Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1

Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher gehö-
renzur Routine in Jobcentern, 2018 wurde
in mehr als 900 000 Fällen Geld gekürzt.
Wie gehen die Bestraften damit um?


„In der Martermühle“


Bettina Kenter-Götte: „Die Angst ist die
größte Macht in dieser Schreckenskam-
mer der Gesellschaft. Obwohl ich seit sechs
Jahren nicht mehr in Hartz-IV-Bezug bin,
ist es erst jetzt, nach dem Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts, als sei ich aus dieser
Schreckenskammer entlassen. Ich hoffe,
dass die Angst auch bei anderen, die jetzt
betroffen sind, weicht. Die Angst vor Sank-
tionen ist prägend für das Leben von Be-
troffenen. Das Jobcenter war der einzige
Ort, wo ich mich nach den ersten Erfahrun-
gen nicht alleine hingetraut habe – und ich
war schon an sehr vielen Orten dieser Welt.
Insgesamt war ich dreimal betroffen,
einmal als junge alleinerziehende Mutter,
das war noch im alten Sozialhilfesystem
nach zehn Berufsjahren als Schauspiele-
rin. Nach weiteren 25 Berufsjahren war ich
kurze Zeit sogenannte Aufstockerin. Und
schließlich war ich fünf Jahre krank. Als
freie Bühnen- und Medienschaffende hat-
te ich keinen Anspruch auf Krankengeld
und landete, als nach zwei Jahren meine


Ersparnisse aufgebraucht waren, bei der
Armentafel und bei Hartz IV.
Einmal bekam ich eine 100-Prozent-
Sanktion, weil ich angeblich eine Frist
nicht eingehalten hatte. Diese Sanktion
war schon damals rechtswidrig und muss-
te zurückgenommen werden. Eine Sankti-
onsandrohung bekam ich, weil ich einen

Antrag auf Bedürftigkeit „zu früh“ gestellt
hatte. Danach wusste ich: Hartz IV ist ab-
surd, brutal, menschenverachtend, kontra-
produktiv und in weiten Teilen rechtswid-
rig. Ich hatte in Stuttgart Theaterproben,
da war ich noch nicht ganz gesund und im
Bezug. Das Jobcenter hatte eine wider-
rechtliche Kürzung vorgenommen, Gage
kam erst später – da habe ich gehungert.
Ein Freund ist nach Stuttgart gereist, um
mit mir Lebensmittel einzukaufen. Geld

hätte er mir nicht überweisen können, das
wäre als Einkommen abgezogen worden.
Was sonst im Rechtsstaat undenkbar
ist, war bislang in der Martermühle Hartz
IV Alltag: Ohne Vorliegen einer Straftat, oh-
ne Prozess, ohne Urteil verhängt der Fall-
manager des Jobcenters – als Ankläger,
Richter und Vollstrecker in Personalunion


  • existenzbedrohende Strafen. Das Urteil
    jetzt führt immerhin dazu, dass Betroffene
    nicht mehr in kontraproduktive Blödmaß-
    nahmen gezwungen werden können.“


„Immer noch freie Berufswahl“


Dorit Weise: „Ich war immer freiberuflich
tätig, als Grafikerin. Aus dem System gefal-
len bin ich durch die Trennung vom Vater
meines Sohnes, acht Monate nach der Ge-
burt – nach elf Jahren Beziehung. Ich hatte
Tag und Nacht ein kleines Kind, ohne Va-
ter, Oma, Opa, Onkel. Schon als er drei war,
wollte ich wieder arbeiten, habe aber gese-
hen: Es gibt kaum Jobs für Grafiker. Mein
Sohn wird jetzt 17. Ich bin also die perfekte
langzeitarbeitslose Alleinerziehende.
Vom Jobcenter wurde ich immer wieder
zu Maßnahmen geschickt. Zwei Mal hatte
ich einen 1,50-Euro-Job, eine feste Stelle
aber nie. Eine Ausbildung zur Heilpraktike-
rin wurde abgelehnt. Dann wollte ich eine

sechsmonatige Weiterbildung an der Schu-
le für Bildende Kunst in Berlin machen,
um Kurse für Kinder leiten zu können, das
wurde auch abgelehnt. Sanktioniert wurde
ich vorletztes Jahr. Da sollte ich ein halbes
Jahr zu einem Bildungsträger, um heraus-
zufinden, was ich sonst noch machen könn-
te, um in Arbeit zu kommen. Ich weiß aber,

