von jörg häntzschel
A
m Morgen des Eröffnungstages
sagte Achille Mbembe einen
Satz, den kein Weißer im Publi-
kum mehr vergessen wird. Gera-
de hatte man noch draußen in
der Sonne von Dakar gestanden, auf der
Terrasse des Musée des civilisations noi-
res, des neuen Museums für afrikanische
Kultur, unter den chinesischen Flaggen
(weil China das Museum gebaut hat). Man
hatte Kaffee in Gläsern und tiefroten Hibis-
kussaft getrunken. Die afrikanischen Intel-
lektuellen, die Künstler, Wissenschaftler,
Schriftsteller, freuten sich, alte Bekannte
wiederzutreffen, und alle anderen bewun-
derten die afrikanischen Intellektuellen,
weil die so viel besser angezogen waren als
die grauen Europäer. Man erzählte sich
von Ausstellungen, Projekten und neuen
Büchern und wie der Flug war, und darf ich
dir Mati vorstellen, Mati Diop, die junge Re-
gisseurin, die für „Atlantique“ den Großen
Preis der Jury in Cannes bekommen hat?
Und du musst Ibou kennenlernen, er ist
seit zwei Wochen für Postkolonialismus
am Humboldt-Forum zuständig.
Und dann, wieder drin, in der kühlen chi-
nesischen Luft, auf den Plastiksesseln zwi-
schen den Plastikwänden, sagte Achille
Mbembe: „Es gibt keinen Ort auf der Welt,
an dem wir willkommen sind, nicht einmal
in Afrika.“ Das sagt Mbembe, der vielleicht
berühmteste Denker Afrikas? Und er
spricht auch für die anderen Leute hier?
Für Souleymane Bachir Diagne, den Philo-
sophen von der Columbia University? Für
Christiane Toubira, die frühere französi-
sche Justizministerin, eine unscheinbare
Dame, die aber, wenn man ihr ein Mikro
gibt, den Saal zum Gefrieren oder zum Ko-
chen bringen kann, und deren gepanzerter
Wagen nach den langen Konferenztagen
mit Blaulicht und Sirene die Altstadtstra-
ßen für den Ateliers-Bus freipflügte? Für
Lilian Thuram, den ehemaligen französi-
schen Fußballnationalspieler? Oder für Lo-
ri-Anne Théroux-Bénoni, die supersmarte
Konfliktforscherin aus Washington? Nicht
willkommen?
„Ja, nicht willkommen“, bekräftigte
Mbembe. Ganz egal, ob jemand, wie er, bei
Suhrkamp verlegt wird und ständig von Po-
dium zu Podium fliegt, oder zu den knapp
50 Prozent gehört, die in Senegal nicht le-
sen und schreiben können. Ob jemand wie
der Ökonom, Schriftsteller und Musiker
Felwine Sarr („Afrotopia“) von Präsident
Macron damit beauftragt wird, die Mög-
lichkeiten von Restitutionen aus französi-
schen Museen zu erforschen, oder ob er
den halben Tag wartend neben seinem To-
yota-Wrack hockt, um einen dieser Intel-
lektuellen für ein paar Centimes zur nächs-
ten Performance zu bringen. Sie sind nicht
willkommen. Mbembe hat recht.
Um das endlich nicht mehr nur wissen
zu müssen, sondern auch aussprechen zu
können, dafür unter anderem haben
Mbembe und Sarr die „Ateliers de la pen-
sée“ gegründet, die „Denkwerkstatt“, ein
überbordendes, elektrisierendes, viertägi-
ges Treffen afrikanischer Intellektueller,
wie es zuvor keines gab. Ein Treffen, an
dem Afrika endlich mit sich selbst spre-
chen kann. Und das in Dakar, das schon öf-
ter Schauplatz von afrikanischem Auf-
bruch war, das voll ist mit kühner, wenn
auch bemooster postkolonialer Architek-
tur, seinen idealen Ort hat.
Sprechen aus einer Position der Stärke
und des Selbstbewusstseins im doppelten
Sinn des Worts. „Wir wollen Akteure unse-
rer Geschichte sein, uns selbst heilen, uns
unserer Bestimmung stellen, in Würde
und ohne Sentimentalität“, so Sarr.
Man tat das in Dakar auf unterschied-
lichste Weise und in unterschiedlicher
Lautstärke. Es waren Finanzexperten da,
die die Bindung der beiden afrikanischen
Franc-Währungen an den Euro beklagten,
ein fatales Relikt der Kolonialzeit: „Wir
trauen unserem eigenen Geld nicht.“ Wirt-
schaftsexperten führten aus, wie EU und
USA mit ihren irrwitzigen Subventionen
einheimische Bauern aus dem Markt drän-
gen. Und Théroux-Bénoni räumte mit ei-
nem Mythos auf: Die meisten, die sich den
Islamisten in der Sahelzone angeschlossen
haben, hätten mit der Religion wenig am
Hut. Sie sind nur dabei, weil die Dschihadis-
ten-Bewegungen immer mehr Funktio-
nen des Staats übernehmen und wichtige
Arbeitgeber sind. Am effektivsten bekämp-
fe man sie, indem man den Staat stärke.
