Süddeutsche Zeitung - 18.11.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von frauke meyer-gosau

S


irte heißt eigentlich Gerlinde, auch ih-
re ältere Schwester Karla hat sich um-
getauft, sie heißt jetzt Zeralda. Auf Be-
sonderheit haben es beide Mädchen abge-
sehen, allerdings auf unterschiedliche Wei-
se. Karla-Zeralda malt und fährt ihrer
Schwester gern mit harschen Worten über
den Mund. Sirte-Gerlinde liest und
schreibt, und immer wieder verschwindet
sie, zum Schrecken ihrer Mutter, für etli-
che Zeit aus dem Elternhaus. Ihr Vater Lud-
wig Zürn aber, der mit Immobilien zu tun
hat und insgeheim dichtet, arbeitet an der

unüberbietbaren Heraushebung Sirtes
nicht nur aus der Familie, sondern aus der
Masse aller gewöhnlichen Menschen: Er
betreibt ihre Heiligsprechung. Dabei soll
ihm der in der Einliegerwohnung des
Zürn’schen Hauses einquartierte Anton
Schweiger, Lehrer für Deutsch und Erd-
kunde, behilflich sein. Er soll die Angele-
genheit bei den entsprechenden kirchli-
chen Gremien vorbringen und befördern,
und er ist für dieses Unterfangen auch ge-
nau der Richtige, denn Anton ist Sirte, der
Schönheit ihrer dunklen Augen wie ihres
Halses wegen, rettungslos verfallen.
Was Martin Walser hier nach Tagebuch-
aufzeichnungen aus dem Jahr 1961 auf nur
gut 90 Seiten zusammenbringt und der
Gattung „Legende“ zuordnet, kommt dem

altgedienten Walser-Leser in vieler Hin-
sicht bekannt vor: „Mädchenleben oder
Die Heiligsprechung“ ist ein weiteres Buch
aus dem Zürn-Komplex. 1979 stand im Ro-
man „Seelenarbeit“ zunächst der Chauf-
feur Xaver Zürn im Zentrum, danach, von
seinem ersten Erscheinen in „Das Schwa-
nenhaus“ (1980) über „Die Jagd“ (1988) bis
hin zum Roman „Der Augenblick der Lie-
be“ (2004) spielte der wenig erfolgreiche
Immobilienmakler Dr. Gottlieb Zürn die
Hauptrolle. Eine Ehefrau, zwei Töchter
und ein Lehrer als Untermieter waren je-
weils mit von der Partie.
Jetzt allerdings werden die Vorkomm-
nisse entschieden aufs Übersinnliche hin
zugespitzt: Wo Seltsames ist, soll Heilig-
keit werden. Und da Anton Schweiger, glü-
hend vor Verehrung für Sirte, als Ich-Erzäh-
ler fungiert, deuten alle Beobachtungen
und Ereignisse scheinbar unwiderleglich
auf deren göttliche Inspiration hin. Auch
das Mädchen selbst arbeitet schließlich ak-
tiv am Heiligsprechungsprojekt mit, und
das ist auch gut so, denn für dessen Erfolg
muss sie ja Wunder wirken. Dass sie dem
Raben Chlodrian das Sprechen beibringt,
ist schon mal ein guter Anfang. Noch viel
besser aber, dass er eines Nachmittags im
Familienkreis den Choral „Großer Gott,
wir loben dich“ zu Gehör bringen kann.
Obwohl Lehrer Schweiger der Meinung
ist, das eigentliche Wunder sei Sirte selbst,
weitere Beweise für ihre Heiligkeit brau-
che es eigentlich nicht, kommt es ihm für
seine Beweisführung vor der Kirchenkom-
mission sehr gelegen, dass ihr im nächsten
Schritt sogar eine Kombination aus Marty-
rium und Wunder gelingt: Von einer Frau,

deren Mann trunksüchtig ist und sie jeden
Tag schlägt, wird Sirte dem Schläger zuge-
führt. Nun lässt sie sich monatelang durch-
prügeln – so lange, bis dem Trunkenbold
mit Namen Ludwig Proll die Lust am Trin-
ken und Schlagen schwindet und er das
Mädchen in einem Brief beschwört: „Hö-
ren Sie auf, sich täglich prügeln zu lassen.
Dann höre ich sofort auf zu trinken.“
Nur zu gern würde Sirte zwar mit ihrem
Martyrium fortfahren, doch gibt sie nach,
und Proll beendet tatsächlich seine Trinke-
rei. Anton Schweiger: „Ich versuchte, ihr
vorsichtig zu erklären, dass sie etwas be-
wirkt habe, was man ein Wunder nennen
dürfe. Sie schüttelte den Kopf. Sie will kein
Wunder, sie will einen Sinn für ihr Dasein.“
Dennoch teilt Schweiger dem „Postulator“
der Kirchenkommission das Geschehene
mit und folgert: „Da an dem Wunder kein
Zweifel möglich ist, dürfen wir hoffen.“

