S
eit einer Stunde fährt der Jeep
über den Grund des Sees. Jetzt
hält er, Motor aus. Zeit für einen
Spaziergang auf diesem Grund
ohne Wasser, Sand ohne Ende,
Wüste ohne Horizont. Der verschwimmt in
der Hitze. Wege gibt es hier keine, nur
Sträucher und verstaubtes Schilf. Dadurch
zieht der Wind, er rauscht auf dem Grund
des Aralsees.
Ein wenig Wasser ist schon noch übrig.
Doch bis dahin müsste man noch zwei
weitere Stunden durch die Wüste fahren.
Fahrer Arnold Tenten bringt Touristen bis
zum letzten Rest des Sees. Die wollen ihn
sehen, bevor er ganz verschwunden ist.
Der Aralsee zog sich einst durch zwei
Länder, Kasachstan im Norden und Usbe-
kistan im Süden. Arnold Tenten fährt
durch den usbekischen Teil. Früher war
der Aralsee der viertgrößte See der Erde,
mit einer Fläche fast so groß wie Bayern.
Heute ist davon nicht mal ein Zehntel üb-
rig. Die Wüste an der Stelle des Sees ist sal-
ziger als ein Ozean. Kein Insekt brummt
hier, kein Vogel zwitschert, kein Schatten
fällt. Nur manchmal sieht Fahrer Tenten
eine Springmaus oder einen Fuchs. Und
natürlich die Bohrtürme der Ölfirmen, die
hier nach Erdgas graben.
Es waren die Menschen, die den See
durch Misswirtschaft zur Wüste gemacht
haben. Die hat längst ihren eigenen Na-
men: Aralkum. Er steht für eine der größ-
ten Umweltkatastrophen des vergangenen
Jahrhunderts. Weil sie sich schwer umkeh-
ren lässt, versuchen die Menschen in Usbe-
kistan nun mit ihren Folgen zu leben.
Das Wasser, das noch übrig ist, hat sich
in zwei kleinere Seen geteilt. Grob betrach-
tet liegt einer in jedem Land. Vom nörd-
lichen in Kasachstan kamen zuletzt gute
Nachrichten: Die Kasachen haben vor
15 Jahren einen neuen, stabilen Damm ge-
baut. Sie haben den nördlichen Teil des
Sees vom südlichen getrennt. Ihr Teil-See
läuft seither voll, die Fische kommen zu-
rück, das ist Grund zur Freude.
Doch die Usbeken im Süden waren da-
von nicht begeistert. Sie sind seither vom
Wasser aus Kasachstan abgeschnitten. Vie-
les davon wäre zwar vermutlich ohnehin in
der Wüste verdunstet. Das größere Pro-
blem für die usbekische Regierung ist des-
wegen, dass die Kasachen nun als Retter
des Aralsees dastehen. Und die Usbeken
weiterhin als Wasserverschwender.
Der usbekische Präsident hat daher
selbst große Pläne. Er will Wasser sparen,
die Wüste bepflanzen, eigene Dämme bau-
en. Den großen See zurückzubringen, dar-
an wagt in Usbekistan niemand zu denken.
Heute geht es darum, den Mangel zu ver-
walten und das Leben ohne den See erträg-
lich zu machen.
Der Fahrer startet den Wagen wieder. Er
fährt nicht weiter zum Wasser, er fährt zu-
rück nach Mujnak, wo einst der Hafen lag.
Heute liegt er etwa 150 Kilometer vom Was-
ser entfernt. Mujnak ist bekannt für die ros-
tigen Schiffe, die unten im Hafenbecken
auf dem Trockenen stehen, ordentlich ne-
beneinander aufgereiht, ein Schiffsfried-
hof als Besucherattraktion.
Am Rand der Salzwüste begleiten Kühe
den Jeep auf seinem Heimweg. Die ersten
Häuser tauchen auf. Menschen schieben
Schubkarren, darin stehen Eimer, andere
tragen Kanister. Jeden Abend um sieben
kommt frisches Wasser aus den Leitun-
gen, für ein paar Stunden.
