Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

6INTERNATIONAL Freitag, 8.November 2019


INTERNATIONALE AUSGABE


Über die Leiter in die Freiheit


Torsten Peter gelang 1988 die Flucht aus der DDR, sein e Gefährten wurden gefasst – welche Erinnerungen hat er an die Mauer?


JONAS HERMANN, BERLIN


Er steht ganz oben auf der Leiter, seine
Fingerreichen nun bis zurKuppe der
Berliner Mauer. «Halt oder wir schies-
sen!», ruft ein Wachposten hinter ihm.
TorstenPeter weiss, dass er nur einen
Versuchhat. Er geht leicht in die Knie –
undkatapultiert sichmit allerKraftüber
dieMauer.ErfälltvierMeterindieTiefe.
Bei d er Landung imWesten prellt er sich
die Hüfte und staucht sich einen Fuss.
Wäre er liegen geblieben, hätten ihn die
Wachen womöglich doch noch erwischt.
PetererzähltvonTüren,dieindieMauer
eingelassen waren, um verletzte Flüch-
tige zurück in den Osten zu ziehen.
Er entkommt, doch seine Gefährten
werden festgenommen. Es ist nicht der
einzige Grund,weshalb für ihn die Stun-
den nach der Flucht schlimmer sind als
die davor. Die Flucht habe er eher als
sportliche Herausforderung gesehen.
«Ich hatte wirklichkeine Angst», sagt
Peter. Danach fühlt er sich aber aufge-
kratzt, unsicher und fremd. Er ruftseine
Mutter an, erzählt vonseiner Ankunft
im Westen. Sie fällt aus allenWolken.
Später geht er zurPolizei und wird in
ein Spital gebracht. In der ersten Nacht
im Westen findet erkeinen Schlaf.


Hilfreiche Hochhäuser


Am 9. November jährt sich derFall
der Mauer zum 30. Mal. Allein in Ber-
lin flüchteten mindestens 5000 DDR-
Bürger über die innerdeutsche Grenze
in denWesten.140Menschen kamen
an der Mauer ums Leben. Nach deren
Bau im Jahr 1961 wares noch vergleichs-
weiseleicht, die Grenze zu überwinden.
Doch die Stasi analysierte jeden Flucht-
versuch und stopfte ein Schlupfloch
nach dem anderen. AlsPeter imFrüh-
ling 1988 entkam,war die Mauer bestens
gesichert – und niemandrechnete damit,
dass sie im nächstenJahr fallen würde.
Peter führt den Journalisten der
NZZ an der ehemaligen innerdeut-
schen Grenze entlang zu zwei alten
Hochhäusern in der Leipziger Strasse.
Hier begann sein neues Leben.Von
dem einen Hochhaus herabkonnte er
die Grenzposten ausspähen und seinen
Fluchtplan verfeinern.Durch das Erdge-
schoss des anderen Hochhauses gelang-


ten er und seine Gefährten am Abend
des 4. Mai1988 an die Mauer heran,
ohne dass die Wachposten sie sehen
konnten.Peters Freund Andreas, des-
sen KumpelJörg und er selbst betra-
ten als Handwerker verkleidet das Ge-
bäude. Deshalb fiel auch die lange Lei-
ter nicht auf.
Heute arbeitetPeter an der Pforte
der Bundespressekonferenz in Berlin.
Die Hauptstadtjournalistenkennen ihn,
aber nur wenige wissen von seiner Ge-
schichte. In jungenJahren strebte er eine
Karriere als Leichtathlet an.Wer in der
DDR etwas werden wollte, musste sich
aber demRegime unterordnen, und das
war für ihnkeine Option.


Von BerlinnachBali


Peter ist heute 55, trägt meistTurn-
schuhe und hat sein graues Haar nach
hinten gegelt. Seine breiten Schultern
waren früher noch breiter –1991 wurde
er europäischerVizemeister im Body-
bu ildin g. Arnold Schwarzenegger war
sein grossesVorbild. DerWesten und
ferneLänder haben ihn immer faszi-
niert. «Ich bin damals geflüchtet, weil ich
andereKulturenkennenlernen wollte»,
sagt er.Als er inWestberlin nicht glück-
lich wurde, wanderteer nach Indonesien
aus und blieb dort16 Jahre.


Aus seiner Ehe mit einerIndonesie-
rin gingen zwei Kinder hervor, die heute
volljährigsind. Auf der InselBali habe
er eine Möbelfabrik mit 35 Mitarbeitern
gehabt,erzähltPeter.WeildasUnterneh-
men nicht mehr lukrativ war, kehrte er
2010nachBerlinzurück,woermitseiner
zweitenFrau und zweikleinen Kindern
lebt. Die deutsche Hauptstadt ist ihm
mittlerweile jedoch zu hektisch.Wenn
er könnte, würde er wieder wegziehen.

