Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 WIRTSCHAFT 11


INTERNATIONALE AUSGABE


«Lasst die Finger von der Schuldenbremse!


Es ist ein gutes System»


Der Frankfurter Ökonomieprofessor und Mitgli ed der «Wirtschaf tsweisen» Volker Wieland verteidigt die Begrenzung der Staatsausgaben


in Deutschland. Einig sind sich die Wirtschaftsweisen in d ieser Frage allerdings nicht. Das Gespräch in Berlin führte René Höltsc hi


Es gehört zu den Berliner Ritualen:
Einmal imJahr übergibt der Sachver-
ständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
(«Wirtschaftsweise») der Bundesregie-
rung eine Bestandesaufnahme der
deutschenWirtschaftspolitik. In dem
am Mittwoch veröffentlichten diesjähri-
gen Gutachten mit demTitel «Struktur-
wan del meistern» steht dieFrage weit
oben,wie die Finanzpolitik auf die
konjunkturelle Abkühlung reagieren
soll. Einer der fünfWeisen, der an der
Goethe-UniversitätFrankfurt wirkende
ÖkonomieprofessorVolkerWieland,
hat gegenüber der NZZ einigeKern-
punkte zusammengefasst.


HerrWieland, stehtDeutschland vor
einerRezession, oder ist eine solche
schon da?

Wir sehen deutlich, dass derAufschwung
zu Ende gekommen ist undwir leicht ne-
gative Quartalswachstumsraten haben.
Wir sind aber nicht in einer breiten, tie-
fen Rezession.Wir haben eineRezes-
sion in der Industrie, ausgehend von
einemRückgang der Exporte und der
Investitionen, doch die Dienstleistun-
gen entwickeln sich weiterhin gut.Auch
dürfte die Flaute wieder in ein langsa-
mes Wachstum übergehen. In unserer
Prognose erwarten wir einrealesWachs-
tum des Bruttoinlandprodukts (BIP)
von 0,5% im ganzen laufenden und von
0,9% im nächstenJahr (kalenderberei-
nigt jeweils 0,5%).Das heisst aber nicht,
dass wir jetzt Entwarnung geben wollen.
Die Rezessionsrisiken sind deutlich ge-
stiegen. Die derzeitige Industrierezes-
sion ist zumTeil eine Normalisierung


nach einer Bonanza. ZumTeil wirken
Sonderfaktoren wie das Unvermögen
der Autoindustrie, sich rechtzeitig an
die neuen Abgasvorschriften anzupas-
sen. Und zumTeil gibt es strukturelle,
anhaltende Elemente wieVeränderun-
gen der Nachfrage aus China oder die
Verschiebung zu neuenAntriebsarten in
der Autoindustrie.


Warum ist die konjunkturelle Entwick-
lung inDeutschlandderzeit schwächer
als im Euro-Raum insgesamt?

Deutschland ist stark industrie- und
exportorientiert.Dabei geht es zu einem
grossenTeil um Investitionsgüter, und
wenn Unsicherheit besteht,wie jetzt auf-
grund der Handelskonflikte, stell t man
als Erstes grosseAusgaben zurück.Weil
die deutscheVolkswirtschaftdurch die-
ses Geschäftsmodell volatiler ist,kommt
es öfters zuRückgängen der Investi-
tionsgüter- oder Exportnachfrage, die
sich nicht gleich in einer breiten, tiefen
Rezession niederschlagen. Derzeit ist
noch nicht klar zu entscheiden, ob wir
in einem solchenFall sind oder in einem
Fall, bei dem später auch die Dienstleis-
tungen und der privateKonsum schwä-
cheln und der sich zu einer breiten, tie-
fen Rezession ausweitet.


Braucht es ein staatlichesKonjunktur-
paket, wie es manche Ökonomen und
internationale Gremien fordern?

Im Lichte der aktuellen Diagnose, dass
keine breite, tiefe Rezession vorliegt,se-
hen wirkeinen Anlass für einKonjunk-
turpaket. Die Erfahrungen früherer
Rezessionen zeigen zudem sehr deut-
lich, dass der Grossteil der stabilisieren-
den Wirkungen von einer Lockerung
der Geldpolitik und von den automati-


schen Stabilisatoren kamen:Wenn Ge-
winne und Einkommen sinken, gehen
die Steuereinnahmen automatisch zu-
rück, während die Staatsausgaben zu-
nächst stabil bleiben und später – falls
es zu Arbeitslosigkeitkommt – infolge
höherer Sozialausgaben steigen.Das
stabilisiert diekonjunkturelle Entwick-
lung. 2008/09 hat Deutschland zudem
gu te Erfahrungen gemacht mitKurz-
arbeiter-Geld, das aber nicht für jede
Rezession zwingend die beste Möglich-
keit ist .Die eigentlichenKonjunktur-
pakete hingegen haben damals nur we-
nig zur Stabilisierung beigetragen.Soll-
ten wir tatsächlich in einerRezession
landen,könnte eine Steuersenkung wie
zum Beispiel diekomplette Abschaf-
fung des Solidaritätszuschlags («Soli»),
wie sie der Sachverständigenrat schon
letztesJahr vorgeschlagen hat, dieWett-
bewerbsfähigkeit Deutschlands langfris-
tig stärken und zugleich kurzfristig sti-
mulierend wirken.