Doch die meisten waren hier, um für ein
neues kulturelles Selbstbewusstsein Afri-
kas einzutreten. Mbembe gab dafür die Lo-
sung „réenchanter l’Afrique“ aus, das man
behelfsmäßig mit „Afrika neu bezaubernd
machen“ übersetzen könnte. Taubira griff
die alte, ewig vergebliche Forderung nach
Reparationen auf und rief, mit der doppel-
ten Bedeutung des Worts im Französi-
schen spielend: Statt auf andere zu hoffen,
müssen wir uns selbst reparieren.
Beide meinten eine Rückbesinnung auf
die eigenen Stärken, eine Suche nach Prak-
tiken, Werten, kulturellen Objekten, die un-
ter Kolonialismus und Kapitalismus ver-
schüttet oder geraubt wurden. Wie der
größte Teil von Afrikas materiellem Kultur-
erbe, der nun in westlichen Museen liegt,
statt zum Beispiel hier, im Musée des civili-
sations noires, wo man sich mit Kopien
behelfen muss. Bénédicte Savoy, die mit
Felwine Sarr den Restitutionsbericht für
Macron geschrieben hat, berichtete, dass
diese Art von kultureller Auslöschung
nicht erst heute als skandalös empfunden
werde. Sie verwies auf den griechischen Ge-
schichtsschreiber Polybios, auf Cicero und
Goethe, die alle vom Schrecken, vom
„Gleichgewichtsverlust“ erzählen, die der
Verlust des kulturellen Erbes über unter-
schiedlichste Völker gebracht habe.
Das immaterielle kulturelle Erbe im-
merhin konnten selbst die grausamsten
Kolonialherren nicht stehlen. Es wartet
nur darauf, erinnert und aktualisiert zu
werden. Nicht nur Musik oder Literatur,
sondern auch, wie Sénamé Koffi erklärte,
die anthropomorphen Formen traditionel-
ler Architektur oder die Prinzipien, nach
denen früher Dörfer angelegt wurden, um
Schutz nach außen und Stabilität im In-
nern zu sichern. Und der zunehmenden
Beschränkung von Bewegung und freier
Information stellte Mehdi Alioua das alte
Prinzip der Gastfreundschaft aus den Oa-
sen entgegen, als Modell, die Schrecken
der Migration zu lindern.
Achille Mbembe ging das nicht weit ge-
nug. Natürlich sei Europa zu verurteilen
für die Abertausenden Afrikaner, die es im
Mittelmeer ertrinken lasse. Aber afrikani-
sche Staaten wie Libyen machten sich mit-
schuldig, wenn sie am neuen „Regime der
Mobilität“ mitwirkten und gegen ein biss-
chen Geld für die Lager, Checkpoints und
Infrastruktur zuließen, dass Europa seine
Grenzbefestigung ins afrikanische Hinter-
land verschiebe. Südafrika behandele afri-
kanische Migranten oft schlimmer als eu-
ropäische Länder. Er sprach bitter von
schwarzer „négrophobie“.
Er schlug deshalb ein vereintes Afrika
ohne Grenzen vor, einen „riesigen Raum
der Zirkulation“, nicht zuletzt natürlich, da-
mit Afrikas Jugend nicht länger gezwun-
gen wird, ihr Leben oder ihre Würde auf
der Flucht zu verlieren.
Es waren diese leichtfüßigen Schritte
von politischer Analyse zu strahlender Uto-
pie und zurück, quer über die Disziplinen
und kulturellen Kontexte, die die vier Tage
in Dakar so inspirierend machten. Die kon-
ventionellen Ansätze sind gescheitert,
jetzt muss neu gedacht werden. Dabei hat
niemand in Dakar die emphatisch be-
schworene Neuentdeckung und Revitali-
sierung von Afrika als Rückzug von der
Welt verstanden, im Gegenteil: Afrika
macht sich hier bereit, die Verantwortung
für die Welt und für die Menschheit zu
übernehmen, deren Überleben von hier
aus gesehen mehr als fraglich erscheint. Es
ist ja auch sonst niemand zu entdecken,
der das tun könnte: nicht die zerstrittenen
und arroganten ehemaligen Kolonialnatio-
nen, noch Trumps USA, und auch nicht das
mit der Totalüberwachung seiner Bürger
beschäftigte China.
Wie naiv, wie weltfremd, werden man-
che an dieser Stelle einwenden. Sie werden
sich rührige Leute vorstellen, die ihre Tän-
ze im roten Staub aufführen, aber die Rele-
vanz dieser Folklore eben doch überschät-
zen. Tatsächlich war es umgekehrt: Die
Provinzler waren die westlichen Besucher.
