von martin bernstein
D
as Straßenschild am westli-
chen Beginn der Von-Kahr-
Straße hat eine erklärende Zu-
satztafel: „Dr. Gustav von
Kahr, 1833 - 1905, Präsident
des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes“
steht da. Die vierspurige Magistrale
durch den Münchner Westen ist demnach
also nicht nach einem zum Umsturz berei-
ten Antidemokraten, aktiven Feind der
Weimarer Republik und dezidiert antise-
mitisch handelnden Ministerpräsidenten
und bayerischen Kurzzeit-Diktator be-
nannt. Also nicht nach dem „General-
staatskommissar“ der Jahre 1923 bis
- Sondern nach dessen gleichnami-
gem Vater, dem einstigen Präsidenten des
Verwaltungsgerichtshofs und Ehrendok-
tor der Medizin. Oder ist es doch anders?
Wie so oft, wenn es um den Umgang
mit umstrittenen Personen der jüngeren
Geschichte geht, lohnt sich ein genaueres
Hinschauen. Der Fall der Untermenzin-
ger Von-Kahr-Straße zeigt nämlich exem-
plarisch, wie schwer es einer Stadtverwal-
tung fallen kann, einmal getroffene Fehl-
entscheidungen zu revidieren, wenn Maß-
stäbe fehlen. Und wie peinlich es ist, wenn
es dabei ausgerechnet um den Vorwurf
des Antisemitismus geht.
Die Von-Kahr-Straße war ursprüng-
lich tatsächlich beiden gewidmet, Vater
undSohn Gustav von Kahr. Die Benen-
nung erfolgte 1947, wer sie angeregt hat,
ist nicht mehr nachzuvollziehen. In dersel-
ben Zeit wurden fast 200 Münchner Stra-
ßen, die nach Personen und Motiven der
NS-Herrschaft benannt gewesen waren,
„entnazifiziert“, wie sich Richard Bauer,
der frühere Leiter des Stadtarchivs, 1994
im Vorwort zum Münchner Straßenna-
menbuch ausdrückte. Es sei die größte
Umbenennungsaktion der Stadtgeschich-
te gewesen, schrieb Bauer – weil zugleich
650 unpolitische Straßennamen umge-
widmet wurden, um Doppelungen zu ver-
meiden. Darunter war auch die Müller-
straße in Untermenzing. Von Kahr (Sohn)
schien ein geeigneter Namenspatron zu
sein, hatte er doch 1923 den Hitlerputsch
niederschlagen lassen und war als Rache
dafür 1934 von den Nazis im KZ Dachau er-
mordet worden.
Gegen diese Benennung der Straße reg-
te sich indes Widerstand – und zwar im
Stadtviertel selbst. Der damalige zweite
Vorsitzende der Bürgervereinigung Ober-
menzing, Hans Rieger, plädierte für die er-
neute Umbenennung. Es sei „paradox“,
befand er, dass ein demokratisches Ge-
meinwesen einen ausgesprochenen Geg-
ner der Demokratie ehre. „Man lasse sich
nicht davon täuschen, daß von Kahr zu Be-
ginn des Dritten Reiches umkam“,
schrieb Rieger 1963 an den Untermenzin-
ger Bezirksausschuss, nachdem ein ers-
ter Vorstoß Jahre zuvor ungehört verhallt
war. Kahr sei bis zum Putschversuch ein
Verbündeter Hitlers gewesen, so Rieger.
Heute weiß man: Kahr und Hitler waren
Konkurrenten, die im selben trüben, völ-
kisch-antisemitischen Milieu fischten.
Kahr hatte „Ostjuden“ ausweisen lassen,
hatte sich von der Reichsregierung losge-
sagt, hegte selbst Umsturzpläne. Mit sei-
nem Putschversuch wollte Hitler seinen
Rivalen ausstechen.
Im Dezember 1963 schloss sich der Be-
zirksausschuss Riegers Antrag an – ein-
stimmig, wie aus den Akten hervorgeht.
Die Stadtteilpolitiker betonten außer-
dem: „Wir sind nicht dafür, daß die Stra-
ßenbezeichnung (...) nur für den bereits
1905 verstorbenen Gustav von Kahr wei-
terbestehen soll.“ Denn „das Publikum“
werde auf jeden Fall „immer nur“ an den
ehemaligen Generalstaatskommissar
denken.