wer ich bin und was ich kann. Andere Teil-
nehmer dort sagten mir, sie würden da nur
ihre Zeit absitzen. Weil ich das nicht wollte,
hat das Jobcenter mir drei Monate das
Geld um 30 Prozent gekürzt. Der Verein
Sanktionsfrei hat mir zum Glück beim
Überbrücken geholfen. Man lernt, mit dem
Geld auszukommen. Aber man lebt mit
dem halben Bein auf der Straße.
Was ich mir beim Jobcenter anhören
musste, war: ‚Ich kann Sie auch putzen

schicken!‘ Hallo? Es gibt ja immer noch
freie Berufswahl. Oder: ‚Machen Sie halt ei-
nen Kassenschein!‘ Wo ich denke: den gan-
zen Tag an der Kasse? Und hundert Mal:
Piep, piep, sammeln Sie Punkte? Piep,
piep. Klar, kann man machen, muss man
aber nicht. Ich überlege jetzt, mich viel-
leicht der Kunst zuzuwenden.“

„Er stand viel zu nah“


Helmut R., 54 Jahre:„Es ist noch gar nicht
lange her, da klingelte bei mir jemand nach-
mittags an der Tür – sehr beharrlich. Ich be-
gann, mir Sorgen zu machen: Wer konnte
das sein? Ich öffnete, und vor mir baute
sich ein Herr auf. Er stand viel zu nah, es
wirkte bedrohlich.‚Ich möchte Ihre Woh-
nung besichtigen. Ich bin vom Jobcenter‘,
sagte er. Ich war geschockt. Zu verbergen
habe ich nichts, aber warum steht jemand
ohne Ankündigung vor meiner Wohnung
und will hinein? Ich bekomme seit mehre-
ren Jahren mit Unterbrechungen Hartz IV
und bin als Ingenieur in einem Kreis ar-
beitsloser Akademiker. Da hatte ich schon
von solchen Situationen gehört und wuss-
te, dass dies nicht erlaubt ist. Ich sagte dem
Mann, dass er einen Termin vereinbaren
müsse. Doch er antworte: ‚Nein, ich möchte
jetzt Ihre Wohnung sehen.‘ Einen Ausweis

hatte er nicht, nur eine weiße Plastikkarte,
auf der sein Vor- und Nachname stand und
das Wort Jobcenter. ‚Aber warum rufen Sie
nicht wenigstens vorher an?‘, fragte ich zu-
rück. Er sprach dann vernünftig mit mir
weiter und sagte: ‚Dann müssen wir eben
einen Termin vereinbaren. Aber es wird
für Sie unangenehmer und aufwendiger.‘
Jeder Leistungsempfänger weiß, dass
mit solchen Worten Sanktionen angedroht
werden. In jedem Brief vom Jobcenter wird
einem etwas angedroht. Und es hilft nie,
nur schriftlich zu reagieren. Immer heißt
es dann: ‚Von Ihnen haben wir nichts mehr
gehört.‘ Ich gehe mittlerweile für jede Klei-
nigkeit zum Jobcenter und lasse mir bestä-
tigen, was ich eingereicht habe. Nur so ent-
geht man Sanktionen. Den Herrn habe ich
dann in die Wohnung gelassen, weil er sag-
te, er wäre in wenigen Minuten wieder
weg, ich wollte mir Ärger ersparen. Ich woh-
ne in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Kü-
che, aber das Zimmer ist nicht benutzbar.
Mein ganzes Leben spielt sich in der Küche
ab. Er fragte: ‚Wo schlafen Sie denn?‘ Ich
zeigte auf die Wand: ‚Da steht mein Bett,
hochgeklappt.‘ Er schaute ziemlich irritiert
und sagte: ‚Sie sind wohl kein Betrüger.‘“
protokolle: hans von der hagen,
edeltraud rattenhuber, henrike
roßbach