In Mujnak selbst leben etwa 15 000 Ein-
wohner. Niedrige weiße Häuser hinter
hohen weißen Zäunen säumen die Wege.
Der Präsident hat die Leitung erst 2017 bau-
en lassen, sie bringt Trinkwasser aus dem
101 Kilometer entfernten Kungrad. Vorher
gab es in Mujnak nur salziges Wasser. Hier
sind nun alle Fans des neuen Präsidenten.
Almas Towaschew wartet vor seiner
Tür, mit einem seiner Enkel an der Hand.
Im Hof steht ein gelbes Ruderboot, dane-
ben ein kleiner Hühnerstall. Das Wasser
kommt aus einem Schlauch in der Erde.
Er führt ins Haus, durch die Küche, vor-
bei an Eimern mit schmutzigem Wasser
vom Tag. Er setzt sich im hinteren Zimmer
vor einen niedrigen Tisch, hellblaues
Hemd, eine bestickte Kappe auf dem Kopf.
„Schauen Sie sich meinen Aralsee an“, sagt
der 79-Jährige, der mal ein Kapitän war.
Seinen Aralsee gibt es nur noch auf alten
Fotos, er breitet sie aus. Sie zeigen Schiffe,
sie zeigen ihn als Seemann.
Früher konnte man von Mujnak aus mit
dem Schiff in die Stadt Aral in Kasachstan
fahren. Länger als einen Tag dauerte die
Reise, erzählt der alte Kapitän. Acht von
zehn Küstenbewohnern in Karakalpakis-
tan, so heißt diese usbekische Region,
lebten einst von der Fischindustrie. Fast
40Sorten Süßwasserfisch, mehr als 30 000
Tonnen im Jahr gab der Aralsee her.
Zwei große Flüsse brachten dafür genü-
gend Wasser. Der Syrdarja im Norden und
der Amudarja-Fluss im Süden, auf der us-
bekischen Seite. Doch in Sowjetzeiten än-
derten sich die Pläne für Zentralasien und
seine natürlichen Ressourcen. Damals
überzog die Planwirtschaft Usbekistan mit
Baumwollfeldern. Für den Aralsee blieb im-
mer weniger Wasser übrig.
Auch heute sind die beiden großen Flüs-
se ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die
Region. Sie schlängeln sich durch mehrere
zentralasiatische Staaten, liefern ihnen
Energie und Wasser für die Landwirt-
schaft. Alles, was die Menschen den Flüs-
sen entnehmen, geht auf Kosten des Aral-
sees. Zwar bauen die Usbeken heute weni-
ger Baumwolle an als früher, dennoch
verschlingt sie weiterhin viel vom Amu-
darja-Fluss. Durch Usbekistan schafft es
das Flusswasser heute nur noch selten bis
dorthin, wo einst der See war. Es ist alles
vorher verbraucht, verdunstet, versickert.
Der Aralsee schrumpfte seit den Sechzi-
gerjahren so schnell, dass man fast dabei
zusehen konnte. Weil er schon damals
recht flach war, nirgendwo tiefer als 69 Me-
ter, verdunsteten an seiner Oberfläche gro-
ße Mengen Wasser. Diesen Verlust mussten
die Flüsse ausgleichen. Als sie nicht mehr
genug frisches Wasser lieferten, geriet der
See aus dem Gleichgewicht. Er wurde
salzig, die Fische starben, die Vögel ver-
schwanden. Die Fischkonserven-Fabrik in
Mujnak machte zu. Der Kapitän wurde
Landwirt, baute Melonen an. Dann war
auch für sie nicht mehr genug Wasser üb-
rig. Sogar das Gras verschwand.
Heute ist Almas Towaschew Pensionär.
