Neue Zürcher Zeitung - 08.11.2019

(Steven Felgate) #1

INTERNATIONALE AUSGABE


Freitag, 8. November 2019 WIRTSCHAFT 7

Das Währungsmonopol der Notenbanken wird


von privaten Währungen wie Libra herausgefordert SEITE 9


Der «Wirtschaftsweise» Volker Wieland


verteidigt die Schuldenbremse in Deutschland SEITE 11


Warum die Pensionskassen so wenig zahlen


Trotz Renditen vongegen 10 Prozent seit Jahresbeginn dürftendie Vorsorgekassen den Erwerbstätigen nur 2 bis 3 Prozent Zins gutschreiben


HANSUELI SCHÖCHLI


Leider hat die SchweizerPolitik keine
Macht über dieWettergötter. So ver-
zichtet sie wohlweislich darauf, via Ge-
setz oder Verord nungWetterbefehle
für diekommendenJahre zu geben.
Immerhin scheinen die SchweizerPoli-
tiker grosse Macht über die weltweiten
Finanzmärkte zu haben. Zumindest tun
die Schweizer so, denn sie machen in
der Altersvorsorge denPensionskassen
durch den gesetzlichen Umwandlungs-
satz für dieRentenberechnung faktisch
Mindestvorgaben für garantierte An-
lage renditen zugunsten derRentner.
Die Vorgaben sind zwar gemessen an
der Realität klar zu hoch, doch dieses
aus Sicht derPolitik läppische Problem


lässt sich durch versteckte Umverteilun-
gen von einigen Milliarden proJahr zu-
lasten derJüngeren verdrängen. Man
sollte nur nicht gross darüberreden.
Auch die jährlicheVerzinsung der
Altersguthaben für Erwerbstätige unter-
liegt in der beruflichenVorsorge Min-
destvorgaben derPolitik. Der Bundesrat
hat am Mittwoch beschlossen, dass diese
Alt ersguthaben im obligatorischenTeil
der beruflichenVorsorge (BVG) im Jahr
2020 mit mindestens 1%zu verzinsen
sind. Bei einer erwartetenTeuerung von
etwa0,5%entsprächedieseinerRealver-
zinsung von rund 0,5%. Der Bundesrat
folgt mit seinem Entscheid der Empfeh-
lung derBVG-Kommission, in der Lob-
byisten und Experten sitzen.
Die BVG-Kommission stützt sich in
ihren Empfehlungen auf eineFormel,
in welche dieRendite der zehnjährigen
Bundesobligationen und typische An-
lagerenditen vonPensionskassen über
die vorangegangenen dreiJahre gemäss
einem einschlägigen Index(PictetBVG-
25plus) einfliessen.Dummerweise kam
dieseFormel imAugust imVorfeld der


Empfehlung derBVG-Kommission auf
eine Mindestverzinsung von nur 0,5%.
Doch dieKommission empfahl aus poli-
tisch-ästhetischen Gründen dennoch
1% – nach dem inoffiziellen Motto «mög-
lichstkeineMindestverzinsungunter1%».
Da bereits die BVG-Kommission
den Formelwert politisch übersteuert
hatte , konnte sich der Bundesrat nun im
Unterschied zumVorjahr zurücklehnen
und übernahm einfach die Empfehlung
der Kommission. Die Regierung ver-
wies in ihrer Mitteilungvom Mittwoch
unter anderem auf die bisher hohenAn-
lage renditen derPensionskassen in die-
sem Jahr. Das ist ein Lehrbuchbeispiel
für Asymmetrie: Als der Bundesrat vor
Jahresfrist die Empfehlung derBVG-
Kommission von 0,75 auf 1% «aufge-

bessert»hatte , spielten die bis dahin in
jenemJahr nur magerenAnlagerenditen
der Pensionskassen von 0,5% offenkun-
dig keine wesentlicheRolle.

Viele sind über demMinimum


Dennoch beeindrucken die Anlage-
renditenin diesem Jahr. Bis Ende Sep-
tember dürften diePensionskassen ge-
mäss einschlägigen Indizes eine An-
lagerendite von durchschnittlich gegen
10% erreicht haben.Angesichts dessen
erscheint die vom Bundesrat beschlos-
sene Marke von 1% mickrig. Doch die-
ser Eindruck täuscht. Zum einen hatte
die von derBVG-Kommission beschlos-
sene Berechnungsformel wie angetönt
einenWert unter 1% ausgespuckt, und

