Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1
von marten rolff

D


er Weg zu Leipzigs erfolg-
reichstem Koch ist nicht gera-
de ein Parcours der Beschei-
denheit. Da wäre etwa das Lu-
xushotel, in dessen oberster
Etage sein Restaurant, das „Falco“, logiert.
Als zweithöchstes Gebäude der Stadt ist
das „Westin Grand“ nirgends zu überse-
hen, auch weil der DDR-Bau mit Fliesen ver-
kleidet ist, die in der Sonne glitzern wie Swa-
rovski-Steine. Die Lobby lässt Gäste wie
Ameisen wirken, und für alle, die bis dahin
nicht wissen, was sie im 27. Stock erwartet,
hängt eine lebensgroße Fotomontage von
Peter Maria Schnurr an der Wand. Der
Koch trägt darauf eine rote Trainingshose
und stützt sich grinsend auf ein mannsho-
hes Messer, darunter steht: „Simply the
best“. Ein Restaurantkritiker hat ihm des-
halb mal „Personenkult stalinistischen Aus-
maßes“ vorgeworfen. Schnurr formuliert
es anders: „Ich bin, wie ich bin, entweder da
haste Bock drauf oder eben nicht.“
Peter Maria Schnurr, das sagt er selbst,
ist laut, schnell und direkt. Als man aus
dem Fahrstuhl tritt, wartet er schon vor der
Tür; er trägt eine rote Jogginghose, wie auf
dem Foto, sie ist sein Markenzeichen. Der
Koch quetscht Hände eher, als dass er sie
drückt. Zwischen Schnurrs fröhlich dröh-
nenden Begrüßungssätzen eine Erwide-
rung zu platzieren, ist fast unmöglich, ohne-
hin beginnt er sofort mit der Restaurantfüh-
rung. Willkommen ganz oben, in Ost-
deutschlands luxuriösestem Gourmetloft:
678 Quadratmeter mit cremefarbenen Le-
dersesseln, Glastischen, Ebenholz-Trenn-
wänden und umlaufenden Fenstern. Dahin-
ter liegt Leipzig dem Gast zu Füßen.
Die Anordnung ist wichtig. Weil ein sol-
cher Raum, 100 Meter über der Stadt, einen
ja leicht auf die Idee bringt, abzuheben.
Und weil jedes Detail hier die Frage auf-
wirft: Wie geht das bloß zusammen – diese
Stadt, dieser Ort und dieser Koch?
Schließlich werden die bürgerbewegten
Leipziger vor 15 Jahren, als Schnurr her-
kam, nicht darauf gewartet haben, dass ih-
nen irgendein großspuriger Herdrocker
aus dem Westen erklärt, wie man Hummer
isst. Zu Preisen, wie man sie nur von Alain
Ducasse aus Paris kannte, das Wagyu-
Steak mit Baumpilz-Tatar, Beinscheiben-
tee und Markklößchen-Schnee kostet hier
220 Euro. Andererseits klang ein Wechsel
nach Leipzig für Köche damals in etwa so se-
xy wie ein Jobangebot aus der Betriebskan-
tine. Vor allem wenn man, wie Schnurr, aus
dem Schwarzwald kam, der Wiege der deut-
schen Gourmetküche, bei berühmten Kö-
chen gelernt hatte und als Talent galt.
Freunde zeigten Schnurr einen Vogel: Was
willst du denn im kulinarischen Exil?
Wie fruchtbar die vermeintliche Gour-
metwüste dann war, ist schnell erzählt: Das
„Falco“, benannt nach einem Turmfalken-
paar, das auf dem Hoteldach nistet, ist heu-
te – wenn man Berlin ausnimmt – mit zwei
Michelin-Sternen das bestbewertete Lokal
Ostdeutschlands; der Gastroführer „Gault
& Millau“ kürte Schnurr zum „Koch des
Jahres“; sein Lokal ist beliebt, 80 Prozent
der Gäste kommen „aus Leipzig oder ei-
nem Radius von 200 Kilometern“, schätzt
Schnurr, „vom kleinen Beamten bis zum
Bauunternehmer sitzen bei uns ganz unter-
schiedliche Leute, darauf bin ich stolz“.
So wurde Leipzig zur einzigen Stadt im
Osten, die mit einem Restaurant sogar re-
gelmäßig internationale Feinschmecker
und Prominente anzieht. Schnurr lässt in
seinen Sprechsalven gern mal Namen fal-
len; fürs Wochenende hat sich die neue EZB-
Chefin Christine Lagarde angekündigt,
„vielleicht mit der Kanzlerin“.
Einerseits verwundert das nicht: Es geht
um eine Großstadt, die boomt und wächst,
es gibt viele neue Jobs und ein altes Kultur-
bürgertum – und damit Menschen, die sich
ein Gourmetessen leisten können oder wol-
len. Trotzdem ist ein Avantgarderestaurant
vor allem dort, wo Hochküche keine Traditi-
on hat, immer ein Himmelfahrtskomman-
do. Ein ähnliches Lokal wäre nicht nur in
Dresden oder Magdeburg, sondern auch in
Bremen oder Duisburg schwer vorstellbar.
Wieso also hatte ausgerechnet der krachige
Schnurr mit seinem Luxusloft ausgerech-
net im postsozialistischen Leipzig Erfolg?
Wenn man mit Verkürzungen zufrieden
sei, dann habe er zwei Antworten darauf,
sagt der Koch: „Die Leipziger sind cool, of-
fen und neugierig“. Zudem sei er damals,
als ihn ein Investor fragte, ob er hier kochen
wolle, „mit Haut und Haaren“ gekommen.