Er hat ein Gewehr, damit schießt er Vögel
an den kleineren Seen um Mujnak. Die Re-
gierung möchte weitere Dämme und Kanä-
le bauen, um diese Seen mit Wasser und
mit Fisch zu füllen. Sie liegen im Amudarja-
Delta, bis dahin reicht der Fluss noch.
Manche der Seen grenzen an die Wüste, wo
früher der Aralsee war.
Immerhin gibt es einen Fonds zur
Rettung des Aralsees, den Ifas. Die fünf
zentralasiatischen Länder Usbekistan, Ka-
sachstan, Turkmenistan, Tadschikistan,
Kirgisistan sind offiziell daran beteiligt.
Doch das Projekt ist mehr ein Gesprächs-
kreis, denn der Fonds hat kein Budget.
Jede Regierung finanziert ihre eigenen Pro-
gramme, nicht alles ist koordiniert. In
Usbekistan geht es vor allem um giftige
Staubwinde, schmutziges Wasser, ums
Wassersparen und um neue Jobs. Wadim
Sokolow leitet den Fonds für Usbekistan,
er ist sich sicher, dass der Aralsee in abseh-
barer Zeit nicht zurückkommen wird.
Denn dafür wäre eine gigantische Men-
ge Wasser notwendig. 1080 Kubikkilome-
ter umfasste der See in den Sechzigerjah-
ren. Um den Aralsee wieder zu füllen, müss-
te man nicht nur diese riesige Menge zu-
rück in die Wüste bringen. Man müsste
auch das verdunstende Wasser ausglei-
chen: zusätzlich bis zu 50 Kubikkilometer
im Jahr, das entspricht knapp dem Volu-
men des Bodensees. Früher, unter Josef
Stalin, entstand der Plan, sibirische Flüsse
zum Aralsee umzuleiten. Ein größenwahn-
sinniges Projekt, das nie umgesetzt wurde.
Fondsleiter Sokolow rechnet mit den
Flüssen, die er hat, mit dem Amudarja und
dem Syrdarja: Um den See wieder aufzufül-
len, dürfte man beide 30 bis 40 Jahre lang
nicht anrühren, kein Wasser stauen, nichts
entnehmen. Für die Länder, die von den
Flüssen abhängen, ein abwegiger Gedan-
ke.
Die kleinen Seen im Flussdelta zu ret-
ten, dort wo der alte Kapitän Vögel schießt,
erscheint dagegen machbar. Dämme sol-
len das Wasser auffangen, bevor es in die
Wüste fließt. Kanäle verteilen es dann auf
ein Netzwerk mehrerer Seen. „In Kasachs-
tan war es einfacher, das Problem zu lö-
sen“, sagt Sokolow. Dort reichten 13 Kilome-
ter Damm, um einen einzigen großen See
zu füllen, den nördlichen Aralsee. In Usbe-
kistan aber liegt die Hoffnung der Men-
schen in neun kleinen Seen und Reser-
voirs, später sollen vielleicht drei weitere
dazukommen, für mehr Fische und Jobs.
In Mujnak wird bereits eine neue Fischkon-
serven-Fabrik gebaut.
Für das neue Seensystem bräuchten sie
anders als in Kasachstan jedoch mehrere
Dämme, insgesamt 120 Kilometer lang
und 350 Millionen US-Dollar teuer. Bisher
aber, erzählt Sokolow, gab es nur eine Milli-
on jährlich, alles ging sehr langsam. Und
nicht nur das Geld müsste zuverlässiger
fließen. Mehr als fünf Kubikkilometer Was-
ser im Jahr sollten im Delta ankommen, da-
mit Fische in den kleinen Seen überleben.
Doch meist kommt weniger. Manchmal
gar nichts, manchmal zu viel. Im Jahr 2017
zum Beispiel floss das Wasser, es floss und
floss. Die Dämme waren nicht fertig, also
suchte es sich seinen Weg – in Richtung
Wüste. Vorübergehend entstand dort ein
dritter, großflächiger Teil-See. Das hat
aber die Sache nur schlimmer gemacht: In
den Boden, der dort zu einem Viertel als
Salz besteht, konnte das Wasser nicht ein-
ziehen. Stattdessen zog es noch mehr Salz
an die Oberfläche, bevor es dann unge-
nutzt verdunstete.