Doch genau das passierte dann offen-
bar. Seit 1964 sei nur noch der Vater Na-
menspatron der Straße, bestätigt Andre-
as Heusler vom Stadtarchiv, der seit drei
Jahren im Auftrag des Stadtrats Münch-
ner Straßennamen und ihre möglichen
historischen Belastungen untersucht.
Heusler erklärt auf Nachfrage: „Bereits da-
mals wurde die Benennung nach Gustav
von Kahr jr. als problematisch einge-
stuft.“ Allgemeine Einsicht war das je-
doch keineswegs. So schrieb der damalige
Archivdirektor Michael Schattenhofer
1964 an die Stadt, Kahr junior habe „zu
den verdienstvollsten Mitbegründern
bayerischer Heimatpflege“ gehört, sei
von „einem hohen Berufsethos und unbe-
dingter Achtung vor dem Recht erfüllt“ ge-
wesen. „Kein ernsthafter Historiker“, so
Schattenhofer weiter, werde Kahr den Vor-
wurf machen, dass dieser ein Gegner der
Demokratie gewesen sei. Bei diesem ekla-
tanten Fehlurteil mag die Erinnerung an
den eigenen Doktorvater dem Archivdi-
rektor die Feder geführt haben. Schatten-
hofer war 1944 bei Karl Alexander von
Müller promoviert worden. Müller war
am 8. November 1923 als Besucher der
Kahr-Versammlung Augenzeuge des Hit-
lerputsches gewesen und soll am Folge-
tag in der Universität dazu aufgefordert
haben, sich zu Ehren der toten Putschis-
ten für eine Schweigeminute zu erheben.
Ein Machtwort entschied dann den
Streit um die Von-Kahr-Straße – der Na-
me blieb, doch die Widmung sollte fortan
nur noch dem Vater gelten. „Die amtliche
Namenserläuterung wurde durch Verfü-
gung von Oberbürgermeister Hans-Jo-
chen Vogel entsprechend geändert“, bestä-
tigt Heusler. „Diese Verfügung wurde in
der Amtszeit von Oberbürgermeister
Christian Ude noch einmal bekräftigt.“ Of-
fenbar war diese Bekräftigung ebenso not-
wendig wie wirkungslos. In dem 1994 ver-
öffentlichten Buch „Die Münchner Stra-
ßennamen“, für das Oberbürgermeister
Ude und Archivdirektor Bauer Geleitwor-
te schrieben und das sich ausdrücklich
auf amtliche Veröffentlichungen der Jah-
re 1989 und 1993 bezieht, wurden weiter-
hin Vater und Sohn von Kahr gemeinsam
als Namensgeber der Straße genannt.
1996 startete Stadtrat Bernhard Fricke
deshalb einen neuerlichen Vorstoß: Man
solle die Straße in Weiße-Rose-Straße um-
benennen, forderte er. Bemerkenswert ist
die Stellungnahme aus dem seinerzeit zu-
ständigen Vermessungsamt: „Wir ändern
äußerst selten Straßennamen, und wenn,
versuchen wir das größtmögliche Einver-
ständnis der Anwohner zu bekommen“,
hieß es. Schließlich seien enorme Kosten
allein mit dem Neudruck des Briefpapiers
verbunden. Oft behelfe man sich einfach
mit einer Umwidmung. „Bei alten Koloni-
alpolitikern, wie zum Beispiel bei der Von-
Trotha-Straße, haben wir einfach den Na-
menspatron durch das ganze Adelsge-
schlecht ersetzt.“
So einfach glaubte man also unliebsa-
me Geschichte entsorgen zu können. Bei
von Trotha schlug der Versuch fehl: Seit
2006 ist die Straße nach Trothas Opfern
benannt, dem südwestafrikanischen Volk
der Herero. Im Fall von Kahr blieb es bei
der Umwidmung – doch die wurde in der
Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Und
so wird etwa auf Wikipedia weiterhin un-
widersprochen die Straße dem juden-
feindlichen Bayern-Diktator zugeschrie-
ben.