Noch andere seltsame, auch hässliche
Dinge begeben sich in diesem Buch, etwa
wenn sich Vater Zürn Kuhfladen ins Ge-
sicht schmiert, seine Frau plötzlich schlägt
oder sie „des öfteren“ vergewaltigt. Kurz-
zeitig lustig wird es dagegen, wenn Ärzte
Sirtes Zustände diagnostizieren und einer
von „einer seriösen Charakterstörung“
spricht, „die man zu den schizophrenen
Psychosen rechnen darf“, der Zahnarzt
zum Schluss kommt, alles liege an einem
falsch behandelten Schneidezahn, und ein

„Facharzt“ schließlich befindet: „Keine
Heiligsprechung. Es handelt sich lediglich
um eine Anorexia mentalis et nervosa.“
Was das Mädchen ganz gewiss befallen
hat, weiß wiederum der Leser: eine Apho-
rismen-Lust und -Sucht, die sich früher in
Walsers „Meßmer“-Bänden niederschlu-
gen, aber auch mehr und mehr in den er-
zählenden Büchern. Hier nun füllen Sinn-
sprüche in Gestalt von Sirtes Tagebuch-
notaten Seite um Seite: „Nach jedem Zug
an der Zigarette kann ich wieder schwören:
Nie wieder rauchen“ oder „Wir, Gott und
ich, sind alles, was es gibt. Der Himmel ist
die Wiese, auf der wir weiden. Gott und ich
sind die Welt“, und immer so weiter.
Bevor eine Entscheidung in der Frage
der Heiligsprechung gefallen ist, endet das
Buch. Und eigentlich bleibt danach nur ei-
ne Frage offen: Weshalb weder der „Postu-
lator“ noch die zuständige Kommission
den Antragstellern mitgeteilt haben, dass
vor der Anerkennung von Wundern und
Martyrien zu allererst eine Grundvoraus-
setzung gegeben sein muss – die prospekti-
ve Heilige müsste schon eine Weile tot
sein. Da dies der sinnsuchenden Sirte aber
offenkundig fernliegt, fehlt Walsers Legen-
de das lehrreiche, das Wirken Gottes be-
kräftigende, die Gläubigen erhebende En-
de. „Ich bin ein Fleck, der trocknet“, lautet
des Mädchens letzter Eintrag. „Ich werde
gewesen sein.“ Nicht anders als all wir Un-
heiligen auch.

Martin Walser:Mädchenleben oder Die Heiligspre-
chung. Legende. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
94 Seiten,20 Euro.

Im Prinzip ist es legaler Diebstahl, was der Brite Lee
Shulman mitseinem „Anonymous Project“ betreibt. Er
entreißt Erinnerungen ihrem Kontext und erklärt sie
zu Illustrationen eines Zeitgeists. Namenlose Trench-
coatmänner. Kinder am Kieselstrand. Zwei Frauen, die
ein Wohnzimmer vollqualmen, ausgelassen ein Privat-
vergnügen feiernd. In dem Bildband „Midcentury Me-
mories“ sind Erinnerungen ohne Erinnernde gesam-
melt. Shulman hat sie massenweise auf Flohmärkten
und im Internet gekauft. Die eigensinnigsten hat er zu

einem Mosaik zusammengefügt, das eine – meist weiße,
angelsächsische – Mittelschicht zu einer Zeit zeigt, da Dia-
filme erschwinglich wurden und das Väterlich-Offiziöse
abschüttelten. Die Fotos leben von privaten und nationa-
len Grenzüberschreitungen. Sie sind unkommentiert, las-
sen sich in den meisten Fällen aber den USA und Großbri-
tannien zuordnen. Man entdeckt kleine zivilisatorische

Eigentümlichkeiten. Palmen unter Telefonleitungen deu-
ten Südkalifornien oder Florida an, stramm gekleidete In-
ternatsjungen legen das England der Generation Chur-
chill nahe. So ergibt sich eine visuelle Anthologie des Un-
scheinbaren – demokratische Geschichtsschreibung aus
vergessenen Farbfilmen. cornelius dieckmann

Lee Shulman:Midcentury Memories. The Anonymous Project. Ta-
schen Verlag, Köln 2019. 280 Seiten, 40 Euro.