die Anlagerenditen vom laufendenJahr
werden in denFolgejahren in dieFor-
mel einfliessen.
Zum andern ist dieVorgabe desBun-
desrats nur ein Minimum; die Kassen
dürfen darüber hinausgehen, und viele
werden dies auch tun. Erreichen die
Pensionskassen für das Gesamtjahr 20 19
eineAnlagerendite von durchschnittlich
10%,dürften dieAltersguthaben der er-
werbstätigenVersicherten laut einem
Branchenexperten im Mittel mit etwa 2
bis 3% verzinst werden.
Zudem sind die bisher grossen Ge-
winneandenAktien-undObligationen-
märkten in diesemJahr vor allem einem
nochmaligen Sinken des Zinsniveaus zu
verdanken, wie der befragtePensions-
kassenexpertebetont.Erfügthinzu,dass

die Pensionskassen einen grossenTeil
der diesjährigenRenditen zurFinanzie-
rung einer weiteren Senkung des «tech-
nischen Zinssatzes» und zur Erhöhung
der Schwankungsreserven brauchen.
Der technische Zinssatz entspricht
im Prinzip einer im langfristigenDurch-
schnitt erwarteten Nominalrendite der
Pensionskassen, welche diesen Satz zur
Rückrechnung künftigerVerpflichtun-
gen auf den heutigenBarwert verwen-
den; je tiefer dieser Zinssatz liegt, desto
höher sind aus heutiger Sicht dieVer-
pflichtungen. So stünde zum Beispiel
eine in zehn Jahren fällig werdende
Verpflichtung von 1000 Fr. heute bei
einem Zinssatz von 4% mit 675Fr. in
den Büchern,bei einem Zinssatz von
1% aber mit über 900Fr. Sollte künf-
tig das Zinsniveau steigen,können die
Kassen möglicherweise den technischen
Zinssatz erhöhen, doch im Gegenzug
wäre mit erheblichen Anlageverlusten
zu rechnen – und dies wohl nicht nur
bei den Obligationen.

HoheGarantien für Rentner


Die Kassen müssen überdies das Kapi-
tal derRentner weit höher verzinsen als
jenes der Erwerbstätigen.Viele laufende
Renten sind gemessen an der Lebens-
erwartung und den erwarteten Anlage-
renditen stark überhöht. Der angewen-
dete Umwandlungssatz zur Berechnung
der Jahresrenten enthält im Mittel aller
derzeitigenRentner in der beruflichen
Vorsorge eineRenditegarantie vonetwa
4 bis 4,5% proJahr. Für garantierteRen-
ditenist dies ein enorm hoherWert;
«risikolose» Anlagen (Bundesobligatio-
nen)rentieren derzeit unter null.
Die erwerbstätigen BVG-Versicher-
ten erhielten derweil inden letztenfünf
Jahren im Schnitt nur eineVerzinsung
von knapp2% proJahr;der Unterschied
zur Renditegarantie für dieRentner
geht jährlich in die Milliarden.DasVer-
hältnis zwischen demAusmassder Rent-
nergarantien und der jährlichenVerzin-
sung für die Erwerbstätigen funktioniert
wie bei einerWippe: je höher dieRent-
nergarantien,desto tiefer dieVerzinsung
für die Erwerbstätigen.

ErwerbstätigeBVG-Versicherteerhieltenind enletztenfünfJahrenimSchnitteineVerzinsungvonknapp2%proJahr. KEYSTONE

Absurde Eingriffslust
der Politik
Kommentar auf Seite 19

NZZ SWISS INTERNATIONAL FINANCE FORUM


«Ich bi n kein geborener Rebell»


Der frühere britische Schatzkanzler Hammond spricht im Rahmen des SIFFüber die Tories, den Brexit und die Zukunft der britischen Finanzbranche


Herr Hammond, Sie sind für viele die
Verkörperung eines Konservativen.
Weil Sie sich gegen Premierminister
Boris Johnson stellten, wurden Sie aus
der Parlamentsfraktion derTories aus-
geschlossen.Wie fühlen Sie sich in der
Rolle einesRebellen?

Ich binkein geborenerRebell. In den
mehr als 22Jahren im britischenParla-
ment habe ich mich nie gegen diePartei-
linie gestellt. Der Brexit hat dies verän-
dert.MeineRebellion hat einen sehr en-
gen Fokus: Ich möchte einen ungeregel-
ten Austritt desKönigreichs aus der EU
verhindern.Dasmacht mich aber nicht
zum Rebellen. Dies ist auch einer der
Gründe, warum ich nicht als unabhän-
giger Kandidat bei derParlamentswahl
im Dezember antreten werde.