Bittere Pointe: Gustav von Kahr junior
hatte seine Judenfeindschaft im eigenen
Elternhaus erlernt. Das schildert er selbst
in seinen Memoiren. Der Historiker Mi-
chael Brenner beschreibt in seinem Buch
„Der lange Schatten der Revolution“, wie
eine Köchin im Hause Kahr in Gunzenhau-
sen, damals eine Hochburg des Antisemi-
tismus, offenbar ungehemmt judenfeind-
lich hetzte. So erzählte sie laut von Kahr
„von den auf das Blut von Christenkin-
dern begehrlichen Juden“. Der „Schacher-
geist, wie wir Kinder ihn auch in Gunzen-
hausen da und dort bei Juden kennen lern-
ten, war mir widerlich“, schrieb von Kahr.
Die Frage bleibt, ob eine Familie mit derar-
tigem Gedankengut geeignete Patrone
für eine Straße hergeben kann. Gleichgül-
tig, ob Vater oder Sohn oder beide ge-
meint sind.
Antisemiten, Rassisten, Nationalsozialis-
ten: Sie sind da, mitten in der Stadt, auf
Münchner Straßen. Genauer: auf Münch-
ner Straßenschildern. Etwa 330 Straßen
in der Landeshauptstadt sind nach Perso-
nen, Orten oder Ereignissen benannt, die
einer Erklärung bedürfen. Und bei etwa
40 Straßennamen sieht das Stadtarchiv er-
höhten Diskussionsbedarf. Das ist das Er-
gebnis einer vor vier Jahren durch die SPD-
Fraktion angestoßenen ersten Prüfung
der Münchner Straßennamen durch das
Stadtarchiv. „Sorgfalt vor Schnelligkeit“
lautete die Devise der Experten.
Jetzt ist der Stadtrat am Zug – zunächst
der Ältestenrat, dem die Liste belasteter
Namen in nichtöffentlicher Sitzung vorge-
legt wurde. Insgesamt 6177 Münchner
Straßennamen wurden von den Wissen-
schaftlern fachlich evaluiert, davon stam-
men 723 Benennungen aus der Zeit vor
- Unter Federführung des Stadtar-
chivs wird noch dieses Jahr ein Experten-
gremium gebildet, zu dem neben zahlrei-
chen Fachleuten auch Vertreter der Stadt-
ratsfraktionen zählen werden.
„Das Gremium wird Empfehlungen
zum weiteren Vorgehen erarbeiten“, sagt
Birgit Unterhuber, Pressesprecherin des
Kommunalreferats. Entscheidungen wird
dann erst der im Frühjahr neu zu wählen-
de Stadtrat treffen. Es wird also wohl min-
destens noch ein Jahr vergehen, bis erläu-
ternde Tafeln für problematische Münch-
ner Straßennamen in Auftrag gegeben
werden können – und einige Straßen mög-
licherweise völlig neue Namenspatrone
bekommen.
Denn auch wenn immer wieder betont
wird, dass Umbenennungen nur die Ulti-
ma Ratio sein könnten: Es gibt sie, die
nach heutigem Wissensstand völlig un-
tragbaren Namenspatrone. Menschen,
die durch ihr Reden, Schreiben und Han-
deln in einem Maß gegen die Werte von
Demokratie und Menschenwürde versto-
ßen haben, dass ihre Ehrung durch ein
Straßenschild als Zumutung betrachtet
werden muss. Straßennamen also, die we-
der durch den vom Stadtarchiv erhofften
öffentlichen Diskurs noch durch differen-
zierte Erläuterungen „geheilt“ werden
können. Die in München nichts mehr zu
suchen haben.
Auch wenn dem Ergebnis der Experten-
kommission niemand vorgreifen will: Die
Hilblestraßein Neuhausen ist ein vorran-
giger Kandidat für eine Umbenennung.
Stadtarchiv und Bezirksausschuss haben
bereits früher erklärt, die Namensände-
rung sei unumgänglich. Friedrich Hilble
war während des NS-Regimes zeitweise
Leiter des städtischen Wohlfahrtsamts. Er
verweigerte Juden die Sozialhilfe und stuf-
te Bedürftige als „arbeitsscheu“ ein – was
deren Deportation in Konzentrationsla-
ger bedeutete. Die 500 Meter lange Straße
hatten ihren Namen nicht etwa während
der Nazi-Herrschaft bekommen: 1956
wurde Hilble als geeigneter Straßenpate
angesehen. Weil eine Namensänderung
seit Jahren auf sich warten lässt, platzte
Mitgliedern des Bezirksausschusses Ende
Mai der Kragen. Sie strichen „Hilblestra-
ße“ durch und brachten ein neues Schild
an. Maria-Luiko-Straße soll dort künftig
stehen, der Künstlername der Malerin Ma-
rie-Luise Kohn, die 1941 von den Nazis ver-
schleppt und ermordet wurde.