DiesesBuch ist ein Armutszeugnis, nichts
anderes. Ein Mann im 94. Lebensjahr
muss den verantwortlichen Politikern er-
klären, was sie tun müssten, um eines der
drängendsten sozialen und strukturellen
Probleme des Landes anzugehen. Damit
die Menschen in Deutschland einen ange-
messenen Platz zum Wohnen finden. Hans-
Jochen Vogel hat sich vor Jahrzehnten aus
der Tagespolitik zurückgezogen, lebt in ei-
nem Münchner Seniorenheim und hat
noch einmal ein Buch geschrieben. „Mehr
Gerechtigkeit!“ lautet der Titel. Was nichts
anderes heißt, als dass es an Gerechtigkeit
mangelt. Zu viele Menschen wissen nicht
mehr, wo sie eine bezahlbare Wohnung fin-
den sollen, gerade in den Boom-Ballungs-
räumen, weil ein paar wenige Mitbürger,
genannt Spekulanten, mit freundlicher Un-
terstützung des Staates den großen Rei-
bach machen. Das liege, so lautet Vogels
Analyse, an der Bodenpolitik.
Es ist das Ausrufezeichen im Titel, das
darauf hindeutet, wie sehr den ehemaligen
SPD-Chef und Bundesminister das Thema
umtreibt. Das Zeugnis, das er den Regie-
rungen der letzten Jahrzehnte ausstellt,
könnte man so zusammenfassen: Bemüht
haben sie sich, aber das ist lange her und
blieb ohne Erfolg. Locker und leicht liest
sich dieses Zeugnis nicht. Das Buch ist et-
was für Freunde verwaltungsjuristischer
Termini und Prozesse. Allein, Vogels Analy-
se ist unmissverständlich und seine Forde-
rung fast schon revolutionär: Der Boden be-
darf einer neuen Ordnung.
So wenig die Bodenfrage in der aktuellen
politischen Debatte präsent ist, so sehr ist
es für Vogel ein altes Thema: Ähnliches hat
er schon vor einem halben Jahrhundert ge-
sagt und gefordert, weshalb er heute als Vi-
sionär gilt. Zu Beginn der 70er, da war Vogel
noch Oberbürgermeister in München, hat
er den Kampf gegen steigende Wohnkos-
ten und Spekulation auf die politische Agen-
da gehoben. Es war die Zeit der Olympi-
schen Spiele, als München der Sprung in
die Moderne gelang. Wenig später, als
Vogel dem Kabinett von Willy Brandt als
Minister für Raumordnung, Bauwesen und
Städtebau angehörte und später für Justiz,
machte er aus seinen Ideen eine Gesetzes-
initiative, parallel diskutierte die SPD dar-
über. Nach langer Debatte beschloss der
Bundestag eine Novelle zum Baugesetz, die
aufgrund der Intervention zunächst des
SPD-Partners FDP und dann im Bundesrat
der Union so verwässert wurde, dass sie die
Misere kaum linderte. Anschließend verlo-
ren auch die SPD und Vogel, von 1987 bis
1991 Parteichef, die Lust am Thema, was er
knapp, aber selbstkritisch einräumt.