Letzteres war nicht selbstverständlich in ei-
ner Zeit, in der man in Ostdeutschland ge-
wohnt war, dass viele westdeutsche Gastar-
beiter sich wie Kolonialbeamte benahmen:
herablassend Nachhilfe geben, ein paar
Chancen und Gewinne abgreifen und dann
ab nach Hause. Das sei natürlich die falsche
Haltung, sagt Schnurr. Das Ost-West-Gere-
de hält er für übertrieben. Es habe in all den
Jahren nie eine Rolle gespielt, dass er aus
dem Westen kam, glaubt er. Und er habe
nie falsche Rücksichten genommen oder
gar versucht, seine Herkunft zu verbergen.
„Wie auch, mit meinem breiten Badisch?“

Der Koch hat sich an einen Tisch am
Fenster gesetzt und Mineralwasser einge-
schenkt. Von hier wirkt Leipzig wie ein raus-
geputztes Spielzeugmodell: altes Rathaus,
Moritzbastei, die Nikolaikirche, von wo aus
die Montagsdemonstranten im Herbst
1989 starteten. Für das „Falco“ hat die Ge-
schichte eine gewisse Ironie: Hier, im obers-
ten Stock des damaligen Interhotels, war
früher der berüchtigte „Club 27“ unterge-
bracht, ein verwanztes Lokal fürs meist
männliche Messepublikum aus dem Wes-
ten; unter die Gäste mischten sich Stasispit-
zel und Lockvögel, die der Volksmund rüde
„Westgeldnutten“ nannte. Nichts im Gour-
metrestaurant nimmt Bezug auf diese Ver-
gangenheit, nicht die kleinste scherzhafte
Reminiszenz. An diesem Ort interessierte

