Süddeutsche Zeitung - 09.11.2019 - 10.11.2019

(Greg DeLong) #1

Grainau– Deutschlands höchste Umwelt-
forschungsstation, das Schneeferner-
haus auf der Zugspitze, soll erweitert wer-
den. Sie solle zu einem „internationalen
Klimathermometer“ ausgebaut werden,
kündigte Bayerns Umweltminister Thors-
ten Glauber (Freie Wähler) am Freitag an-
lässlich des 20-jährigen Bestehens der
Station an. „Wir müssen den Klimawan-
del verstehen, um die richtigen Maßnah-
men zu ergreifen“, sagte der Minister.
„Unabhängige Klimaforschung ist ele-
mentar wichtig.“ Die Umweltforschungs-
station spiele eine besondere Rolle. In
den Alpen sehe man den Klimawandel
wie unter einem Brennglas. Seit 2005 hat
die Staatsregierung die Station mit gut
zehn Millionen Euro gefördert. Für die Re-
alisierung von Forschungs- und Infra-
strukturprojekten seien weitere 3,3 Milli-
onen Euro vorgesehen. dpa


von johann osel

D


en schönsten Tag im Leben ha-
ben sie dort unten womöglich,
vor dem alten Rathaus in In-
golstadt. Das Brautpaar war-
tet gelassen, nervös wirken ei-
ne Trauzeugin im Blumenkleid und ein äl-
terer Herr, mutmaßlich Vater, der wild mit
dem Handy knipst. Gleich geht’s zum Stan-
desbeamten. Das wird heute ein Kollege
von Claus Lukas sein. Lukas, stellvertre-
tende Leiter des Standesamts Ingolstadt,
sitzt umgeben von Aktenstapeln in seinem
Büro im zweiten Stock des neuen Rathau-
ses, Zweckbau. Wenn man sich verrenkt
beim Blick aus den Fenstern, sieht man die
feierliche Kulisse unten. Sie wechseln sich
ab bei den Trauungen, alle im Team sollen
mal dürfen. Oder müssen, je nach Definiti-
on. Claus Lukas mag das Verheiraten und
wenn Paare sich bedanken und erkennen,
dass er sich Gedanken gemacht hat, „dann
geht das runter wie Öl“. Was er nicht so
mag: darauf reduziert zu werden. Die wie-
derkehrende Frage von Bekannten oder
manchmal von Journalisten, ob schon mal
einer Nein gesagt hat im letzten Moment,
kann er kaum mehr hören.
Tatsächlich sind die Eheschließungen
nur ein Bruchteil der Arbeit, mit der es der
Stand der Standesbeamten zu tun hat. Die
Akten im Büro zeugen davon, da liegen vor
allem Sachverhalte, bei denen etwas nicht
klappt, stockt oder in Zweifel steht. Wo Vä-
ter nicht eingetragen werden können, wo
Identitäten unklar sind, Nachforschungs-
bedarf besteht, sogar Schmu im Spiel sein
könnte. Oder die Mappen mit Fällen von
Kinderehen von Flüchtlingen. Eine Sache,
die in den Migrationsdebatten den Puls-
schlag vieler Leute hochtreibt, für die aber
letztlich genau dasselbe gilt, wie für alles
im „Personenstandswesen“: das korrekte
Beurkunden dessen, was belegbar und ge-
setzlich ist. Gründlichkeit.
In Bayerns Städten und Gemeinden ar-
beiten 3700 Standesbeamte. Jeweils gut
130000 Geburten und Sterbefälle hatten
sie zuletzt im Jahr zu beurkunden, 68 000
Eheschließungen und gleichgeschlechtli-
che Partnerschaften. Beurkundung, klingt
dröge – so ist es um das Image der Zunft be-
stellt. Schon immer wohl. „Es kommt der
Standesbeamte gemächlich die Treppe
herauf, um sein ewig gleiches Tagespen-
sum zu erledigen“, berichtet eine alte Jour-
nalnotiz Ende des 19.Jahrhunderts; da gab
es den Beruf erst ein paar Jahrzehnte. An-
bieter von Hochzeitslocations spotten in
der Werbung über muffige Amtszimmer
und angeblich unmotivierte Beamte, die
„lustlos ihre drei Goethe-Gedichte raus-
hauen“. Lukas, der sich im Fachverband
der bayerischen Standesbeamten enga-
giert, meint: „Wir müssen weg vom Ellen-
bogenschonerklischee.“ In der Öffentlich-
keit sei unbekannt, wie vielfältig der Beruf
sei. Entwicklungen in der Gesellschaft fän-
den sich im Standesamt wieder: Individua-
lisierung, Migration, Globalisierung.
Seit knapp fünf Jahren ist Lukas Stan-
desbeamter. Lässt man sich von ihm den
Beruf erklären, kommt fast eine Universi-
tätsvorlesung. Er spricht viel und detailver-
liebt, gestikuliert dabei. Womit hat er es al-
so zu tun? Bekannt sind neben der Beur-
kundung von Geburt, Heirat und Tod die
Kirchenaustritte (in Ingolstadt wie andern-
orts steigend). Oder das Thema Vornamen-
wahl, das oft Schlagzeilen macht, weil El-
tern persönliche Extravaganzen ausleben.
Neulich ging in einem bayerischen Stan-
desamt die Indianertochter Pocahontas
durch. Lukas prüft bei exotischen Vorna-
men, ob sie vertretbar sind. Das „Stecken-
pferd“ des Ingolstädter Beamten ist Nach-
beurkundung von Auslandsgeburten.
Dabei hat er es oft mit fremdsprachigen
Dokumenten zu tun, mit anderem Abstam-
mungs- und Sorgerecht, mit abweichen-
den Namensführungen wie irakischen Ket-
ten mit Vornamen von Vater und Großva-
ter anstelle des Zunamens. Es kann sich
aber auch um deutsche Audi-Mitarbeiter
in Südamerika oder sonstwo handeln. Ak-
tuell berät er eine Gemeinde, es geht um
fünf in Japan geborene Kinder, die der
deutsche Vater nachbeurkunden lassen
will. Die Causa ist ein Konvolut mittlerwei-
le. „Ich kann nicht einfach irgendwas beur-
kunden.“ Beurkundungen gelten ein Le-
ben lang, und länger, Thema Erbe. Wenn