So dauerte es bis vor ein paar Jahren,
ehe sich abermals in München, Deutsch-
lands teuerster Stadt, eine Gruppe woh-
nungspolitischer Akteure fand, um sich
grundlegende Gedanken zu machen. Dazu
gehört Christian Stupka, einer der klügs-
ten Vordenker in der Genossenschaftssze-
ne, der viel Energie in eine Bodenreform
steckt. Er und seine Mitstreiter aus der
eher alternativen Bauszene kramten alte
Aufsätze und Gesetzesentwürfe aus den Ar-
chiven, kontaktierten deren Urheber Vogel
und gewannen ihn als Mitstreiter in seiner
alten Sache. So ist der heute körperlich ge-
brechliche, aber ansonsten topfitte SPD-
Grandseigneur zum Motor einer neuen In-
itiative geworden, die auch vom Ausland
lernen will, von Wien zum Beispiel oder
von Basel. Die Schweiz ist schon weiter,
wie sich in dem aktuellen Sammelband
„Boden behalten – Stadt gestalten“ (Rüffer
& Rub Verlag) nachlesen lässt, er beschäf-
tigt sich vor allem mit der Basler „Boden-
initiative“. Auch der von Florian Hertweck
herausgegebene Band „Architektur auf ge-
meinsamem Boden. Positionen und Model-
le zur Bodenfrage“ (Lars Müller Publis-
hers) schaut über die Grenzen. Ein Thema
bricht sich Bahn, aber ganz langsam.
Vogel blickt zunächst zurück und stellt
fest, dass man so manche Politikerrede
von einst heute vorlesen kann, um den Sta-
tus quo 2019 darzustellen: „Die Mieten stei-
gen. (...) Die Eigentumsbildung wird zum
Spekulationsobjekt. (...) Ungeschminkt
ausgedrückt: eine verschwindend kleine
Minderheit wurde durch diese Entwick-
lung maßlos reich. Wir Normalbürger fi-
nanzieren diese Millionengewinne durch
Steuern und durch Verzicht auf dringende
Einrichtungen der Daseinsvorsorge.“ Bo-
den werde „gehandelt wie Ware in einem
Krämerladen“. Es sei „höchste Zeit, das
Eigentum an Grund und Boden im Sinne
des Grundgesetzes einer echten Sozial-


bindung näherzuführen. Um Wucher und
Bodenspekulation zu bekämpfen, muss
dem Boden seine privilegierte Funktion
als Anlagegut mit risikoloser Gewinnchan-
ce endlich genommen werden.“
Das hat 1970 im Münchner Stadtrat Wer-
ner Veigel vorgetragen, er war Vogels zu-
ständiger Rathausminister. Der Stadtrat
fasste einen Beschluss, aus dem der Kern
eines Bundesgesetzes werden sollte (aber
nicht wurde). Schon damals gab man zu
Protokoll, wie ungerecht es sei, dass ein pri-
vater Grundeigentümer zwar entschädigt
werden muss, wenn kommunale Planung
den Wert seines Bodens mindert. Dass der-
selbe Eigentümer aber allen Gewinn behal-
ten darf, wenn eben diese Planung den
Wert seines Grunds steigert. „Leistungs-
loser Bodengewinn“ lautet einer der
Schlüsselbegriffe in Vogels Analyse: Da
werden ein paar wenige Grundeigentümer
reich, weil die Kommune Infrastruktur
schafft, Straßen oder U-Bahnen. So steigt
der Wert der umliegenden Flächen, was di-
rekt auf die Mieten durchschlägt.
So ungerecht ging es vor 50 Jahren zu;
so ungerecht geht es noch heute zu. Vogel
hat in den Archiven die passenden Zahlen
rausgesucht: In München macht der Anteil
für den Boden heute fast 80 Prozent der
Neubaukosten einer Wohnung aus. Bun-
desweit sind die Baulandpreise seit 1962
um 2308 Prozent gestiegen; in München
seit 1950 gar um 39390 Prozent. „Es er-
staunt mich“, schreibt Vogel, dass diese
Zahlen „so gut wie keine öffentlichen Pro-
testbewegungen und bisher auch keinen
Medienaufruhr verursacht haben.“ Und
das, obwohl Artikel 14 Grundgesetz be-
kanntlich postuliert: „Eigentum verpflich-
tet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle
der Allgemeinheit dienen.“
Was tun? Die Bundesregierung versucht
es seit Jahren mit einer Mietenbremse, die
aber kaum bremst. In Berlin fordert eine In-
itiative die Enteignung großer Immobilien-
besitzer, und der Senat hat den Mieten-
deckel beschlossen. Selbst wenn diese Vor-
stöße vor den Gerichten bestehen, das
Grundübel werden sie nicht beseitigen.
Vogels Modell basiert auf seiner „Grund-
einsicht“: „Grund und Boden ist keine be-
liebige Ware, sondern eine Grundvoraus-
setzung menschlicher Existenz. Boden ist
unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf
daher nicht dem unübersehbaren Spiel der
Marktkräfte und dem Belieben des Einzel-
nen überlassen werden.“ Er will Grund und
Boden wegen seines besonderen Charak-
ters, vergleichbar mit Luft und Wasser,
„den sozialen Regeln des Allgemeinwohls“
unterstellen. Dabei weiß er das Bundesver-
fassungsgericht auf seiner Seite, das sich
bereits 1967 „für die Interessen der Allge-
meinheit beim Boden“ starkgemacht und
dies später mehrfach wiederholt hat.
Die Kernelemente des Vogel’schen Ge-
rechtigkeitsplans lassen sich so skizzieren:
Die Gemeinden sollten sich bemühen,
Grund und Boden zuzukaufen; auf keinen
Fall sollen sie Boden jemals mehr verkau-
fen dürfen. Wenn sie ihn jemandem über-
lassen, dann nur im Erbbaurecht, sodass
er irgendwann an die Kommune zurück-
fällt. Der Bund sollte Flächen, die er nicht
mehr braucht, verbilligt oder kostenlos an
die Gemeinden geben. Die Spekulations-
frist von zehn Jahren müsse fallen: Hat ein
Privatier vor zehn Jahren eine Immobilie
gekauft und verkauft sie jetzt mit Millio-
nengewinn, zahlt er darauf keine Steuer.
Schließlich will Vogel die „leistungslosen
Gewinne“ der Grundeigentümer abschöp-
fen lassen, zugunsten der Gemeinden, die
so günstigen Wohnraum schaffen sollen.
„Planungswertausgleich“, nennt er das.
Was noch fehlt? Dass die heute politisch
Verantwortlichen dem weisen Senior zuhö-
ren und seine Ideen ernst nehmen. Daran
aber muss man Zweifel haben: Die aktuelle
große Koalition hat zwar eine Baulandkom-
mission eingerichtet, und Vogel hat sie mit
seinen Vorschlägen gefüttert. Entscheiden-
des aber hat sie nicht übernommen, zum
Beispiel den „Planungswertausgleich“. Da-
bei könnten die Koalitionäre bei ihren je-
weiligen Lichtgestalten nachlesen. „Es
gibt keinen Zweifel“, hat Willy Brandt 1974
zum Bodenrecht geschrieben, „dass hier ei-
ne der fundamentalen Reformen zur Er-
leichterung und Humanisierung unseres
Zusammenlebens lange überständig ist.“
Und Konrad Adenauer hat vor fast 100 Jah-
ren gesagt, da war er OB von Köln: „Die bo-
denreformerischen Fragen sind nach mei-
ner Überzeugung Fragen der höchsten Sitt-
lichkeit. Es nützt Ihnen alles nichts (...),
wenn Sie nicht das Übel an der Wurzel fas-
sen.“ bernd kastner