von alexander hagelüken

D


ie Karlsruher Richter entschie-
den diese Woche etwas, wozu
der Politik die Kraft fehlte – ob-
wohl es kaum umstritten ist.
Das Bundesverfassungsge-
richt verbot die härtesten Hartz-IV-Sankti-
onen. Wer etwa Jobangebote ablehnt, dem
darf künftig zwar weiter ein Teil der monat-
lichen Hilfe von regulär gut 400 Euro ge-
strichen werden. Aber nicht mehr alles, wo-
von er leben könnte. Gegen diese Humani-
sierung von Hartz IV protestieren nicht ein-
mal die Arbeitgeberverbände.
Das Urteil bietet den Politikern nun die
Chance, den Sozialstaat weiterzuentwi-
ckeln. In mehrfacher Hinsicht: Zum einen,
indem sie Solidarität und Kontrolle gegen-
über länger Arbeitslosen neu austarieren.
Zum anderen, indem sie mehr dafür tun,
dass diese Bürger Arbeit finden. Möglichst
eine, von der sich anständig leben lässt. Da-
zu gibt es jede Menge Ideen, die teilweise
seit Jahren auf Realisierung warten. An-
ders gesagt: auf politische Kraft.
Nach dem Urteil preschten Linke und
Grüne sogleich mit der Idee vor, alle Sankti-
onen bei Hartz IV zu streichen. Juso-Chef
Kevin Kühnert will den SPD-Parteitag im
Dezember darüber entscheiden lassen.
Zahlreiche Arbeitsmarktforscher aber war-
nen davor. Das Verfassungsgericht habe
zwar zu Recht verboten, 60 oder 100 Pro-
zent der Hilfe zu streichen, sagt Bernd Fit-
zenberger. Aber: „In manchen Situationen
sind Sanktionen sinnvoll“, so der Direktor
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-
forschung (IAB). „Es gehört dazu, eine Ge-
genleistung einzufordern.“


Die Strafen betreffen nur drei Prozent al-
ler Hartz-IV-Bezieher. Weit überwiegend
geht es um geringe Abzüge, weil jemand
nicht zu einem Termin erscheint. Bei jenen
aber, die tatsächlich Jobs ablehnen, bewir-
ken die Sanktionen oft durchaus etwas.
Ein größerer Teil nimmt eine Arbeit auf,
das zeigen Studien. Unterhält man sich mit
Vermittlern der Arbeitsagentur, schätzen
sie den Anteil der Arbeitslosen, die sich oh-
ne guten Grund verweigern und etwa
schwarz dazuverdienen, auf ein Zehntel.
Für sie erscheinen gewisse Sanktionen
angebracht – und für das Gerechtigkeits-
empfinden jener, die die Hartz-Milliarden
finanzieren. Teils sind das Menschen, die
schuften und wenig verdienen. „Wir haben
eine Solidargemeinschaft, die darauf be-
ruht, dass Steuerzahler weiter zahlen und
das Gefühl haben, dass Leistungsempfän-
ger etwas zurückgeben“, argumentiert An-
dreas Peichl vom Münchner Ifo-Institut.
Auf der anderen Seite sollten gutwillige
und gehemmte Arbeitslose nicht demorali-
siert werden. Das geschieht durch exzessi-
ve Strafen und überbordende Bürokratie.
Das Phänomen ist bekannt aus anderen
Ecken des Sozialstaats. So beantragen man-
che arme Alte keine Sozialhilfe, weil sie
den Gang zum Amt scheuen. Bei der ge-
planten Grundrente versuchen SPD und
Union seit Monaten, Solidarität und Kon-
trolle auszutarieren. Damit niemand aus
Scham verzichtet, will die SPD zahlen, egal
ob jemand bedürftig ist. Die Union pocht
darauf, Ruheständler, die etwa Mieteinnah-
men haben, auszusortieren – am Sonntag
ringt darum der Koalitionsausschuss.
Bei Hartz IV wäre es sinnvoll, Sanktio-
nen sensibler zu verhängen. Und die extra
harten Strafen für Menschen unter 25 Jah-


ren abzuschaffen. Eine weitere Humanisie-
rung gefährdet nicht gleich den Erfolg, den
Forscher den Arbeitsmarktreformen der
Agenda 2010 zuschreiben. Sie griffen Mit-
te der Nullerjahre, seitdem hat sich die Ar-
beitslosenzahl mehr als halbiert (siehe Gra-
fik). Die meisten Ökonomen schreiben
dem unbequemen Hartz-IV-System einen
Anteil daran zu, aber einen begrenzten.
Wichtiger ist, dass man Arbeitslose besser
vermittelt. Und ganz anderes, etwa Bünd-
nisse von Gewerkschaften und Firmen,
um die Wettbewerbsfähigkeit steigern.
Ifo-Forscher Peichl fordert, Hartz radi-
kal zu vereinfachen. „Empfänger müssen
für jeden Scheiß einen Antrag stellen. Ein
Bescheid kann 200 Seiten haben.“ Eine
Pauschalierung der Leistungen und eine
Digitalisierung der Amtsstuben würde viel
ändern. „Sachbearbeiter verbringen heute
mehr als die Hälfte ihrer Zeit damit, solche
Anträge zu bearbeiten, statt die Klienten in
Stellen zu vermitteln.“
Das lenkt den Blick darauf, dass zwar
die Arbeitslosenzahl stark schrumpfte. Je-
ne in Berufe zu bringen, die schon über ein
Jahr aus dem Job sind, gelang aber weni-
ger gut. Und je länger einer raus ist, desto
schwerer kommt er wieder rein. Eine Ver-
mittlerin erzählt von einem Lkw-Fahrer,

