Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Freitag, 8. November 2019 FEUILLETON 21

Der ambitionierte Zürcher Spielfilm «Al-Shafaq»


zeigt die Radikalisierung eines Teenagers SEITE 22


Die DDR wurde nach dem Wettstreit


der Systeme ni cht mehr gebrauchtSEITE 23


Das Silicon Valley liegt im alten Preussen


Die Digitalisierung versprach mehr Demokratie. Ironischerweise brin gt sie nun gnadenlose Bürokratie.Von Evgeny Morozov


DreiJahre nach DonaldTr umps Amts-
antritt hat sich die moralischePanik an-
gesichts vonFake-News und des «post-
faktischen Zeitalters» mitnichten gelegt.
Vielmehr steigerte sie sich zum eigent-
lichenKulturkrieg. DieKonservativen
behaupten, dassTwitter undFacebook
ihre Meinungen unterdrücken; Progres-
sive werfen denselben Plattformen vor,
sie täten nicht genug, um Hassreden und
Wahlmanipulationen fremder Mächte
zu verhindern.
Mark Zuckerbergs jüngste Anhörung
im US-Kongress – bei der diePolitiker
darum wetteiferten, ihm den rhetori-
schenTodesstoss zu versetzen – istkein
gutes Omen für das SiliconValley. Des-
sen einzigerRetter ist zur Stunde die
KommunistischePartei Chinas.Nur ein
endloser Handelsstreit mit China kann
Amerikas Gesetzgeber daran hindern,
den «strategischrelevanten»Techno-
logiesektor zuregulieren; würde dieser
Industrie derTeppich unter denFüssen
weggezogen, bedeutete dies auch eine
Schwächung vonWashingtonsPosition
im globalen Machtgefüge. DieRegie-
rungTr ump verschliesst dieAugen nicht
vor diesem Risiko.
Die Beschwörung der Gefahr aus
China hat denTechnologiefirmen etwas
Luft verschafft, aber ewig wirddas nicht
funktionieren.Wenn dieTech-Blase erst
einmal platzt, wird der Hass auf das Sili-
conValley noch wachsen; derRuf nach
Massnahmen wird lauter werden. Die
öffentliche Demütigung vonWework
und Uber, den einstigen Lieblingen der
Tech-Investoren, ist ein Hinweis, dass
dieToleranz gegenüberder Anmassung
der Serviceplattformen (und ihrer Be-
treiber) im Schwinden begriffen ist. Mit
stärkerer behördlicherRegulierung ist
also zurechnen – und der Flut vonFa -
ke-News einen Riegel zu schieben, wird
dabei eine der höchstenPrioritäten sein.
Aber wie mächtig ist diese Flut?Was
in der öffentlichen Debatte, aber auch
in akademischen Diskussionen über das
«Postfaktische» in derRegel unhinter-
fragtbleibt, ist die Annahme, dass wir in
einer ausserRand undBand geratenen
Postmoderne leben: einer Zeit, in der es
keine verbindlicheWahrheit mehrgibt,
dakeine einzelne, konsistente Erzäh-
lung mehr dem Ansturmradikal unter-
schiedlicherWeltsichten widerstehen
kann, die von einerVielzahl materiell,
kulturell und ethnisch bedingter Erfah-
rungen geprägt sind.
Ehrlicherweise muss man zugeben,
dass dies zu einem gewissen Grad zu-
trifft. Die Geschäftsmodelleder digitalen
Plattformen, die algorithmischen Nud-
ges, mit denen sie uns lenken, und dieFil-
terblasen, die sich infolgedessenbilden,
tragen einiges zu dieser Entwicklung bei.
Aber dieFragmentierung derWahrheit
ist nur einTeil der Geschichte, und viel-
leicht nicht einmal der wichtigste.


Kontroverses wirdverborgen


Ein wenig wahrgenommenesParadox
der digitalenWelt liegt heute darin,
dass sie zugleichdasPostfaktische und
das Hyperfaktische feiert.Während Er-
zählungen sich aufsplittern undkonkur-
rierendeWahrheiten sich mehren, lau-
fen parallel dazu Bemühungen, mithilfe
von Bots, Ledgers und Algorithmen eine
einzige, objektive und ewigeWahrheit zu
generieren.
Die erste Stufe dieser «Objektivie-
rung» begann mitWikipedia. Obwohl
die Plattform es ermöglicht hätte, unter-
schiedliche Lesarten und Interpretatio-
nen einesThemas oder Phänomens ein-
zubringen, beschloss man irgendwann,
dass eine Community von Heraus-
gebern undAutoren, gestützt auf ver-
trauenswürdige und verlässliche Quel-
len, sich auf eine einzigeAuslegung der
Geschichte einigen sollte.