Heftig diskutiert wird seit Jahren auch
über die Moosacher Treitschkestraße
(1960 benannt nach dem antisemitischen
wilhelminischen Historiker Heinrich von
Treitschke), dieAlois-Wunder-Straßein
Pasing (1978 benannt nach dem letzten Pa-
singer Oberbürgermeister, einem Mann
mit NS-Vergangenheit) oder dieTeuchert-
straßein Trudering. Sie war 1936 von den
Nationalsozialisten so benannt worden –
in Erinnerung an ein 1919 während der Rä-
terepublik ermordetes Freikorps-Mit-
glied mit Verbindungen zur rechtsextre-
mistisch-antisemitischen Thule-Gesell-
schaft. Das gleiche gilt für dieHella-von-
Westarp-und dieDeikestraße. „Nach
1945 sah man keine Veranlassung, die nati-
onalsozialistischen Straßenbenennungen
zu korrigieren“, so die Stadtverwaltung.
Die meisten in der Nazi-Zeit vergebe-
nen Namen wurden unmittelbar nach
dem Krieg „rückabgewickelt“, hieß es
2016 aus dem Kommunalreferat. „Aller-
dings fiel auch eine Reihe von problemati-
schen Straßen durch das eher weitmaschi-
ge Entnazifizierungsraster.“ Etwa die
Trautmannstraße. Sie ist bis heute dem
1936 gestorbenen Kulturhistoriker Karl
Trautmann gewidmet. Ursprünglich aber
war sie nach dem Dichter Franz Traut-
mann benannt gewesen. Dessen jüdische
Herkunft genügte den Nazis, um ihn noch
50 Jahre nach seinem Tod auszulöschen.
Einzelne eklatante Fehlbenennungen
- die meisten erst aus der Zeit nach 1945 –
wurden in den Jahren vor dem Stadtrats-
beschluss korrigiert, zuletzt 2015. Paul de
Lagarde, ein Kulturphilosoph, der Juden
als „Trichinen und Bazillen“ bezeichnete,
hat als Namenspatron ebenso ausgedient
wie der Staatsrechtler und NS-Diplomat
Friedrich Berger. Doch was soll mit den
vielen anderen belasteten Straßen passie-
ren? Mit dem antisemitischen Kultur-
schriftsteller als Namenspatron, dem Ko-
lonialoffizier, dem Künstler, der für Nazis
malte, baute, musizierte? Was mit einem
politischen Dichter wie Ernst Moritz
Arndt, der Juden als „fremden Auswurf“
beschimpfte und dem eine Straße in der
Isarvorstadt gewidmet ist?
In manchen Fällen werden kurze Hin-
weistafeln genügen, um die Problematik
aufzuzeigen. Am Ende aber müsste ein öf-
fentlich zugängliches Verzeichnis aller
Straßennamen im Internet stehen – in
dem dann die Verdienste, aber auch die
dunklen Flecken des jeweiligen Namens-
patrons dargestellt werden. Erst dann
kann die Diskussion stattfinden, die Ex-
perten wie Andreas Heusler vom Stadtar-
chiv so wichtig ist. Über Straßennamen,
die wie im Haidhausener „Franzosenvier-
tel“ den Militarismus oder wie in Trude-
ring und Bogenhausen den Kolonialismus
verherrlichen. Auch Namen, die im Jahr
2019 nicht mehr vergeben würden, kön-
nen Spuren der Zeitgeschichte sein, die
man nicht in einer groß angelegten erinne-
rungspolitischen Flurbereinigung ohne
Weiteres aus dem Stadtplan tilgen sollte.
Unkommentiert stehen lassen kann man
sie aber auch nicht.
„Man muss Bewusstsein schaffen“,
sagt Heusler. Viel Arbeit also für die künfti-
ge Expertenkommission und für den
Stadtrat, der in jedem Fall das letzte Wort
haben wird. Viel Raum aber auch für öf-
fentliche Debatten und bürgerschaftli-
ches Engagement – wie in der Hilblestra-
ße, die wohl bald anders heißen wird.
martin bernstein Kommentar
von martin bernstein
N
ichtwissen kann so angenehm
sein. Zum Beispiel, wenn man in ei-
ner der Münchner Straßen wohnt,
deren Namenspatron ein Judenhasser,
ein völkischer Hetzer, ein rassistischer Ko-
lonialoffizier ist. Was ich nicht weiß ...