der vier Jahre ohne Stelle war und dann ein
Vorstellungsgespräch sausen ließ. Als sie
ihn anrief, weinte er. Er hatte Angst.
Im vergangenen Jahr gab es etwa 1,5 Mil-
lionen Arbeitslose, die Hartz IV bezogen.
Wie sie näher an die Berufswelt kommen,
dafür gibt es zahlreiche Modelle. So lohnen

sich etwa kleinere Einstiegsjobs nicht.
Hartz-Empfänger dürfen nur die ersten
100 Euro behalten, danach wird 80 bis 100
Prozent des Verdiensts abgezogen. Des-
halb sind fast alle nur wenige Stunden im
Monat tätig. Dürften Hartz-Empfänger
30Prozent ihres Verdiensts behalten, wür-

den nach manchen Berechnungen deut-
lich mehr von ihnen kleinere Jobs anneh-
men. Unter dem Strich würde dies den
Staat nicht einmal mehr kosten.
Solche Veränderungen haben in einem
komplexen System Folgen. So würden
plötzlich einige Geringverdiener Hartz IV
erhalten, die es bisher nicht bekamen. Und
bei etwas höheren Einkommen entstehen
womöglich Anreize, weniger Stunden zu ar-
beiten. Zahlreiche Forscher fordern seit
Langem eine Großreform: Niedriglöhner
sollen weniger Sozialabgaben zahlen. Da-
mit sich Arbeiten für jene mehr lohnt, die
etwa wegen ihrer Qualifikation wenig ver-
dienen. Aber dann fehlen dem Staat natür-
lich Einnahmen.
Insgesamt ist klar, dass der Sozialstaat
noch anders ansetzen muss. Und dass man-
che groß angekündigten Rezepte Murks
sind. Minijobs etwa, bei denen der Staat
teils auf Steuern und Sozialabgaben ver-
zichtet, dienen selten als Sprungbrett zu re-
gulären Vollzeitstellen. Viele Jobber blei-
ben darin hängen. Sie verdienen kaum was
und sind dann im Alter arm.
Ein Problem ist, dass vielen Langzeitar-
beitslosen Fähigkeiten fehlen, die heute ge-
fordert sind. Die Wirtschaft hat sich völlig
gewandelt. Noch Ende der 1970er-Jahre

beschäftigten die Unternehmen zu einem
Drittel gering Qualifizierte. Heute sind Un-
gelernte kaum noch gefragt. Und: Je länger
jemand aus dem Arbeitsmarkt raus ist, des-
to mehr verliert seine Ausbildung an Wert.
Bernd Fitzenberger glaubt, dass der
Staat über Qualifizierung mehr Langzeitar-
beitslose in Jobs bringen könnte. „Man
kann da noch mehr tun, als die vergange-
nen Jahre getan wurde“, sagt der Chef des
wissenschaftlichen Instituts bei der Bun-
desagentur für Arbeit. In vielen Berufen, et-
wa bei Erziehern, existierten Engpässe.
„Da gibt es im Arbeitsmarkt nach wie vor
Jobs en masse. Das ist in den Fällen, in de-
nen das infrage kommt, der Königsweg.“
Wie lässt er sich beschreiten? Andreas
Peichl warnt vor Planwirtschaft: „Was die
Bundesagentur an Qualifizierung macht,
ist nicht zwingend das, was die Unterneh-
men brauchen. Sachbearbeiter im Jobcen-
ter haben doch keine Ahnung, wie es in der
Wirtschaft zugeht. Am besten wäre es, die-
se Weiterbildung mit den Firmen zusam-
men zu machen.“