Kritiker vonWikipedia fokussierten
vor allemauf dieTatsache,dass die Pro-
duktion vonWissen hier auf wahrhaft
radikaleWeise demokratisiert wurde:
Jeder kann mitmachen!Dabei entging
ihnen jedoch ein tiefer liegender und
wesentlichkonservativerer Aspekt des
Projekts:Während bei vielenkontrover-
senThemen langwierige und oft bittere
Debatten zwischen den Herausgebern
entbrannten, wurde diesin derPräsen-
tation der Artikel meist inkeinerWeise
sichtbar gemacht.Kontroverse und Un-
einigkeit blieben demDurchschnitts-
nutzer verborgen.
Stattdessensorgte eine Flut von edi-
torischen Richtlinien und Bestimmun-
ge n dafür, dass dasReglement als Mass-
gabe für den Inhalt eines Eintrags sogar
verbindlicher wurde als Informationen,
welche die in einem Eintrag dargestellte
Person selbst einbrachte. Daher klagen
nicht wenige, dassWikipediaFehlinfor-
mationen übersie verbreitet, die sie
aber nichtkorrigierenkönnen, weil sie
offenbarkeine «verlässliche»Quelle
sind, wenn es um ihre eigenen Belange
geht. DieseVerpflichtung aufVernunft
undRegeln ist daswahrhaftModerne an
Wikipedia, und sie hat bei Beobachtern
einigeVerwirrung ausgelöst.
Die zweite Stufe der «Objektivie-
rung» von Erzählungen begann mit der
schnellen Expansion der Blockchain-
Technologie.Diese schuf die Illusion,
dass alles in Zahlenfolgen gepackt und
irgendwann in unveränderlicherForm
im Ledger (d. h. auf einerDatenbank)
abgelegt werden kann: die perfekte
Wahrheit, in Stein gemeisselt, an die nie-
mand mehr rührt.
DieseTechnologie, welche dieKor-
rektheit finanziellerTr ansaktionen veri-
fiziert, kann auch Produkte während ihrer
ganzenReise durch dieWertschöpfungs-
kette kontrollieren (ob sie etwa dasFair-
Tr ade-Label wirklich verdienen) oder
überprüfen,ob ein Markenartikel echt

oder gefälscht ist. Sie besteht letztlich
darin, dass in unveränderbaren Protokol-
len festgehalten wird, wer was wann getan
hat; die Blockchain erfährt und weiss alles.
Solange das nur im begrenzten Be-
reich der kommerziellenTr ansaktio-
nen und Computer-Ereignisse gilt,
wirkt diese Annahme harmlos. Wenn
man sie aber auf Substanzielleres über-
trägt –Politik,Kunst,Journalismus –,
dann weckt diese «Epistemologie der
Blockchain» die ziemlich perverse Er-
wartung, dass alles, was nicht auf Block-
chain-freundlicheWeise verpackt ist,
per se durch Subjektivität, Bestechlich-
keit oder eine tendenziöse Haltungkor-
rumpiert ist. Subjektivitätist derFeind;
Undurchsichtigkeit ist Sünde.
Mit anderenWorten: Hier wird eine
Ironieder «postfaktischen»Welt sicht-
bar. Die Demokratisierung desWissens
ging einher mit einer Stärkung des büro-
kratischen Modells.Allerdingsgilt da-
bei die menschliche Seite der Bürokratie
als archaisch und uncool; man setzt auf
«objektive» Algorithmen und Ledgers.
Das wahre Utopia dieser Denkungsart –
da und dort, etwa in Singapurund Est-
land, wirdseineKontur schon sichtbar –
ist ein vollautomatisiertes bürokratisches
System, das dieRegeln mit preussischer
Effizienz durchsetzt.