Sokolow nutzte das Malheur, um Druck
zu machen. Es soll jetzt schneller gehen
mit den Dämmen, in diesem Jahr hat der
Fondsleiter 50 Millionen Dollar für das Pro-
jekt bekommen. Außerdem hilft ihm nun
ein staatliches Bauunternehmen, bis 2025
soll alles fertig werden. Dann kann kein
Wasser mehr Richtung Aralkum fließen,
so der Plan. Genau wie Kasachstan schnei-
det Usbekistan die Wüste, die früher zum
Aralsee gehörte, vom Wasser ab. War’s das
für den alten See?
Abror Gafurov vom Helmholtz-Zen-
trum in Potsdam versucht zu verstehen,
wie Wasserreserven in Zentralasien entste-
hen. Er beschreibt einen Kreislauf: Sonne
und Wind bringen Feuchtigkeit vom Aral-
see und vom Kaspischen Meer nach Osten,
in die Berge, dort schlägt sie sich nieder.
Das Gebirge mit seinen Gletschern spei-
chert das Wasser. Wenn Schnee und Eis im
Sommer schmelzen, füllen sich die Flüsse.
Wie viel Wasser der Amudarja im Som-
mer führt, hängt davon ab, wie viel es im
Winter regnet oder schneit. Und davon,
wie groß die Gletscher sind und wie warm
der Sommer wird. Der Klimawandel
kommt hinzu. Hydrologe Gafurov kriti-
siert, dass in Zentralasien häufig der wis-
senschaftliche Ansatz fehle. „Die Frage, ob
wir in 20 oder 30 Jahren noch genauso viel
Wasser haben, stellt niemand“, sagt er.
Auch heute könnte man den Vorrat in
den Bergen besser berechnen. „Wenn die
Länder nicht wissen, wie viel Wasser sie
erwarten dürfen, werden sie ihre Staudäm-
me stets geschlossen halten“, sagt Abror
Gafurov. Die höher gelegenen Länder brau-
chen die Dämme, um Strom zu erzeugen.
Usbekistan braucht das Wasser für die
Landwirtschaft. Wenn sie die Wasserreser-
ven besser kalkulieren würden, könnten
sie beispielsweise Quoten verteilen, er-
klärt er. Dann könnte vielleicht auch der
Aralsee seine Quote abbekommen.
Ohne Wasser aber siegt die Wüste, und
die Wüste ist ein Problem für sich. Der
Wind trägt den Staub von dort leicht
300 Kilometer weit, 100 Millionen Tonnen
Die Menschen hatten früher
ganz klare Augen, jetzt sind
sie getrübt vom Staub
Der tote
See
In Zentralasien haben die
Menschen den Aralsee
in eine Wüste verwandelt.
Nun geht es ums Überleben
von silke bigalke
Der Kapitän baute daraufhin
Melonenan. Dann war auch für
sie nicht mehr genug Wasser da
38 WISSEN Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH
Auf dem Trockenen
Ein Friedhofder rostigen Schiffe ist
der ehemalige Hafen der Stadt Mujnak,
mittlerweile eine viel fotografierte
Touristenattraktion.
Berufswechsel
Früher arbeitete Almas Towaschew, 79,
als Kapitän und steuerte sein Schiff
bis nach Kasachstan.
FOTOS: BIGALKE
KASACHSTAN
USBEKI-
STAN
RUSSLAND
TÜRKEI TURKMENISTAN
IRAN
KIRGISISTAN
TADSCHIKISTAN
CHINA
AFGHANISTAN
Nur-Sultan
(Astana)
Taschkent
Nukus
200 km
SZ-Karte/Maps4News
Kaspisches
Meer
Aralsee
Schwarzes
Meer