Mittwoch, 6. November 2019 WIRTSCHAFT 23
Klaus Regling, Chef des europäischen Rettungsfonds
ESM, wehrt sich gegen Kritik aus Deutschland SEITE 25
Der amerikanische Biotechkonzern Incyte
hat grosse Pläne in der Westschweiz SEITE 26
Bessere Chancen für getrennte Steuern bei Ehepartnern
Im Parlament bahnt sich eine Mehrheit an – im Volk ist die Ehe laut neuen Datentrotz Steuermalus beliebt
HANSUELI SCHÖCHLI
Seit langem diskutieren diePolitiker in
Bern über die steuerliche Heiratsstrafe.
Die Diskussion hat auch nachReformen
von 2008 und 2011, die Entlastungen für
Ehepaarebrachten, nicht aufgehört. Seit
der Bund 20 18 seine Zahlenkorrigiert
hat, darf man nun in Sachen Bundes-
steuern (nicht aber bezüglich kantona-
ler Belastungen) auch wieder von einer
Heiratsstrafereden,ohnerot zu werden.
Denn laut denkorrigierten Schätzungen
sind deutlich mehr Ehepaare gegenüber
Konkubinatspaaren steuerlich benach-
teiligt als bevorteilt.
Doch insgesamt scheinen dieVor-
teile der Ehe deren Nachteile aus
Sicht der Betroffenen weiterhin klar zu
überwiegen. Dies bestätigen die diese
Woche publiziertenDaten des Bun-
desamtes für Statistik zu denFormen
des Zusammenlebens. Basis war eine
Erhebung von 20 18 bei knapp 17000
Personen. Demnach sind 81% der in
einerPaarbeziehungFrau/Mann leben-
den und zusammenwohnendenPerso-
nen ab 25Jahren verheiratet. Bei den
Paaren mit gemeinsamen Kindern liegt
der Anteil derVerheirateten gar bei
93%.DieEhe ist alsokeinAuslauf-
modell. Dies kann anrechtlichenVor-
teilen liegen (etwa in der Altersvor-
sorge, im Erbrecht und imAusländer-
recht), und es kann auch ganz andere
Gründe haben.
Dauerhafte Notlösung?
Dennoch bleibt dieForderung nach der
Abschaffung der steuerlichen Heirats-
strafe in der Bundespolitik populär,
weilPolitiker glauben, damit imVolk
zu punkten. Doch über die Art der
Reform herrschte imParlament bis-
her chronische Uneinigkeit. DieWirt-
schaftskommission des Ständerats hat
vergangenen Monat mit 7 zu5Stim-
men eine Motion für eine «Übergangs-
lösung» beschlossen, da es bis zumVor-
liegen einer grösserenReform voraus-
sichtlich noch mehrereJahre dauern
werde. Die Motion fordert konkret
eine Erhöhung des Sozialabzugs und
des Zweiverdienerabzugs für Ehepaare.
Dies soll Ehepaare proJahr um etwa
1Mrd.Fr. entlasten. Die Stossrichtung
ist die gleiche wie bei derRevision, die
2008 in Kraft trat; jeneVorlage brachte
bereits eine Erhöhung des Zweiver-
dienerabzugs und führte einen Sozial-
abzugfür Ehepaareein.
Der neusteVorschlag der Ständerats-
kommission hat wie jederReformvor-
schlagVor- und Nachteile.Das Modell
beseitigt gewisse Ungerechtigkeiten
und schafftdafür neue.Es erhöht die
Arbeitsanreize für gewisseZweitverdie-
ner, aber nicht so stark, wie dies andere
Modelle täten. Und dieSache liesse sich
wenigstens im Prinzip durch die Höhe
der Abzüge so austarieren, dass die Be-
lastungen fürVerheiratete und fürKon-
kubinatspaareauf Ebene der Gesamt-
gruppen (aber nicht für alle Einzelfälle)
ähnlich sind; Belastungsdifferenzen zwi-
schen Einverdiener- und Zweiverdiener-
Ehepaaren werden derweil auch in die-
sem Modell vorkommen.