Sie bleiben also loyal?
Es ist einePartei, die ich 45Jahre lang
unterstützt habe. Ich stimmemit der
Philosophie derTories bei f ast allem
überein. Es gibt einige Meinungsunter-
schiede zwischen manchen Mitglie-
dern der derzeitigenRegierung und
mir, diese sind aber marginal. Es geht


vor allem um die relativeBedeutung
unseres Handels mit Europa gegenüber
de m potenziellen Handel mit demRest
der Welt.

Man hat dennoch den Eindruck, dass
es bei den Spannungen innerhalb der
Tories um die Seele derPartei geht.
Die Konservativen sind eine erfolg-
reiche Partei, weil sie höchst pragma-
tisch ist.Wir haben uns über dieJahr-
hunderte undJahrzehnte gewandelt.Wir
hatten schon immer ein breites Spek-
trum an Leuten, die sehr unterschied-
licher Meinung sind,wie bei der Europa-
Frage oder bei Sozialthemen. Mit der
Brexit-Frage sind aber diese Spannun-
gen an die Oberfläche gekommen.

Könnte dieWahl im Dezember ein
Momentsein,indemsichdieParteiwie-
der verändert oder gar spaltet?
Zwei Dinge dazu:Erstens wird dieWahl
die Zusammensetzung derKonservati-
ven imParlament verändern.Dies hängt
auch damit zusammen, dass diePartei
andere Bevölkerungsteile als früher an-
sprechen wird. Es kann sein, dass es da-
durch zu einer Neuorientierungkommt.
Zweitens ist unserWahlsystem aber un-
gnädig gegenüber kleinerenParteien.
Der institutionelle Druck ist deshalb
gross , intakt zu bleiben.

WiesiehtIhreVorhersagezurWahlaus?
Ich machekeine Vorhersage. Dies ging
schon bei derWahl 20 17 daneben. In der
Wahlkampagne kann noch viel passieren.

Sie gehen aber davon aus, dass der Bre-
xit zustande kommt.
Dieskönnte einzig verhindert werden,
wenn nicht dieTories dieRegierung an-
führen werden und dasParlament davon
überzeugt wird,einem zweitenReferen-
dum zuzustimmen.Ich glaubenicht,dass
dies passieren wird.

Dann dürfte es einen Brexit nach dem
von Johnson verhandelten Abkom-
men geben.Wie schätzen Sie denDeal
gegenüberjenemvonTheresa Mayein?
Als dieser verhandelt wurde, waren Sie
Schatzkanzler.
Der Deal von May sah eineRückfall-
position, denBackstop, für das gesamte
Land und nicht nur für Nordirland vor.
Dies war für uns eineArt Garantie, dass
die zukünftigePartnerschaft mit der EU
eine enge Handelsbeziehung sein wird.
Zudem bedeutete derBackstop auch,
dass eskeine Grenze zwischen Nord-
irland und demRest desKönigreichs
geben wird.DasAbkommen von Boris
Johnson ist anders.Theresa May hätte
auchschonein solchesabschliessenkön-
nen. Die EU schlug einsolchesAbkom-
men vor. May hatte dieses aber abge-
lehnt, weil siekeine Grenze zwischen
Nordirland und demRest desLandes
akzeptieren wollte. Dennoch kann der
Deal vonJohnsondenWeg für eine pro-
blemlose Zukunft ebnen.

Wie sähe ein gutesAbkommen aus?
Ein Deal muss danach beurteilt wer-

den, ob es derRegierung gelingt, ein
umfassendesPartnerschaftsabkommen
mit der EU zu erreichen, bei dem die
Grenze zwischen Nordirland und dem
Rest desLandes offen bleibt und bei
dem Grossbritannien einen offenen
Zugang zum EU-Markt hat und um-
gekehrt.

Die Brexit-Saga geht alsoweiter.
In Wahrheit beginnen jetzt erst die ech-
ten Verhandlungen über die zukünf-
tige Beziehung. Manche meinerKolle-
gen denken, dass dies in sechs Monaten
möglich sei. Die Mehrheit der Experten
meint aber, dass dies ambitiös sei.

Ist ein ungeregelter Brexit noch mög-
lich?
Unmittelbar wird eskeine n geben. Es
besteht aber die Gefahr, dass nach der
Übergangsphase bis Ende 2020 ein sol-
cher Brexit zustandekommenkönnte,
wennkeinAbkommenverhandeltwurde.
Interview: Gerald Hosp

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Forum findenSie auf der Seite 9.

Philip Hammond
ehemaliger britischer
REUTERS Schatzkanzler
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