ein Beamter längst in Rente ist, kann sich
seine Arbeit noch gravierend auswirken.
„Globalisierung macht vor dem Stan-
desamt nicht Halt“, heißt es beim Fachver-
band. Anfang der Fünfziger hatten wenige
Prozent der Beurkundungen Auslandsbe-
zug; inzwischen seien es in Ballungszen-
tren mitunter mehr als die Hälfte. Doch
selbst in kleinsten Standesämtern brau-
che man neue Kenntnisse. Experten im
Verband stehen der Basis zur Seite.
Der Weg in den Beruf ist verhältnismä-
ßig einfach: Lukas schlug die Laufbahn
des gehobenen Verwaltungsdienstes ein,
hat dann im Rathaus gearbeitet. Nach ei-
nem Kurs und einer Praxisphase wird man
„bestellt“. Inklusive Fortbildungspflicht,
um die Bestellung zu erhalten. Sie ist auch
nötig wegen ständig neuer Regeln und Ur-
teile. Der Fachverband schult in Semina-
ren und alle zwei Jahre bei einer Tagung.
Die jüngste Tagung, Alte Kongresshalle
in München. Hunderte bayerische Standes-
beamte tummeln sich dort, dazu Professo-
ren, Richter, Behördenvertreter. Im Ple-
num wie an den Kaffeetischen geht es um
so ziemlich alles außer Hochzeitskitsch:
Neuerungen im internationalen Urkun-
denverkehr, Geschlechtseintrag bei Inter-
sexuellen, Leihmutterschaften. Lukas ist
mittenmang, referiert über: Nachbeurkun-
dungen von Auslandsgeburten, klar. Ein
anderer Vortrag heißt: „Der Standesbeam-
te als heimlicher Volljurist.“ Man mag das
nicht bestreiten. Innenminister Joachim
Herrmann ist auch da und lobt: Der Ver-
band werde weiter „die Umsetzung aktuel-
ler gesellschaftspolitischer Umbrüche“ be-
wältigen. Und der CSU-Politiker spricht
über Kinderehen: „Kinder gehören in die
Schule und auf den Spielplatz, nicht vor
den Traualtar.“ Das Gesetz gegen Kinder-
ehen von 2017 sieht vor, dass im Ausland
geschlossene Ehen nichtig sind, wenn ein
Partner unter 16 Jahre alt ist. Bei 16- bis
18-Jährigen müssen sie bestätigt werden,
sie können aber auch annulliert werden.
Derzeit liegt das Gesetz aber beim Bundes-
verfassungsgericht. Es ist ein heißes The-
ma unter den Standesbeamten.