Hans-Jochen Vogel: Mehr Gerechtigkeit! Herder
Verlag, Freiburg 2019. 80 Seiten, 8 Euro.

Acht Seiten vor dem Ende lässt der Autor
heraus,womit man sich bis dahin herum-
geschlagen hat: „Vor längerer Zeit habe ich
entdeckt, dass unsere Geschichte nicht in
der Form eines Romans erzählbar ist, ich
hatte meine literarischen Kräfte über-
schätzt.“ Das notiert natürlich eine der Fi-
guren der Geschichte, aber das Fazit bleibt.
Offenbar sind es zu viele lose Enden, die
Boualem Sansal hier versammelt hat, um
ein Netz daraus knüpfen oder gar ein Bild
entstehen lassen zu können: Notizen,
Romananfänge und Romanschlüsse, Refle-
xionen über Thoreaus „Walden“ und Kaf-
kas „Verwandlung,“ diverse Analogien bil-
dende Beobachtungen. So stellt er die Mi-
gration afrikanischer und arabischer Men-
schen nach Europa neben die Auswande-
rung von Europäern nach Amerika und ver-
gleicht die Gesellschaften, die sie aufneh-
men sollen. Auf die Idee könnte ihn ein Be-
such des Deutschen Auswandererhauses
in Bremerhaven gebracht haben, das von
einer seiner Figuren ausführlich beschrie-
ben wird.
Vier Stimmen wirken mit an diesem als
Romanprojekt präsentierten Text: Ute von
Ebert in Erlingen, Erbin eines seit Generati-

onen bestehenden, global agierenden Fa-
milienunternehmens, das einer der deut-
schen Auswanderer in Amerika gegründet
hat, und ihre Tochter Hannah, die in Eng-
land lebt. Ute reflektiert in Notizen, die für
ihre Tochter gedacht sind, ausführlich
über die drohende Gefahr eines unmittel-
bar bevorstehenden Angriffs obskurer