Schnurr bei der ersten Besichtigung vor al-
lem eins, erzählt er: „sein Potenzial“.
Dass er richtig lag, davon zeugen die
vielen Liebeserklärungen seiner Gäste,
die im Flur mit Filzer die Wände beschrei-
ben dürfen. Hier steht jeder neben jedem:
Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann ne-
ben „drei Kumpels aus Jena“ und Holly-
woodstar George Clooney, der sich als ju-
belnde Comicfigur selbst zeichnete und
„Perfect Dinner“ urteilte. Die Wand wird
Schnurr so schnell nicht weißeln lassen.
Ein Stück weiter liest man bei einem
Geburtstagsgruß für den Chef den
Wunsch: „Bleib’ so gerade, konsequent,
verrückt und sympathisch arrogant! Du
kannst es Dir leisten.“ Damit wäre man
dann wohl bei einem Erfolgsgeheimnis
des 50-Jährigen: Peter Maria Schnurr
weiß sich selbstbewusst auszuleben, und
dasselbe gesteht er seinen Gästen zu.
Bei einem Koch betrifft das Ausleben
zuerst den Küchenstil. Und dafür, dass
die Gourmetküche für Leipzig Neuland
war, verlangt Schnurr seinen Gästen eini-
ges ab. Das verrät auch sein Kochbuch,
ein Foodporn-Foliant von 6,8 Kilo, der auf
648 Hochglanzseiten stur die Rezepte sei-
ner hochkomplexen Gerichte listet. „Klar
französisch“ nennt Schnurr sein Funda-
ment; darauf knallt er dann eine internati-
onale Aromen-Etage nach der anderen.
Die Karte liest sich wie eine Selbstver-
pflichtung zur Originalität, die in Anstren-
gung umschlagen kann. Je krasser, desto
besser. Das beginnt bei den Witzelnamen
der Gerichte, die „Bondage“ (Kalbszunge)
heißen oder „Welcome to Hollyfood“ (ein
Dessert aus Blaubeeren, Matcha, Hafer-
Eis, Grünkohl, Kiwi und Gurkensaft, das
die Superfood-Manie Kaliforniens ironi-
siert). Schnurr lässt gern Amuse Gueules
auf Metzgerbeilen und Petit Fours auf Ba-
delatschen servieren. Er tönt, solange sie
qualitativ herausrage, mache er vor kei-
ner Zutat halt. Und er kombiniert – trotz
des schlechten Leumunds von Surf ’n’
Turf-Gerichten – bevorzugt Meer und
Land: Hummer mit Kalbsbries, Rotbarbe
mit Sobrasada (mallorquinische Wurst),
Makrele mit Taube, Kabeljau mit Entenle-
ber, Kaviar mit Schweinebauch.
Bei Tisch geschieht dann Seltsames:
Denn während Gäste noch über den Sinn
mancher Kombination rätseln, sich wo-
möglich fragen, warum ein badischer
Koch in Sachsen französische Foie gras
mit indischen Gewürzen bombardiert, ist
Schnurr schon dabei, Einwände auszuräu-
men. Was schrill angekündigt war, er-
reicht den Tisch als Teller von subtiler Ele-
ganz. Und vermeintlich Gegensätzliches
findet am Gaumen so spannend wie har-
monisch zueinander. Ob man seinen Stil
nun wahnsinnig oder mutig findet, un-
strittig ist, dass dieser Koch einen fulmi-
nanten Aromenbaukasten im Kopf hat.
Schnurr macht keinen Hehl daraus,
dass er viele Sterneköche für albern gravi-
tätisch hält. Er hat seit Jahren nicht bei
Kollegen gegessen. Bei seinem letzten
Drei-Sterne-Menü verlangte er vorzeitig
die Rechnung und sagte: „Sechs Stunden
und kein Ende? Das ist nicht euer Ernst!
Eure Pralinen könnt ihr selber essen.“
Damals habe es bei ihm „Klick ge-
macht“. Mit mehr als zweieinhalb Stun-
den Menü will er keinen behelligen. Seine
Gäste dürfen in Adiletten kommen, am
Tisch den Laptop aufbauen und beim Es-
sen telefonieren. Das passiert nicht oft,
aber gelegentlich. Als junger Koch hätte
ihn das beleidigt, sagt Schnurr, heute sei
das okay. Niedrigschwellig soll sein Lokal
sein. Er hat einen Gemeinschaftstisch auf-
gestellt, mit einem Schnuppermenü
(99 Euro) und einem Gourmetmenü für
Gäste bis 35 Jahre (144 Euro). Sein Somme-
lier ist auf ostdeutsche Weine speziali-
siert. Zudem ist das Falco das einzige deut-
sche Sternerestaurant, in dem einmal im
Monat ein DJ zur Clubnacht auflegt.
In Leipzig kommt das offenbar gut an.
Auch kann ein Spitzenrestaurant dazu bei-
tragen, die Entwicklung der Gastronomie
einer Stadt zu beflügeln, wie Lisa Anger-
mann beweist. Die Köchin hat bei Schnurr
gelernt und sechs Jahre im Falco gearbei-
tet, bis sie bei der Sat.1-Kochshow „The
Taste“ gewann und Ende 2018 mit dem
„Frieda“ ein eigenes gehobenes Lokal er-
öffnete. „Seitdem sind wir fast jeden Tag
ausgebucht“, sagt Angermann. Noch vor
zehn Jahren habe es unterhalb der Spit-
zenküche kaum gute Restaurants in der
Stadt gegeben, doch zuletzt hätten immer
mehr junge Leute mit Ideen Lokale eröff-

net. „Die Leipziger sind neugierig und
nicht so gelangweilt wie die Berliner“, sagt
Angermann. Im November hat das Maga-
zinFeinschmeckerdie besten Konzepte vor-
gestellt. Titel: „Spaß im Osten? Leipzig!“
Im Falco ist es inzwischen später Nach-
mittag, der Service deckt die Tische ein,
was nicht allzu aufwendig ist; Decken gibt
es nicht, Schnurr hat sie ersetzen lassen
durch weiße Milchglasplatten als ironische
Anspielung auf den überkommenen Pomp
des Fine Dinings. Der Koch hat jetzt zwei-
einhalb Stunden geredet und sich selten un-
terbrechen lassen. Er scheint es zu genie-
ßen, das Klischee vom Dieter Bohlen der
Spitzenküche zu bedienen, nur um ihm im
nächsten Moment nicht zu entsprechen. Er
kann wie ein Berliner Bling-Rapper klin-
gen („Wäre ich Mechaniker geworden, wäre
ich heute bei Ferrari, nicht bei Opel.“) – und
danach von seiner bürgerlichen Herkunft
erzählen. Der Vater, Sparkassendirektor
und Hobbygourmet, hätte es gern gesehen,
dass Schnurr Banker geworden wäre. Die
Mutter fand Tischkultur so wichtig, dass
die Kinder zu Hause täglich zwischen meh-
reren frisch zubereiteten Gerichten wählen
durften: Suppe? Fisch? Apfelküchle?
Als Gastgeber heißt Schnurr jeden will-
kommen, aber er trinkt nie mit Gästen, und