Der Berufsstand, der beim Heiraten Ja-
Worte entgegennimmt, muss im Zweifel
Nein sagen. „Passt schon, trag’ ich einfach
ein, das gibt es nicht“, betont Lukas immer
wieder. „Asylbewerberfälle brauchen oft
Zeit. Besser als schnell-schnell.“ Heißt ei-
ner wirklich so, stimmt die Herkunft? Sind
Papiere aus Staaten, die „kein sicheres Ur-
kundenwesen“ haben, verlässlich? Muss
er einen syrischen Pass polizeilich prüfen
lassen? Gibt es vorherige Ehen, auch wenn
sie nach einem afrikanischen Ritus ge-
schlossen ist? Das kann relevant werden,
wenn etwa Migrantinnen aus dem Flücht-
lingszentrum im nahen Manching im örtli-
chen Klinikum entbinden. „Wir beurkun-
den Tatsachen, keine Vermutungen. Ich
unterschreibe mit meinem Namen und ste-
he dafür ein, dass die Urkunde so stimmt.“
Lukas kann im Extremfall vom Ingol-
städter Schreibtisch aus Konsulate kontak-
tieren und weltweit Recherchen anstoßen:
um die Echtheit von Urkunden bei Behör-
den im Ausland bestätigen zu lassen. Oder
es wird, ein Beispiel, ein Anwalt in ein afri-
kanisches Dorf geschickt, zeigt Fotos einer
Person und verifiziert die Identität. Lukas
sieht im Job „detektivische“ Ansätze. „Lö-
sungen sind auch mal grau, nicht schwarz
oder weiß, nachdem man die Fälle aufge-
schlüsselt hat.“ Nichts Menschliches sei
ihm fremd, wie Scheinvaterschaften. Oder
Scheinehen. Da kann es zur Scheinehebe-
fragung kommen. Seine „Tricks“ dabei ver-
rät der Beamte nicht, „meine Munition“.
Fröhliche Brautpaare, glückliche El-
tern, zufriedene Bürger – so leicht ist es
nicht in dem Beruf. Schicksalsschläge wie
Totgeburten kommen dazu. Ein Ausgleich
für die aufreibenden, auch traurigen Sei-
ten? Vielleicht eben Hochzeiten. Also doch
die Frage: Hat einer Nein gesagt? „Bei mir
nicht.“ Aber falls doch, wäre das ein norma-
ler Verwaltungsvorgang. Es handele sich
um eine Willenserklärung wie bei einem
Vertrag. Der komme durch Ablehnung
nicht zustande. Nichts zu beurkunden.