Feinde, über einen Zug, der die Bewohner
evakuieren soll, und über die geschwätzige
Feigheit der Politiker ihres Dorfs. Offenbar
ist sie schon etwas älter, denn sie wieder-
holt sich auffällig und schwelgt, auch wenn
„die letzte Bewährungsprobe der Mensch-
heit“ auf dem Spiel steht, etwas zu viel in
Worthülsen.
Mit konkreter Gefahr haben die beiden
anderen Stimmen zu tun, Elisabeth Potier,
Lehrerin in der Pariser Banlieue mit ho-
hem Anteil arabischer Zuwanderer, und ih-
re Tochter Lea. Nach dem Attentat im Pari-
ser Bataclan geht die Lehrerin zu einer

Demo gegen islamistische Gewalt und
wird an einem Vorortbahnhof von einem
früheren Schüler halb tot geschlagen, weil
er sich für muslimisch und sie für eine Fein-
din hält. Aus dem Koma erwacht, hält sie
sich für Ute von Ebert, aber niemand ver-
steht, wieso.
Boualem Sansal hat 2011 den Friedens-
preis des Deutschen Buchhandels mit der
etwas gönnerhaften Begründung erhalten,
dass der Börsenverein damit „ein Zeichen
setzen“ wolle für die Demokratiebewe-
gung in Nordafrika. Er gehöre „zu den we-
nigen in Algerien verbliebenen Intellektu-
ellen, die offen Kritik an den politischen
und sozialen Verhältnissen üben“.
Tatsächlich tritt Sansal gegen jede Art
von doktrinärer Verblendung, Terror und
politischer Willkür ein. In seinen Büchern
hat er unter anderem die Problematik des
gewalttätigen Islamismus und seines Ter-
rors in Geschichten verpackt, die das Phä-
nomen anhand individueller Romanfigu-
ren und ihrer inneren Nöte plastisch er-
scheinen lassen.
Mit seinem schriftstellerischen Engage-
ment hat er sich Feinde gemacht, sodass
sein Mut gar nicht genug geehrt werden

kann, und mit diesem neuen Text zeigt er
ein weiteres Mal geistige Unabhängigkeit,
auch wenn das Buch selbst nicht so sehr ge-
lungen ist.
Es hätte ein ausführlicher engagierter
Artikel werden können, ein Aufruf, dass
man schon in Erfahrung bringen müsse,
wen man als Feind hat, wenn man nicht un-
tergehen wolle, ein Essay, der mit der Fra-
ge enden könnte: Wenn sich bei Franz Kaf-
ka ein Mensch in etwas Hässliches verwan-
deln kann, kann so etwas nicht auch mit ei-
nem Gott passieren? Kafka allerdings lässt
offen, wer die Verwandlung bewirkt hat,
Sansal zeigt ganz klar auf herrschsüchtige
Islamisten. rudolf von bitter

Vergessene Farbfilme


Die Wiese, auf der wir weiden


Alle Heiligen sind seltsam, aber sind alle Seltsamen auch Heilige?


Martin Walser erfindet in seinem neuen Buch die Legende eines sinnspruchsüchtigen Mädchens


Alle Ereignisse in diesem Buch
werden entschieden aufs
Übersinnliche hin zugespitzt

Leider fehlt diesem Antrag
auf Heiligsprechung die
entscheidende Voraussetzung

Preissteigerung um


39 390 Prozent


Hans-Jochen Vogels Streitschrift zur Bodenfrage


Invasoren und Käfer


Boualem Sansals Versuch, ein schleichendes Gift zu benennen, das die Gesellschaft auseinanderbringt


Sansal tritt gegen jede Art von
doktrinärer Verblendung und
politischer Willkür ein

Boualem Sansal:
Der Zug nach Erlingen oder
Die Verwandlung Gottes.
Aus dem Französischen von
Vincent von Wroblewsky.
Merlin Verlag,
Gifkendorf 2019.
255 Seiten, 24 Euro.

Man kann Politikerreden aus


den Siebzigerjahren vorlesen, um


den Status quo 2019 darzustellen


12 HF2 (^) LITERATUR Montag, 18. November 2019, Nr. 266 DEFGH
Häuser der Bayerischen Hausbau am Nockherberg in München werten das Viertel
auf,und die Bodenpreise steigen weiter. SIMULATION: BAYERISCHE HAUSBAU

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