als Nomaden
lebenden Aborigines machten untereinan-
der Wege zu Wasserstellen und Lagerplät-
zen, aber auch Tierspuren und Ritualstel-
len mit codierten Symbolen bekannt.
Unter den 85 Werken der Ausstellung be-
finden sich zwei bunte XXL-Formate, die
mehrere Frauen speziell für die Präsentati-
on in Lens malten. Überdies installierte ei-
ne Gruppe Männer eine Art „Wirbelwind“
aus 1 500 Speeren, die eine hängende
Skulptur ergeben. Die gezeigten Werke
stammen zum Großteil aus der Sammlung
von Bérengère Primat. Ankäufe ihres frühe-
ren Ehemanns Arnaud Serval ergänzen sie.
Letzterer ist Sammler, Galerist und ein gu-
ter Kenner der australischen Szene. 2011
ließ er einen Teil seiner Sammlung in Paris
versteigern. Das Ergebnis war bescheiden.
Serval reiste gemeinsam mit Bérengère Pri-

Kunstmarkt


(^56) WOCHENENDE 1./2./3. NOVEMBER 2019, NR. 211

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