NurmitPassierschein zur Oma


SeineWurzeln liegen aber in Berlin.
Peters Grossmutterlebte im Gleimvier-
tel, im Stadtteil Prenzlauer Berg. Als
Deutschland geteilt war, verlief dort die
Grenze zuWestberlin.Besucher durften
das Viertel nur mitPassierschein betre-
ten. Eine Informationstafel erinnert an
diese Zeit, steht derzeit aber in einer
abgesperrtenBaustelle. Davor fährt ein
Bagger hin und her, dochPeter will die
Tafel lesen. Er zieht eine Sperrbarke
zur Seite und läuft los. DenBauarbei-
tern signalisiert er mit Handbewegun-
gen,dassernichtsBösesimSchildeführt.
Vielleicht ist es das Haus der Gross-
mutter in der Gleimstrasse, wo Peters
Sehnsucht nachFreiheit ihren Ursprung
hat.Als Junge stand er dort aufdem Bal-
kon und blickte in denWesten hinüber.
Das unbekannteLand weckte die kind-
liche Phantasie. Einmalwinkte seine
Familie vomBalkon denVerwandten in
Westberlin zu. Besuche der Onkel und
Tanten waren nur selten möglich.
Von den Menschen, die damals im
Gleimviertel wohnten, leben nur noch
wenige dort. Zwischen Biolä den und
Yogastudios vergisstman leicht, dass
Berlin hier früher geteiltwar. Peter will
nun weiteran einen Ort, der nicht zum
Vergessen, sondern zum Erinnern ein-
lädt. ZuFuss gehtes Richtung Gedenk-
stätte Berliner Mauer in der Bernauer
Strasse. In den Herbstwind hinein mur-
melt Peter immer wieder «Das sieht hier
heute alles so anders aus» oder «Das er-
kenne ich kaum wieder».
An einer Bushaltestelle hängtein
Werbeplakat desFussballvereins Her-

tha BSC. Darauf ist zu lesen: «Berliner
Mauer ist, wenn die Stadt geschlossen
zusammensteht.»Dahinter ist dieFan-
kurve desVereins abgebildet.Das ka nn
man lustig finden –oder man sieht es
wie Peter, dem das Plakat missfällt. Nur
ein paar hundert Meter weiterstehtein
Stein, auf dem die Namen von Ostdeut-
schen aufgelistetsind, die an der Mauer
den Tod fanden.Wir nähern uns der
Freiluftgedenkstätte, die auch an diesem
kalten Morgen vieleTouristen anzieht.
Metallstreifen am Boden zeigen, wo
einst die Grenze verlief, es gibtTeile der
Mauer und einenWachturm zu sehen.
Dazwischen stehen Informationstafeln,
Videostationen und eine Aussichts-
plattform, um das aufwendig hergerich-
tete Areal zu überblicken. Die deutsche
Gründlichkeit zeigt sich hier im dop-
pelten Sinne: in derRadikalität, mit der
aus einemLand zwei gemacht wurden,
und in der Genauigkeit, die bei derAuf-
arbeitung dieserTeilung an denTagge-
legt wird.Peter wirkt an diesem Ort selt-
sam deplatziert.DieTouristen erkunden
hier die deutsche Geschichte, doch er er-
kundet seine eigene – und diese Expe-
dition in dieVergangenheit scheint nie
ganz abgeschlossen.

Der StaatalsErsatzreligion


Vor dem Mauerwachturm hältPeter
inne. Kantig und heruntergekommen
steht das etwa neun Meter hohe Ge-
bäude da und zeugt von der absurden
Idee, das eigeneVolk einsperren zu wol-
len. Wie es sich anfühlt, aus so einem
Turm hinauszublicken, willPeter wis-
sen. Er habe noch nie einen besichtigt.
Dann erzählt er von einem Mann,den
er lange nach dem Mauerfallkennenge-
lernt hat. Er hatte bei den Grenztruppen
der DDR gedient. AlsPeter ihm seine
Flucht geschilderthabe, habeder Mann
angedeutet, wenn er damals Dienst ge-
habt hätte, wäre der Flüchtende nicht
davongekommen.
Die Vergangenheit scheintPeter wie
einen Schatten zu verfolgen.Es geht wei-
ter durch den Stadtteil Mitte, wo Peter
aufwuchs. Im Kalten Krieg war Mitte der