Populistischer Modernismus


DiedigitaleKultur, die sich daraus er-
gibt, ist ein ziemlich seltsames Ding. Kein
Wunder, dass sie diekognitive Dissonanz
befördert, von der Bewegungen wie die
Alt-Right zehren. Einerseits wird in
populistischer Manier, die anWikipe-
di a erinnert, das Expertenwissen ver-
abschiedet:Jeder ist gleich wie jeder
andere,genau wie die Knotenpunkte
im Blockchain-Netzwerk (ein weiterer
Mythos). Anderseits wird der moderne
Glaube anVorschriften undRegulie-
rungen gestärkt; obendrein meint man,

mit quantitativen Mitteln lassesicheine
letztgültigeWahrheit finden, die an-
schliessendallen verfügbar gemachtwer-
denkönne – einzig kraft derTechnologie
und ganzohne andereVermittler.Wollte
man dieser Ideologie einen Namen ge-
ben, dann würde «populistischer Moder-
nismus» nicht schlecht passen.
DieWidersprüche in diesem bizar-
ren ideologischen Mix sind offensicht-
lich: Man schiebtdie Experten beiseite
und ersetzt sie durch den Glauben an
«Technologie» und «Fortschritt».Eine
solcheAuffassung verzichtet in derRe-
gel auf jede vertiefte Diskussion über
die politische Ökonomie derTechnolo-
gie (und erstrecht desFortschritts); man
hat nichts bei der Hand, um historischen
Wandel zu erklären.Aber was steht letzt-
lich hinter all denTechnologien, die uns
umgeben, was entwickelt und formt sie?
Die skizzierte Denkweise nutzt das
Wort «Technologie» letztlich als Euphe-
mismus für eine Klasse von Über-
menschen –Wissenschaftern und Ent-
wicklern,die in ihrer Freizeit gleich noch
dieWeltretten, indem sie neue Apps
und Produkte erfinden. Sokommen die
Experten durch die Hintertür wieder
ins Spiel – aber ohne formelleAnerken-
nung. Diese Experten– seien sieRedak-
toren beiWikipediaoder Blockchain-
Entwickler – werden uns wie blosse An-
hängsel derTr iebkräfte vonTechnologie
undFortschritt präsentiert; faktisch sind
oft sie es, die am Steuer sitzen.
Das ist nun schwerlich die sichere,
verlässliche Grundlage, auf der eine
demokratischeKultur florieren kann.
Es ist eines,nach bewährter postmoder-
ner Art «situiertesWissen» und «multi-
ple Episteme» zu feiern und jegliche Be-
rufung auf eine letztgültigeWahrheit in
denWind zu schlagen – jeder Besuch in
einem geisteswissenschaftlichen Semi-
nar wird zeigen, dass diesesVokabular
an Hochschulen immer nochKonjunk-
tur hat. Aber es ist etwas ganz anderes,

wenn man dies tut und gleichzeitig ein
System errichtet, das dieWahrheit algo-
rithmisch durchsetzt – unter eifriger An-
wendung bürokratischerVorschriften
undRegulierungen, die Bismarck wie
einenBastler aussehen lassen.

Im Dilemma


Facebook geht von der Annahme aus,
dass die horizontaleKommunikation
zwischen den Nutzern besser ist als die
vertikale Beziehung zwischen Experten
undLaien; damit ist es ein gutes Bei-
spiel für dieses Dilemma.AllerVolks-
nähe zumTr otz müssen die Betreiber
der Plattform jetzt nämlich der benei-
denswertenAufgabenachkommen, ihre
Algorithmen zur Bekämpfung vonFa-
ke-News einzusetzen. Dies ist jedoch
nurmöglich, wenn man denWert der
Expertenmeinung anerkennt und der
eigenen Tätigkeiteineeinzige und ein-
heitlicheWeltsicht zugrunde legt.
Das Problem vonFacebookist, dass
man sich dort des Problems nicht einmal
bewusst ist. So wird das Unternehmen mit
allerWahrscheinlichkeit seine schizophre-
nen Bemühungen fortsetzen, weiterhin im
Dunkeln herumstolpern und genau jene
von Experten geführte Bürokratie errich-
ten, die es eigentlich zerschlagen wollte.
Diese Anstrengungen werden zwar zu
nichts führen, aber sie rücken eine funda-
mentaleWahrheitinsBewusstsein, die wir
anscheinend vergessen haben: SowohlFa-
ke-News als auch ihr Gegenteil, das exzes-
sive Bemühen um Hyperrationalität, sind
dieFolgen – und nicht die Ursachen –
unserer Probleme. DiePostmoderne hat
nicht erst in Mark Zuckerbergs Zimmer
im Studentenheim begonnen.

Evgeny Morozovist Autorund Blogger. Er
beschäftigt sichseitJahrenmit neuenTech-
nologien und Medien, die er imKontext von
Ökonomie und Politik kritisch reflektiert. – Aus
dem Englischenvon as.

Ob mit Laptop,Tablet oder Smartphone–imInternet solltensich alle frei und aufAugenhöhebegegnen.AberdiesesModell wirdzunehmend unterlaufen. AIDAN CRAWLEY/BLOOMBERG
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