SollteDeutschland mehr investieren?
Es ist ein Mythos, der bis zum Inter-
nationalenWährungsfonds (IMF) ver-
breitet ist,dass Deutschland nicht inves-
tie ren wolle.Tatsächlich sind die Inves-

titionen, auch die öffentlichen, in den
letztenJahren stark gestiegen.Dass der
Staat trotzdemkein Defizit schreibt,
liegt an rekordhohen Steuereinnah-
men und den Zinskosten, die wegen der
lockeren Geldpolitik sehr niedrig sind.
Die Probleme,die wir haben, sind an-
dere: Zum einen gibt es Kapazitätseng-
pässe, weil derBausektor überlastet ist.
Zum andern stossen Infrastrukturpro-
jekte immer wieder aufWiderstände

der Bürger, und die Genehmigungs-
prozesse sind langsam. Zur kurzfris-
tigenKonjunkturstimulierung eignen
sich Investitionsprojekte ohnehin nicht,
da sie gut geplant werden müssen.Aber
natürlich wäre es sinnvoll, Projekte vor-
zuziehen, falls die tiefe, breiteRezes-
sion käme und dieBauindustrie plötz-
lich freie Kapazitäten hätte.

Ist die von derRegierung angepeilte
«schwarzeNull» (Jahr fürJahr ausgegli-
chener oder leicht überschüssiger Staats-
haushalt) ein Hindernis für die automa-
tischen Stabilisatoren?
Die schwarze Null war eine politische
Entscheidung, die für eine gewisse Zeit
gute Dienste geleistet hat. Denn wir
waren in einer Phase, in der die Staats-
aus gaben und noch stärker die Staats-
einnahmen gestiegen sind und die Zins-
belastungsehr gering war. Die schwarze
Null hat einen Deckel gesetzt, so dass
nicht gleich alles für sozialeWohl-
taten und anderes ausgegeben wurde,
was hereinkam. Sie hat dazu beigetra-
gen, dass Deutschland Überschüsse er-
zielt und die Schuldenquote deutlich
gesenkt hat. Schuldenquoten deutlich
unter 60%des BIP sind sinnvollals Pu f-
fer für künftige Krisen. Bisher war die
schwarze Nullkein begrenzenderFak-
tor, auch nicht für staatliche Investitio-
nen. Aber siekönnte in einer tieferen
Rezession schnell zu einer Grenze wer-
den, weil dann ein Defizit aufgrund der
automatischenStabilisatoren nötigwird
und eskeinen Grund gibt, diese Stabili-
satoren nicht wirken zu lassen.

Und wie steht es mit der Schulden-
bremse, laut der der Staatshaushalt über
einen Konjunkturzyklus hinweg fast
ausgeglichen sein muss?
Bisher hat die Schuldenbremse eben-
fallskeine begrenzendeWirkung ge-
habt, auch nicht auf die Investitionen.
Trotzdem gibt es massive Angriffe auf
sie, was wir im Gutachten ausführlich
diskutieren.Wenn wir in eineRezession
kämen, ist zu berücksichtigen, dass die
Schuldenbremse auf strukturelle (um
Konjunktureinflüsse bereinigte) Grös-
sen abstellt und über denKonjunktur-
zyklus hinweg wirkt.Damit ist schon
vorgesehen, dass sie die automatischen
Stabilisatoren nicht ausbremst.Das ist
ein gutesSystem. Man sollte dieFinger

davon lassen, jetzt die Schuldenbremse
zu reformieren.Wirsehen auchkeinen
Bedarf, zur früheren «goldenenRegel»
zurückzukehren, bei derAusgaben für
Investitionen von derSchuldenregel
ausgenommen wurden. DieseRegel
hat die Schuldenquote nicht effektiv
begrenzt, und siehatte mehrere Schwä-
chen. So kann man vieles als Investi-
tion bezeichnen, was derWirtschaft we-
nig bringt,etwadie berühmten «Brü-
cken nach nirgendwo» oder einen Flug-
hafen, der nie fertig wird. Umgekehrt
gibt esAusgaben etwa für Instandhal-
tung undReparaturen oder fürPerso-
nal wie Lehrer oder Richter, die als
Staatskonsum gelten, aber für bes-
sere Bildung undRechtssicherheit sor-
gen. Beides ist sehr wichtig, damit sich
Investitionenrentieren.

Sind sich dieWirtschaftsweisen in die-
sem Urteil einig?
Nein. Die geschildertePosition zu den
Konjunkturpaketen und zur Schulden-
bremse ist die Mehrheitsmeinung. Es
gibt dazu eine abweichende Minder-
heitsmeinung der beiden Mitglieder Isa-
bel Schnabel undAchim Truger.

Das Jahresgutachten untersucht auch
die Produktivität der deutschenWirt-
schaft. Zuwelchen Schlüssen kommt es?
Das Produktivitätswachstum ist deutlich
zurückgegangen, das sehen wir aus ver-
schiedenen Gründen in denfortgeschrit-
tenenVolkswirtschaften weltweit. Eine
Zeitlang haben deutsche Unternehmen
im Zuge der Globalisierung viel imAus-
land investiert, was dazu geführt hat,
dass vor allem die produktivstenAnteile
der Wirtschaftsleistung in Deutschland
verblieben sind und hier dieArbeitspro-
duktivität gestiegen ist. Dieser Prozess
ist vor längerer Zeit zu einem Ende ge-
kommen.Wir hatten aber auch gegen-
läufige Effekte: Im ZugederArbe its-
markt- und Steuerreformen hat der
Dienstleistungssektor stark zugenom-
men, auch mit niedrigeren Löhnen.Das
heisst,wir haben auch «weniger produk-

tive» Menschen in die Beschäftigung be-
kommen.Das ist ein Riesenerfolg und
ein Grund, warum die Sozialsysteme
im Momentrelativ gut dastehen und
die Steuereinnahmen gestiegen sind.
Aber es hat den Nebeneffekt,dass die
Arbeitsproduktivität zurückgeht. Man
kann umgekehrt auch mit einer hohen
Arbeitslosigkeit die Arbeitsproduktivi-
tät steigern, das ist aber nicht gut.

Was kann man sonst tun?
Wichtig sindWissensbildung und tech-
nologischerFortschritt.Wir denken,
dass man das lebenslange Lernen und
die Schnittstellen zwischen Universi-
täten und Unternehmen stärken kann
und muss. Helfen würde auch ein digi-
taler Binnenmarktmit einheitlicher
und ausreichend offenerRegulierung.
Es braucht aber auchWettbewerb. Des-
halb benötigen wir keine Industrie-
politik, die bedeutende Marktteilneh-
mer schützt, ihnen Monopolstellungen
verschafft oder staatliche Ziele für den
Industrieanteil setzt.Wir denken auch
nicht, dass wir deutlich stärkere Schutz-
massnahmen gegen ausländische Inves-
titionenbrauchen.

«Es ist ein Mythos,
der bis zum
Internationalen
Währungsfonds
verbreitet ist, dass
Deutschland nicht
investieren wolle.»

DerBausektor ist derzeit überlastet:Baustelle beimBerliner Alexanderplatz. CHRISTOPH SOEDER / DPA

Eine Minderheit empfiehlt eine Reform


Ht.·Wie schon in früherenJahren hat
der fünfköpfige Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaft-
lichen Entwicklung nur einenTeil seiner
Empfehlungen einvernehmlich formu-
li erenkönnen. Am deutlichsten sticht
dies bei der Schuldenbremsehervor,
laut der der Staatshaushalt über einen
Konjunkturzyklus hinweg fast ausgegli-
chen seinmuss.
Eine knappe, drei köpfige Mehrheit
der Wirtschaftsweisen ist der Meinung,
dass dieseRegel gute Diensteleiste und
ausreichende Spielräume sowohlfür die
Konjunkturstabilisierung als auch für
öffentliche Investitionen biete. Dagegen
gehalten haben zwei Mitglieder:der von
den Gewerkschaften für denRat vor-
geschlageneAchim Truger sowie Isabel
Schnabel, die deutsche Kandidatin für
einen Sitz im Direktorium der Euro-
päischen Zentralbank (EZB).Auch sie
würden die Schuldenbremse nicht ab-
schaffen wollen, betonte Schnabel bei

der Vorstellung desGutachtens vor den
Me dien. Doch die beiden ortenkonzep-
tionelleProbleme derRegel, die länger-
fristig für eineReform sprechen wür-
den. So sollte aus Ihrer Sicht im Sinne
der «goldenenRegel» (vgl. Interview)
eine gewisse Nettoneuverschuldung zur
Finanzierung öffentlicher Nettoinvesti-
tionen zugelassen werden.Kurzfristig
sprechen sich die Beiden für eine prag-
matische Nutzung bestehender Spiel-
räume aus, um konjunkturelle Flexibi-
lität zu bewahren und den erheblichen
Investitionsbedarf zu decken.
Einig waren sich die Sachverstän-
digen offenbar in der Einschätzung
der Geldpolitik: Diese sei bereits sehr
expansiv und es wäre besser gewesen,
wenn die EZB zumindest auf weitere
Staatsanleihekäufe verzichtet hätte,
heisst es im Gutachten.Denn diesePoli-
tik könne erhebliche Risiken, etwa für
die Finanzstabilität, und Nebenwirkun-
gen mit sich bringen.

VolkerWieland
Ökonomieprofessor
an der Goethe-
PD UniversitätFrankfurt

«Im Lichte der
aktuellen Diagnose,
dass keine breite, tiefe
Rezession vorliegt,
sehen wir keinen
Anlass für ein
Konjunkturpaket.»
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