Höhere Qualifikationen würden Arbeits-
losen auf jeden Fall helfen, als Beschäftigte
mehr zu verdienen. Das ist schon deshalb
wichtig, weil der deutsche Jobboom Schat-
tenseiten hat: Die Zahl der Niedriglöhner
hat zugenommen. Was teils mit den Agen-
da-Reformen zu tun hat, teils mit der
schwindenden Verhandlungsmacht der Ge-
werkschaften in einer globalisierten Welt.
Die Bundesregierung hat dieses Jahr
zwei große Programme gestartet, um Lang-
zeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dabei
übernimmt sie den Großteil des Lohns,
wenn Firmen Menschen einstellen, die
mehr als zwei Jahre arbeitslos waren. Bei
30000 läuft das schon. Jeder Teilnehmer
soll eine Lebensberatung bekommen. Sol-
che Instrumente müssten zum Standard
werden. Manche Langzeitarbeitslose ha-
ben einen strukturierten Tagesablauf ver-
lernt. Sie sind Gewaltopfer, süchtig, krank.
Oder mehreres zugleich.
In Modellprojekten begegnet man Men-
schen wie jener Mutter, deren letzte Stelle
17 Jahre her war. Ihr Mann säuft, sie müht
sich, fünf Kinder alleine großzuziehen.
Das Amt bot ihr mehrfach Stellen an, die
sie bald hinwarf, weil sie ihr Leben damit
nicht auf die Reihe bekam. Dass ihr das
Amt daraufhin mehrfach Hartz IV kürzte,
brachte sie auch nicht zurück in einen Be-
ruf. Mehr als Sanktionen half ihr etwas an-
deres. Im Modellprojekt ordnete sie zusam-
men mit einem Sozialberater ihr Leben. Er
organisierte Kinderbetreuung, Erzie-
hungstipps, Hausaufgabenhilfe. Geneh-
migte eine Ausbildung statt der perspektiv-
losen Ein-Euro-Jobs, auf die sich das Amt
versteift hatte. Wenn der Staat weniger
Langzeitarbeitslose will, muss er sich bei
vielen Betroffenen so intensiv bemühen.
Ob mehr Qualifizierung oder mehr Le-
bensberatung, das kostet zunächst. Modell-
rechnungen machen aber Mut: Demnach
wird es für den Staat oft billiger, wenn lan-
ge Arbeitslose zurück in einen Beruf kom-
men, statt in Hartz IV hängen zu bleiben.

Bettina Kenter-Göt-
te, 68, ist Schauspie-
lerin und Autorin,
sie hat Sozialhilfe
und Hartz IV bezo-
gen. Ihre Erfahrun-
gen hat sie in einem
Buch verarbeitet.
FOTO: ELISABETH GREIL / OH

Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem


Viele Hartz-IV-Bezieher fühlen sich dem Jobcenter ausgeliefert, vor allem wenn es mit Strafen droht. Betroffene erzählen, was sie erlebt haben


Empfänger müssen
für jeden Scheiß
einen Antrag stellen.
Ein Bescheid
kann 200 Seiten haben.“

Andreas Peichl vom Ifo-Institut

Dorit Weise, 48, lebt
in Berlin. Die Grafik-
designerin und Bau-
zeichnerin bezieht
seit Jahren Hartz IV.
Mit der Trennung
von ihrem Freund
hatte alles angefan-
gen.FOTO: OH

2 THEMA DER WOCHE HBG Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


Das Verfassungsgericht war diese Woche eindeutig: Die Jobcenter dürfen Erwerbslosen Leistungen kürzen,


aber ihnennicht alles nehmen. Die Debatte über den Umgang mit Arbeitsuchenden bekommt neuen Schwung


HARTZ IV – KOMMT DIE GROSSE REFORM?


Manche Langzeitarbeitslose
haben einenstrukturierten
Tagesablauf verlernt

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Angaben in Millionen

Hartz IV oder Arbeit? Wie sich die Zahlen entwickelt haben

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Hartz-IV-Empfänger, die
grundsätzlich arbeiten können*

Beschäftigte, die
Niedriglöhne erhalten
Arbeitslose

SZ-Grafik; Quelle: Bundesagentur für Arbeit

*darunter Menschen, die derzeit nicht arbeiten können, weil sie Kinder
oderAngehörige betreuen, sowie Beschäftigte, die zusätzlich Hartz IV erhalten

4,

4,

2,

4,

3,

4,

neues Erhebungsverfahren

5,

Aufzug nach oben


Einfacher, digitaler, humaner: Es gibt viele Ideen, Langzeitarbeitslose endlich in Jobs zu bringen,


Modellprojekte zeigen, wie das gehen kann. Dafür aber ist politischer Mut nötig


ILLUSTRATION: STEFAN DIMITROV

Rubrikenanzeigen


In dieser Ausgabe auf folgenden Seiten:
Reisemarkt, Verschiedenes
Kunst und Antiquitäten
Bekanntmachungen, Geschäftsanzeigen
Heiraten/Bekanntschaften, Bildungsmarkt
Immobilien- und Mietmarkt
Stellenteil
Motormarkt
Veranstaltungen

Seite 22
Seite 23
Seite 28
Seite 35
Seite 49-
Seite 65-
Seite 69-
im Lokalteil

Anzeigenschluss für Samstag:
Stellenanzeigen: Donnerstag, 11 Uhr
Übrige Rubriken: Donnerstag, 16 Uhr B
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