Schneefernerhaus


wird erweitert


Fürth –Seit der Wende sind fast eine Mil-
lion Menschen aus den ostdeutschen Bun-
desländern nach Bayern gezogen. Umge-
kehrt wechselten laut Landesamt für Sta-
tistik rund 494000 Menschen in diesem
Zeitraum aus Bayern in den Osten. Die
meisten Menschen – etwa 77000 – ka-
men im Jahr der Wiedervereinigung



  1. Seit 2016 wechseln etwas mehr
    Menschen von Bayern in die Ostländer
    als umgekehrt. Als möglicher Grund gel-
    ten die verbesserten Jobaussichten bun-
    desweit. Berlin wurde nicht mitgezählt,
    da die Statistik nicht zwischen Ost- und
    West-Berlin unterscheidet. dpa


Bamberg– „Wie macht die Kuh? Muh!“
Mit derlei Fragen und Tiergeräuschen
müssen sich viele Kleinkinder auseinan-
dersetzen, sobald ihnen Bilderbücher vor
die Nase gehalten werden. Bei manchem
bleibt der Bauernhof im Buch einziger Be-
rührungspunkt mit echtem Landleben.
Klischees von Stadtkindern, die an lila Kü-
he glauben, und Landkindern, die im Tru-


bel überfordert sind, halten sich hartnä-
ckig. Die Otto-Friedrich-Universität in
Bamberg geht dem nach und zwar mit
Studenten, die unbefangener sind als Er-
wachsene. Die nächste Vorlesung der Kin-
deruni am Samstag, 16. November, unter-
sucht die Unterschiede im Lebensraum
von Landeiern und Stadtpflänzchen. Un-
ter dem Titel „Stadt und Land: Wo findet
man beide und wie lebt man dort?“ be-
sprechen die Geografen Marc Redepen-
ning und Anne Allmrodt mit Kindern, wie
das Leben heute so ist auf dem Land und
in der Stadt. Eltern müssen wie immer
draußen bleiben. angu


Bamberger Kinderuni für Neun- bis Zwölfjährige,
Hörsaal MG1/00.04, Markusstraße 8a. Die Vorle-
sung beginntum 11 Uhr, der Eintritt ist frei.


„Passt schon, trag’ ich einfach ein, das gibt es nicht“, sagt der Ingolstädter Standesbeamte Claus Lukas. Er arbeitet im
Trauungssaal, aber vor allem im Büro. Für den Fototermin hat er seinen Schreibtisch aufgeräumt. FOTOS: OLIVER STRISCH

Eine Million Bürger


aus Ostdeutschland


Popel,das Maskottchen der Bamberger
Kinderuni, ist laut Thorsten Trantows
Zeichnung ein Stadtkind.FOTO: UNI BAMBERG


Von Landeiern und


Stadtpflänzchen


Die Welt zu Gast im Amt


Der Beruf der Standesbeamten bedeutet viel mehr als glückliche Ehepaare.
Auf ihrem Tisch landen internationale Urkunden und manchmal dreiste Schwindeleien

Vom Ingolstädter Schreibtisch
aus können sogar Recherchen
in Afrika angestoßen werden

BAYERN-TIPP


R16 BAYERN – Samstag/Sonntag, 9./10. November 2019, Nr. 259 DEFGH


Die Referenten und ihre Themen:


Grußwort


Prof. Dr. Reinhard Hickel, Dekan der medizinischen Fakultät der LMU und


Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie


Wann zahnärztliche Implantate sinnvoll sind


Prof. Dr. Dr. Michael Ehrenfeld, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und


Gesichts chirurgie, LMU Klinikum


Implantate bei reduziertem Kieferknochen


PD Dr. Dr. Gerson Mast, Leitender Oberarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und


Gesichtschirurgie, LMU München


Implantatversorgung mit Kronen, Brücken und Prothesen


Prof. Dr. Daniel Edelhoff, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik, LMU München


Eine gemeinsame Veranstaltung der LMU München und des Gesundheitsforums der Süddeutschen Zeitung


Dienstag, 12. November 2019, 19 Uhr | Hörsaal der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten, Klinikum der Universität München, Goethestraße 70 | Der Eintritt ist frei


Zahnimplantate – meist eine große Hilfe, manchmal eine Qual


Weitere Informationen unter

sz-veranstaltungen.de

Implantatpflege: Wie man Entzündungen vermeidet


Prof. Dr. Dr. Matthias Folwaczny, Leiter der Sektion Parodontologie,


LMU München


Komplikationen und Misserfolge


Prof. Dr. Dr. Torsten Reichert, Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und


Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum Regensburg

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