Doch dann liest man Sätze aus der Feder
von Männern, die in München mit Stra-
ßennamen geehrt werden. Sätze wie „Die
Juden sind unser Unglück!“ oder „Und der
Jud’ ... tiefverderbt und seelenlos“ oder
über „das unwillkürlich Abstoßende, wel-
ches die Persönlichkeit und das Wesen der
Juden für uns hat“. Man ist fassungslos
und hat nur den einen Wunsch: Weg mit
diesen Straßenschildern! Oder?
Ja, wenn es nur so einfach wäre. Das ers-
te Zitat stammt vom Historiker Heinrich
von Treitschke, Urheber des Antisemitis-
mus-Streits von 1880 und ein übler Het-
zer – hier mag die Antwort auf die Frage,
ob sein Name verschwinden soll, noch
leicht erscheinen. Das zweite Zitat aber
stammt aus der „Frommen Helene“ von
Wilhelm Busch. Und der Mann, der Juden
„abstoßend“ fand, hieß Richard Wagner.
So, und nun? Treitschke wird als Namens-
patron wohl verschwinden. Aber Busch?
Wagner? Und was tun mit einem mediok-
ren, in seiner Zeit aber höchst einflussrei-
chen und eben auch antisemitischen
Schriftsteller wie Julius Langbehn, dem in
Hadern eine Straße gewidmet ist? Weg da-
mit wie mit der nahen Paul-Lagarde-Stra-
ße? Oder lassen und erklären? Das passt
auf keine Zusatztafel. Und um es noch
komplizierter zu machen, kommt dazu oft
der Wunsch vieler Anwohner, alles so zu
lassen, wie es ist.
Stadtrat und Experten werden es oft
nicht allen und vermutlich in manchen
Fällen niemandem recht machen können.
Weil es nicht einfach ist, eine rote Linie zu
ziehen, auch wenn der Stadtratsbeschluss
genau diese Hoffnung geweckt hat: „Ent-
nennung zwingend – denkbar – nicht not-
wendig“ ist dort alternativ formu-
liert. Keine Frage: Verbrecher, Schreib-
tischtäter, Anstifter haben auf Straßen-
schildern nichts zu suchen. Punkt. Es gibt
aber auch die anderen, die im Zwielicht.
All diese Straßen umzubenennen würde
nur den Geschichtslosen in die Hände spie-
len. Auch historisch problematische Schil-
der könnten Wegweiser einer Stadtgesell-
schaft sein. Legitim sind sie aber nur
dann, wenn sie den Blick in die Abgründe
nicht verstellen, sondern freigeben.
Die Judenfeindschaft
wurde schon im Elternhaus
ungehemmt geäußert
KOMMENTAR
Hinsehen, auch wenn’s weh tut
In manchen Fällen reichen
Hinweistafeln, in anderen
muss der Name verschwinden
Straßennamen
informieren, erinnern
und ehren (...)
Straßennamen sind aber
auch ein Fenster in die
Vergangenheit (...)
Die Beurteilung
der Verdienste
einer Person ist jedoch
stets zeitgebunden.“
Stadtratsvorlage 2016
Gustav von Kahr starb
im KZ Dachau, war aber
selbst Antisemit.FOTO: SCHERL
Ehre, wem
Schande gebührt
Gustav von Kahr war Antisemit,
er ließ „Ostjuden“ ausweisen und wollte
die Regierung stürzen. Dennoch gibt es in
München bis heute eine Von-Kahr-Straße.
Wie kann das bloß sein?
„Sorgfalt vor Schnelligkeit“
6177 Straßennamenwurden auf ihre Geschichte hin überprüft
IM NAMEN DER FALSCHEN
Bis zum heutigen Tag gibt es in München Straßenschilder, die an Judenfeinde und Rassisten erinnern.
Der Umgang mit diesem Erbe ist oft komplizierter, als man zunächst denkt
FOTOS: ROBERT HAAS, CATHERINA HESS, FLORIAN PELJAK (2), CORINNA GUTHKNECHT, CLAUS SCHUNK, DPA
R2 THEMA DES TAGES – Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH