Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

Freitag, 8. November 2019 MEINUNG & DEBATTE


INTERNATIONALE AUSGABE


Halbzeitbilanzder deutschen Regierungskoalition


Angela Merkel lähmt ihr Land

DieseWocheist bei «Spiegel Online» ein Inter-
view mit der deutschen Kanzlerin erschienen, das
von historischemWert sein dürfte. Dies, weil man
im Spätherbst dieser Kanzlerschaft noch einmal
mustergültig vorgeführt bekommt, was Merkel
unterPolitik versteht und wie die Stimmung in
ihremLand so werdenkonnte, wie sie heute ist.
Daist zum Beispiel die Meinungsfreiheit.Mer-
kel hält sie für intakt. In derselben Antwort sagt
sie aber auch, dass der Staat dasRederecht eines
Konservativen wie Bernd Lucke an dessen Uni-
versität notfalls durchsetzen müsse.An anderer
Stelle geht es um mögliche Gespräche zwischen
der CDU und der Linkspartei inThüringen. Mer-
kel verweist in einem ersten Schritt auf die Dif-
ferenzen in den Programmen, auf die fehlende
Aufarbeitung der DDR-Geschichte in der SED-
Nachfolgepartei und auf den Beschluss der CDU,
der eine Zusammenarbeit ausschliesst.Ineinem
zweiten Schritt sagtsie dann, dass man das Ge-
spräch trotzdem nicht verweigern sollte.


Beide Antworten habenkeine Richtung. Sie
geben eine – mutmasslich mehrheitsfähige – Mei-
nung wieder und versuchen im selben Atemzug,
die Gegenseite rhetorisch auch noch irgendwie
zu berücksichtigen.EssindkeinePositionen, son-
dern Simulationen vonPositionen. ImFall von
Lucke war die Einschränkung der Meinungs-
freiheit eindeutig, weil diese der Staat inForm
der Hamburger Universität zunächst eben nicht
ausreichend schützenkonnte oder wollte und
der Professor seineVorlesung unter dem «Nazi-
schwein!»-Gebrüll der Antifa abbrechen musste.
ImFall der Linkspartei ist ein Gespräch ohne
Konsequenzen schlicht sinnlos.
Warumredet jemand so? So unscharf?Viel-
leicht ist Merkel nach allder Zeit im Amt genervt:
von den Bürgern, von den Medien, von ihrerPar-
tei, die sie nicht mehr führt, von derRegierung,
die sie ursprünglich angeblich auchkein vier-
tes Mal führen wollte.Vielleicht denkt sie zu-
gleich, durchaus pflichtbewusst, dass sie irgend-
wie durchhalten muss, wegen der deutschen EU-
Rats-Präsidentschaft 2020 und wegen des EU-
China-Gipfels Ende 2020 in Leipzig, wo sie noch
einmalWeltstaatsfrau sein kann.
Ein Satz im Interview mit «Spiegel Online»
sticht heraus. Merkel formuliert ihn mit Blick
aufThüringen: «Mein grundsätzlicherRat an die

CDU: einfach mal abwarten.» Die Devise passt.
Sie passt zurTatsache, dass Merkel sich aus den
innenpolitischen Debatten desLandes fast voll-
ständig verabschiedet hat und auch in denWahl-
kämpfenkeineRolle mehr spielt. Sie passt zum
offenen Machtkampf um die nächste Kanzler-
kandidatur ihrerPartei. Und sie passt zum Allein-
gang ihrer Verteidigungsministerin (undWunsch-
Nachfolgerin) in derSyrien-Politik – und dazu,
dass die Kanzlerin tatenlos zuschaut,wiederAus-
senminister von der SPD ebenjene Ministerin
beim Besuch des BündnispartnersTürkei lächer-
lich macht.
Wozu die Devise nicht passt, ist Merkels
grundgesetzlich vorgeseheneRolle: «Der Bun-
deskanzler bestimmt die Richtlinien derPolitik
und trägt dafür dieVerantwortung.»
Was sind die Richtlinien dieserPolitik?Wer
trägt in Berlin dieVerantwortung? Interessan-
ter alsMerkels Antworten, die womöglich nie
kommen odervage ausfallen werden, werden die
Antworten der CDUsein.Will die letzte deut-
scheVolkspartei bis zumregulärenWahltermin
imJahr 2021 «einfach mal abwarten», oder wird
sie der Kanzlerin Entscheidungen, die diese selbst
nicht mehr treffen will oderkann,abnehmen?Für
Angela Merkel wäre Letzteres vermutlich un-
schön.Für ihrLand wäre es überfällig.

BeruflicheVorsorge


Die absurde Eingriffslust der Politik

Die SchweizerPensionskassen haben seit 2010
laut Branchenumfragen vonSwisscanto eine
durchschnittliche Anlagerendite von etwa 3,
Prozent erreicht. Die erwerbstätigenVersicher-
ten erhielten aber auf ihren Alterskapitalien im
Mittel nur eineVerzinsung von etwa 2 Prozent
proJahr.Über ein ganzes Erwerbsleben läppern
sich solche Differenzen zusammen. Ein Anfangs-
kapital wirdsich innert vierzigJahren mit einer
jährlichenVerzinsung von2Prozent gut verdop-
peln und mit 3,6 Prozent mehr als vervierfachen.
Auch im laufendenJahr scheinen die Erwerbs-
tätigenrelativschlechtwegzukommen.Dank
starkenKursgewinnen auf Aktien und Anleihen
wegen weiterer Zinssenkungen haben diePen-
sionskassen bis Ende September im Mittel eine
Anlagerendite von gegen 10 Prozent erzielt. Doch
selbst wenn amJahresende das Ergebnis ähnlich
gut ist, dürftenPensionskassen die Alterskapi-
talien der Erwerbstätigen erfahrungsgemäss im


Mittel wohl nur mit etwa 2 bis 3 Prozent verzin-
sen. Der Bundesrat hat am Mittwoch die Min-
destverzinsung auf 1 Prozent festgesetzt.
Was läuft hier schief? Dierechnerisch zu tiefe
Verzinsung des Kapitals der Erwerbstätigen ist
das Spiegelbild der zu hohenVerzinsung für die
Rentner. Hinter demDurchschnitt aller laufen-
den Altersrenten steht via Umwandlungssatz zur
Rentenberechnungfaktisch eineRenditegarantie
aufRentnerkapitalien von 4 bis 4,5 Prozent pro
Jahr; angesichts der derzeitigen Negativrenditen
von «risikolosen» Anlagen (Bundesobligationen)
undangesichts der künftigen langfristigenRen-
diteerwartungen fürPensionskassen ist dies weit
überhöht. Die Subventionierung derRentner ist
durch die Erwerbstätigen zu berappen; die weit
tiefere Kapitalverzinsung ist einAusdruck davon.
Gemäss Oberaufsicht der beruflichenVorsorge
wurden in den letzten fünfJahren total über 30
MilliardenFranken von den Erwerbstätigen zu
denRentnern umverteilt.
Dummerweisekönnen SchweizerPolitiker
denFinanzmärktenkeine Anlagerenditen befeh-
len.Dass der Bundesrat trotzdem aus politischer
Sicht jährlich eine Mindestverzinsung für das Ka-
pital der Erwerbstätigen in der beruflichenVor-
sorge festlegt, erscheint deshalb absurd;solche

Entscheidekönnte man getrost den Stiftungs-
räten derPensionskassen überlassen.
Noch weit gewichtiger ist die Eingriffslust der
Politik bei derFestlegung einer gesetzlichen Min-
destvorgabe für die Berechnung derJahresrente
aus dem Alterskapital zumPensionierungszeit-
punkt. Der Gesetzgeber tut hier so, als ob er hohe
Anlagerenditen odereine Senkung der durch-
schnittlichenLebenserwartung befehlenkönnte.
Die Mindestvorgabe zum Umwandlungssatz für
dieRentenberechnung ist viel zu hoch und nur
darumkeine Katastrophe für diePensionskassen,
weil diese das Problem durch versteckte Umver-
teilungen zulasten derJüngeren und der überobli-
gatorischen Alterskapitalien verlagern.
TechnischeRahmengrössen wie der minimale
Umwandlungssatz gehören nicht in ein Gesetz,
sondern wären gescheiter durch ein Experten-
gremium festzulegen. Doch im wirklichen Leben
klingt dies wie ein Märchen, denn eine solcheRe-
form würde zu tieferen Mindestvorgaben führen,
und derreflexartige Kritikerschrei «Rentenab-
bau» fände imVolk erfahrungsgemässResonanz.
Die Sache ist ein Lehrbuchbeispiel für dasFunk-
tionieren von Menschen und damit auch derPoli-
tik: Sind Privilegien einmal beschlossen, bringt
man sie fast nicht mehr weg.

KleineVerwahrungvon «Carlos»


Im Gefängnis nicht resozialisierbar

Soll man einen 24-jährigen Straftäter möglicher-
weise bis an sein Lebensende verwahren, obwohl
erkein Kapitalverbrechen begangen hat?Ver-
dient einer nochmals eine Chance aufFreiheit, der
von Gutachtern als gefährlich eingestuft wird und
von dem der Staatsanwalt sagt, erneute Gewalt-
taten seien so sicher wie das Amen in der Kirche?
Genau dieseFragen musste das Bezirksgericht
Dielsdorf imFall des jungen Mannes hinter dem
Pseudonym «Carlos» klären. Der Staatsanwalt
forderte für Brian K. – wie der Angeklagte mit
richtigemNamen heisst– neben einerFreiheits-
strafe auch eine ordentlicheVerwahrung gemäss
Artikel 64 des Strafgesetzbuchs.
Damit wäre Brian K. einer der jüngsten, je in
der Schweiz verwahrten Straftäter. Ein Blick in
die Statistik zeigt: Derzeit wird in der Schweiz nie-
mand ordentlich verwahrt, der 25Jahre oder jün-
ger ist. Letztmals befand sich eine so jungePer-
son 2012 in derVerwahrung.


So weitkommt es nun zwar nicht.Das Gericht
hat sich gegen diese UltimaRatio des schweize-
rischen Strafrechts ausgesprochen. DerVerzicht
auf eine ordentlicheVerwahrung ist sicher richtig,
denn diese wäre nicht verhältnismässig gewesen.
Das Gericht hat dieFreiheitsstrafevon4 Jahren
und 9 Monaten aber zugunsten einer Massnahme
aufgeschoben. Es ordnete für Brian K. eine statio-
näretherapeutische Massnahme nach Artikel 59
des Strafgesetzbuchsan. ImVolksmund wird diese
Massnahme «kleineVerwahrung» genannt.Dabei
wirdalle fünfJahreüberprüft, ob dieTherapie an-
schlägt oder ob weiterefünf Jahre notwendigsind.
«Ohne eine stationäre Therapie dreht sich die Ab-
wärtsspirale bis zur finalen Erschöpfung immer
weiter», argumentierte der Richter bei der Urteils-
eröffnung. Man sehe deshalb in der Massnahme
den geeignetstenWeg für eine bessereZukunft.
Das Urteil ist derVersucheinesKompromisses.
Einerseitssolles dem in den letztenJahren grösser
gewordenen Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft
gerecht werden.Andererseits soll es auch dieFrei-
heitsrechte des noch immer sehr jungen Straftäters
zumindest nicht ganz ausserAcht lassen.
Brian K. mag einAusnahmefallsein,doch
losgelöst vom gesellschaftlichen Klima lässt sich
seine Geschichte nicht erklären. Heute wird ver-

sucht, mit den Mitteln des Strafrechts nicht nur
Täter für begangene Delikte zu verurteilen, son-
dern auch präventiv Straftaten zu verhindern.
Die entscheidendeFrage nämlich lautet: Soll im
Zweifel das Risiko eingegangen werden, dass
ein Straftäter inFreiheit wieder kriminell wird?
Oder soll man im Namen der öffentlichen Sicher-
heit dieses auf null minimieren – aufKosten der
Grundrechte?
In den letztenJahren hat dasPendel klar in
Richtung Nullrisiko ausgeschlagen.Entsprechend
sind dieVollzugsbehörden vorsichtiger geworden.
Sie entlassen Häftlinge nur noch, wenn sie das
Rückfallrisiko so gering wie möglich haltenkön-
nen. Bedingte Entlassungen werden viel zurück-
haltender gewährt als noch in derVergangenheit.
Dies, weil es in denletztenJahren zu einigen tra-
gischenVorfällen mit Straftätern gekommen ist.
Klar ist aber: EineResozialisierung von Brian
K. wird in einer pinkfarbenen Arrestzelle und hin-
terPanzerglas nicht gelingenkönnen. Sowohl die
Justizvollzugsbehörden als auch der junge Mann
müssen einen Umgang miteinander finden, damit
eineWiedereingliederung in die Gesellschaft ge-
lingen kann. Ob dies in Sicherheitshaft und mit
einerTherapie gegen denWillen des Straftäters
gelingen kann, ist zumindest fraglich.

MARC FELIX SERRAO
WELTSPIEGEL

Trügerische Ruhe:


auch eine Lehre


von 1989


Von ULRICH SPECK

Nicht zufälliggeht es in vielen Erinnerungs-
projekten zum dreissigstenJahrestag desFalls
der Berliner Mauer um dieFrage, wo man
gerade war, als man am 9. November die
Nachricht hörte. EinTag, der sich in die
individuelle Erinnerung eingebrannt hat.
Etwas Unerhörtes, für unmöglich Gehaltenes
passierte, und anschliessend war dieWelt
eine andere. DerLauf der Geschichte änderte
sich, der Fluss der Ereignisse wurde plötzlich
umgelenkt, in neueBahnen.
DerFall der Mauer kam so überraschend,
weil man sich schliesslich doch mit dem Status
quo eingerichtet hatte.Was für viele Deutsche
in Ost undWest zunächst undenkbar war, eine
Teilung desLandes mit einer Grenze, die
nahezu undurchdringlich war, dazu noch die
Existenz einer nur überTr ansitstrecken
erreichbaren EnklaveWestberlin, mitten im
gegnerischenTerritorium – das war 1989
längst zur Normalität geworden. Schon lange
ging es nicht mehr umRevision, sondern
nur noch um die möglichst erträgliche Gestal-
tung des Bestehenden:Das war derKern
vonWilly Brandts Ostpolitik.
Nicht wenige Nachbarn und auch die
Weltmächte waren zudem insgeheim der
Meinung, dass dieTeilung auch eine akzep-
table Lösung der «deutschenFrage» war —
derFrage also, wie deutsche Stärke und
gelegentliche, potenziell ins Aggressive
umschlagende Übermacht mit einem stabilen
europäischen Staatensystem vereinbar waren.
Als die Mauer fiel, hatte man sich längst
arrangiert.Werin Westdeutschland dieTeilung
in Zweifel zog, war entweder einrechter Ewig-
gestriger, ein bornierter Nationalist oder ein
radikaler Linker, der die deutsche Neutrali-
sierung anstrebte und damit dieWest-
bindung – und damit verbunden dieWerte-
basis – des neuen Staates infrage stellte.
DieTeilung war zur Normalität geworden,
an der die Deutschen nichts ändernkonnten–
war sie dochFolge derKonkurrenz der beiden
Weltmächte –, an der sie aber auch immer
weniger etwas ändern wollten.Auf beiden
Seiten wuchsen Generationen auf, für die der
Status quo selbstverständlich war, zumal sie
ein geeintes Deutschland nur noch von
Erzählungen der Älteren kannten.
So wie Österreich aus dem Kreis der
deutschen Staatlichkeit durch die kleindeut-
sche Lösung1871 ausgeschieden war, so waren
jetzt zwei deutsche Staaten aus denTr ümmern
des ZweitenWeltkriegs wiederauferstanden.
DieTeilung, das Bestehen von zwei
deutschen Staaten, getrennt durch eine Mauer,
durch Stacheldraht, bewacht von Soldaten, die
das nicht erlaubte Übertreten mitTodesschuss
bestraften, war längstkein Skandal mehr. Das
Unerhörte war nicht mehr die Existenz der
Mauer, das Unerhörte war derFall dieser
Mauer. Miteinem Mal wurde die Geschichte,
die man für beendet hielt, wieder geöffnet,
geriet sie wieder in Fluss.
Mit einerkonzertierten Aktion derPolitik,
einerPartnerschaft von HelmutKohl und
George Bushsenior, wurden die Ereignisse in
dieBahnen derraschenWiedervereinigung
gelenkt: ein vereintes Deutschland in EU und
Nato. Ein neuer Status quo wurde hergestellt,
der dem alten westdeutschen Status quo sehr
ähnlich sah.Damitkehrte wiederRuhe ein,
eine neue Normalität.
DochRuhe kann trügerisch sein – das ist
eine der Lektionen des 9. November1989.
Geschichte kann unerwarteteWendungen
nehmen.Womöglich ist die Stabilität, die
HelmutKohl und George Bushsenior
begründeten, auch nur eineRuhe auf Zeit.

Ulrich Speckarbeitet als Senior Visiti ng Fellow beim
German Marsha ll Fund (GMF) in Berl in. In seinen
Kolumnen lässt er sich von der Komplexität des Welt-
geschehens nicht einschüchtern.
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