Fast jeder der 40, 50 Leute, die während
der vier Tage von morgens bis spät in die
Nacht auf den Podien saßen, besitzt mehr
Welterfahrung als diese. Sie sind nicht nur
vertraut mit Krieg, Hunger und Verfol-
gung, sie sprechen afrikanische und westli-
che Sprachen, bewegen sich durch christli-
che und islamische Kulturen, haben in
Frankreich studiert, leben jetzt in Washing-
ton, New York oder Berlin oder sind von
dort wieder nach Dakar zurückgekehrt. Sie
sind privilegiert, sie sind nicht „authen-
tisch“. Doch von Authentizität träumt man
nur noch im Westen. Sie sprechen mit der
Autorität der Erfahrung. Und sie wollen
nicht weiß sein.
Das heißt natürlich nicht, dass sie sich
auch alle einig sind. Viele der Älteren mal-
ten düstere Großgemälde des Nieder-
gangs. Momentelang konnte man meinen,
sie fühlten sich bestätigt, dass der Dauerpa-
tient Afrika nun Gesellschaft bekommt
von den verrückt gewordenen USA und
den Populismusopfern in Europa und Süd-
amerika. Doch mit flammenden Anklagen
gegen den Neoliberalismus konnten die
meisten Jüngeren wenig anfangen. Und ist
nicht immerhin die Lebenserwartung in
den meisten Ländern stark gestiegen?
Dieselben älteren Sprecher führten
auch vor, wie schwer selbst sie dem Koloni-
aldenken entkamen. Am letzten Abend, im
idyllischen Garten des Institut Français,
schimpfte Edwy Plenel, der auf Marti-
nique aufgewachsene frühere Chefredak-
teur vonLe Monde,so lange über die Zu-
stände in Frankreich, bis Sarr ihm das
Wort abschnitt: „Wir haben dich nicht ein-
geladen, um über dein kleines Frankreich
zu reden. Uns geht es um die Welt!“
Doch um die Welt zu retten, müssen die
Intellektuellen ihre Welt der Konferenzen
hinter sich lassen, vom Denken zum Han-
deln kommen. Auch Sarr ist das bewusst.
Doch Parteien zu gründen oder sich mit
dem Megafon auf die Straße zu stellen, sei
nicht ihre Rolle, meinte er. Er versucht es
auf andere Weise. Mit seinem bewegenden
Ein-Mann-Stück etwa, das am dritten
Abend im Altstadtviertel Médina zu sehen
war. Ohnehin seien alle diese Themen we-
niger akademisch als man oft denke. Nach-
dem er und Savoy den Bericht bei Macron
abgegeben hatten, wurden sie vom franzö-
sischen Auslandssender interviewt – vor
50 Millionen afrikanischen Zuschauern.
Auch andere Kanäle stehen den Den-
kern von Dakar jetzt offen: Am letzten Tag
lud der senegalesische Staatspräsident ei-
ne Ateliers-Delegation in seinen Palast.
Sarr und Mbembe forderten von ihm unter
anderem die Gründung einer Nationalbi-
bliothek. Er solle auch viel mehr geraubte
Objekte von Europa zurückverlangen. Der
Präsident habe versprochen, sich darum
zu kümmern.
DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 HF2 17
FEUILLETON
Zu Besuch bei dem furchtlosen
portugiesischen Architekten
Eduardo Souto de Moura Seite 19
Umarme die Zeit
Felwine Sarr, einer der
beiden Gründer der
„Ateliers“.FOTO: AFP
Christiane Taubira,
frühere französische
Justizministerin.FOTO: AFP
Wir wollen Akteure
unserer Geschichte sein,
uns selbst heilen,
uns unserer
Bestimmung stellen,
in Würde und
ohne Sentimentalität.“
Felwine Sarr
Utopia des Südens
„Afrika bezaubernd machen“: In Dakar verkünden afrikanische Intellektuelle
einen neuen Aufbruch ihres Kontinents. In der Kultur, der Gesellschaft und der Politik
Das koloniale Denken zu
überwinden, fällt auch den
Kolonialismus-Kritikern schwer
ABBILDUNG: FONDATION LILIAN THURAM
Afrika ein Riese,
Europa seine
Fußnote, eine Welt,
die auf dem Kopf
steht? Afrikas Größe
ist auf der
Gall-Peters-Karte
jedenfalls korrekt
dargestellt.
Vorbesichtigungen
Türkenstraße 1 04 , 8 0799 München
Fasanenstraße 25, 10719 Berlin
grisebach.com
Ausgewählte Werke
München, 12. bis 14. November 2 019
Berlin, 22. bis 26. November 2 019
Herbstauktionen in Berlin
- bis 30. November 2 019
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