Prellbock zwischen Ost undWest. Bes-
tens gelegene Grundstücke blieben un-
genutzt, die Mauer zerschnitt das Zen-
trum der Stadt. Seit derWiedervereini-
gung hat sich Berlin so stark verändert
wie keine andere deutsche Stadt– und
Peter treibt dieserWandel um. Am
Hackeschen Markt wird seine Stimme
laut. «Das war früher ein Arbeitervier-
tel», sagt er. Heute flanieren hierTou-
ristenzwischen Boutiquen, und Hipster
verabreden sich zumTapas-Essen.
Am Hackeschen Markt muss man die
Spur en des Sozialismus mit der Lupe su-
chen, unweit des Berliner Doms stehen
sich Ost- undWestberlinaber buch-
stäblich gegenüber. Neben dem riesigen
Neubau desAussenministeriums liegt

ein Plattenbau mit sozialistischerFas-
sadenkunst.Peter ist sich sicher: Hier
leben noch Mieter, die einst im Staats-
apparat der DDR arbeiteten. Er zieht
die Augenbrauen zusammen, und auf
seiner Stirn bilden sichFalten.In der
DDR wurde der Staat als Ersatzreligion
propagiert, was ihm suspektwar. Das
trieb ihn damals in denWesten.
Kurz nach seiner Flucht wollte die
«Bild»-Zeitung ihren Lesern den sport-
lichen jungen Mann präsentieren.Das
Interview wurde fürPeter zur ersten
negativen Erfahrung in der neuen Hei-
mat. Er sei überheblich behandelt wor-
den. Man habe ihmWurstbrötchen an-
geboten, mit der Bemerkung, so etwas
kenne er ja gar nicht. Man habe ihn als
mittellos abgestempelt.Peter war aber
mit 5000 Mark imPortemonnaie geflo-

hen – in der DDR getauscht, zu einem
unverschämtenWechselkurs.Das Geld
hatte er alsPortier in dem Hotelhoch-
haus amAlexanderplatz verdient.

30 Jahre Schweigen


Nach dem Interview vergehen 30Jahre,
bis Peter wieder öffentlich über seine
Erf ahrungen spricht.Allerdings blieb
der Abdruck des Gesprächs nicht ohne
Wirkung. Der damalige Bundespräsi-
dent Richard vonWeizsäcker hatte es
offenbar gelesen. Als er einAufnahme-
zentrum für Mauerflüchtlinge besuchte,
erkannte erPeter und sprach ihn an.
Der erzählte ihm von der gescheiterten
Flucht seiner beiden Gefährten.Weiz-
säcker sagte, Peter müsse sichkeine Sor-
gen machen.Die Bundesrepublik kaufte
die beiden Männer wie viele andere
Flüchtlinge frei.
Peter entkam demRegime, doch der
eigenenBiografiekannniemandentflie-
hen. Noch heute klagt er, dass ihm die
DDR eine Sportkarriere verbaut habe
und dass er mit 24Jahrenkomplett neu
habe anfangen müssen. Mit der Abnei-
gungmancherWestdeutschergegenOst-
deutsche hatte er nicht gerechnet. In den
Köpfen der Deutschen,sagt er , habe sich
ein Zerrbild der DDR festgesetzt.Peter
lobtderenBildungssystemundschwärmt
von dem Meister, der ihn einst zum Hei-
zungsinstallateur ausbildete. Man habe
im Osten viel improvisieren müssen und
sich stets gegenseitiggeholfe n.
Der feste Zusammenhalt, der Er-
findungsreichtum in der Mangelwirt-
schaft:Es sind Sätze, die man immer
wieder von Ostdeutschen zu hören be-
kommt.«Wir mussten mit wenig leben,
und das ist eineKunst»,sagt Peter und
fügt hinzu: «Man kannauch stolzsein,
dass man diesenWeg gehen musste.»
Die Mauer ist und bleibt einTeil seines
Lebens; nicht nur mental, auch mate-
riell. Sein Büro am Eingang der Bun-
despressekonferenz liegt direkt auf der
ehemaligen innerdeutschen Grenze. Ein
langes Mauerstück erinnert hier an die
deutscheTeilung – und eineVergangen-
heit, die nicht vergangen ist.

Torsten Peter
Ehemaliger Mauer-
flüchtling, heute
Pförtner der Bundes-
NZZ pressekonferenz

DerBlickauf dieBerliner Mauer in derBernauer Strasse–eine Gedenkstätteerinnert hier heute an die Radikalität, mit derDeutschland einstgeteilt wurde. AKG

Die Touristen erkunden
hier die deutsche
Geschichte, doch er
erkundet seine eigene,
die ihn wie einen
Schatten verfolgt.
Free download pdf