er lässt sich siezen. Augenhöhe ist eine Art
Obsession von ihm. Ein Leipziger Millionär
warf ihm im Eröffnungsmonat mal seine
Kreditkarte vor die Füße und rief: „Buch
ab, was du willst, aber in zehn Minuten hab
ich den Laden für mich allein.“ Der Koch
antwortete: „Sie kriegen das Restaurant
auch für einen Monat, aber nicht so. Reser-
vieren Sie gefälligst im Voraus, und brin-
gen Sie ordentlich Knatter mit.“ Der Millio-
när war begeistert. Bis heute kommt er
30-mal im Jahr. Er ist Schnurrs Lieblings-
stammgast. Neben einer pensionierten Leh-
rerin, die regelmäßig aus Stuttgart anreist.
Blickt man von den Tischen im Falco auf
die Stadt, in der nun langsam die Lichter an-
gehen, dann hat sie etwas Glamouröses.
Goethe hat Leipzig im „Faust I“ als „ein
klein Paris“ bezeichnet. Es war ironisch ge-
meint. Doch die Leipziger taten das einzig
Richtige: Sie ignorierten den Spott und tru-
gen das Zitat zu Markte, auf dass die Leute
in „Auerbachs Keller“ strömten.
200 Jahre später bringt auch Peter Ma-
ria Schnurr für die Leipziger ein bisschen
Paris auf den Tisch. Es ist ein Paris, wo der
Koch Jogginghose trägt und der Gast laut
rufen darf, dass der Hummer „geil“ ist. Ein
Paris, wo man in Adiletten George Clooney
oder Christine Lagarde begegnen könnte.

Falco, Peter Maria Schnurrs avantgar-
distischeAromenküche lockte schon
Gäste wie George Clooney an den
Tisch; auch der Blick über die Stadt
lohnt, Gerberstr. 15,t0341/9882727

Stadtpfeiffer, weltstädtisches Gour-
metrestaurant im Gewandhaus und in
Leipzig schon länger ein Klassiker; Au-
gustusplatz8 ,t03041/2178920

Frieda, feine wie unkomplizierte Bistro-
nomie-Küche von „The Taste“-Siege-
rin Lisa Angermann, Menckestraße
48-50,t0341/56108648

Max Enk, deutsch-mediterrane Küche
im wunderbar lichten Innenhof des frü-
heren Messehauses, Neumarkt 9-19,
t0341/99997638

Chinabrenner, hippes, authentisches
Chinarestaurant mit guter Szechuan-
küche in einer früheren Metallgießerei
im einstigen Industrieviertel Plagwitz,
Gießerstr. 18,t0341/2409102

Chateau 9, Weinbar mit guter Küche,
die auch tagsüber Kleinigkeiten bietet;
Dresdner Str. 3-5,t0341/30857400

Hummer?


Geil!


Mit großer Klappe und


am liebsten in Jogginghose:


Wie Peter Maria Schnurr


Leipzig zum wichtigsten


Gourmetziel im Osten machte


Schnurrs Restaurant ist
das höchstbewertete im
Osten. Seine avantgardisti-
schen Teller sind dem
Michelin zwei Sterne wert.
FOTOS: PICTURE ALLIANCE/DPA, RALF
MÜLLER / VG BILDKUNST, BONN 2019

DEFGH Nr. 259, Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019 30 JAHRE FALL DER MAUER 63


Peter Maria Schnurr kocht seit 15 Jahren im „Falco“. Im Barbereich des heutigen Lokals logierte früher der „Club 27“ , wo die Stasi Westgäste aushorchte. FOTO: JAN WOITA/DPA

SZ-Grafik: Sara Scholz; Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutscher Brauer-Bund e.V.

BIERKONSUM PRO KOPF


102 Liter
bundesweit

2018

143 Liter
Westdeutschland

146 Liter
Ostdeutschland

1989

1990

Gut essen in Leipzig


Sauberer Sieg!

Mit der Gesamtnote „GUT“ (Note 1,6) ist die Waschmaschine
WDB 330 WPS SpeedCare Testsiegerin. Zitat der Stiftung Warentest:
„Sie punktet in der Handhabung und schafft im Sparprogramm die
höchste Temperatur im Test.“

Miele. Immer Besser.
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