Die als Übergangslösung verkaufte
Idee wäre wohl faktisch eineDauer-
lösung – wenn sie denn imParlament
eine Mehrheit fände.Letzteres ist aller-
dings unwahrscheinlich, besonders seit
den Parlamentswahlen von diesem
Herbst. Sukkurs für den genanntenVor-
schlagkommt vor allem aus der CVP
und derSVP,doch das wird in beiden
Parlamentskammern bei weitem nicht
für eine Mehrheitreichen.
ZweiDrittel mit klarem Ja
Deutlichgestiegen sind mit den jüngsten
Parlamentswahlen dagegen die Chancen
für die Individualbesteuerung von Ehe-
partnern.Einen solchenSystemwech-
sel befürworten vor allem der Links-
block, die FDP und die Grünliberalen;
der Linksblock und die Grünliberalen
haben in den jüngstenWahlen deutlich
zugelegt.Hinweiseliefert auch eineAus-
wertung der Antworten zumFragen-
katalog von Smartvote. Die hier mass-
gebendeFrage: «Sollen Ehepaare ge-
trennt als Einzelpersonen besteuert
werden?»Von den189 gewählten Natio-
nalräten, die denFragebogen ausfüllten,
sprachen sich 125 klar für die Individual-
besteuerung aus, weitere 19 sagten «eher
Ja».Die Zusammensetzung im neuen
Ständerat ist derweil nochnicht klar; zu
erwarten ist allerdings, dass der Links-
block und die FDP zusammen die Mehr-
heit haben werden.
Von einem generellenJazur Indivi-
dualbesteuerung bis zur Unterstützung
einerkonkretenVorlage kann es aller-
dings für gewissePolitiker noch ein gros-
ser Schritt sein. Ein potenzielles Hin-
dernis ist derWiderstand der Kantone
gegen die Individualbesteuerung, etwa
wegendes befürchteten administrativen
Mehraufwands; dieserWiderstand mag
vor allem im Ständerat Spuren hinter-
lassen. Mögliche Hindernisse sind auch
die erwarteten Einnahmeneinbussen
für denFiskus und juristische Beden-
ken wegen starker Ungleichbehandlung
von Einverdiener- und Zweiverdiener-
Ehepaaren in gewissen Modellen. Die
Debatten in den letzten zwanzigJa h-
ren haben es immer wieder gezeigt:
Das Idealmodell ohne Nachteile exis-
tiertnicht.
Verteilkampf für die Nach-Brexit-Ära
Berlin will nicht zu viel zahlen und Warschau auf nichts verzichten – die EU-Kommission präsentiert Zahlen zum Langfrist-Budget
Die EU-Kommission erwägt in
ihren Haushaltplänen für die Zeit
nach dem BrexitKürzungen
bei den Subventionen fürPolen
und Ungarn.Dagegen wehrt man
sich in Osteuropa.
CHRISTOPH G. SCHMUTZ, BRÜSSEL
Es bleibt noch mehr als einJahr Zeit
für eine Einigung, doch dieFetzen flie-
gen schon jetzt. Alle siebenJahre ver-
suchen die EU-Staaten, sich auf ein ge-
meinsames mehrjähriges Budget zu ei-
nigen.Der nächste solcheFinanzrahmen
(MFR) muss Ende 2020 bereit sein und
deckt diePeriode 2021 bis 2027 ab. Die
Debatte darüber lässt die sonst verdeck-
ten Gräben zwischen denMitgliedstaa-
ten deutlich werden.Aus Berlin wurden
der Presse Zahlen zugespielt, die eine
Steigerung der deutschen Nettobei-
tragszahlungen für diesen ersten MFR
nach dem Brexit um 100% suggerierten.
Offiziell bekannte sich niemand zu den
Zahlen, doch die implizite Botschaft war
klar: Schaut her, wie tief wir nach dem
Austritt Grossbritanniens insPortemon-
naiegreifen müssen.
Ein Theater in mehreren Akten
Das erboste den zuständigen Budget-
kommissar der EU, den Deutschen Gün-
ther Oettinger. Er rief das Pressekorps
in Brüssel zusammen und dozierte dar-
über, dass solche Nettozahlen grober
Unfug seien – und wenn man sie dann
doch heranziehe, dann seien dieWerte
deutlich niedriger als behauptet.
Am Dienstag folgte der nächste Akt,
diesmal in Prag. Dort trafen sichVertre-
ter jener 16 EU-Mitgliedstaaten, die von
2014 bis 20 18 imDurchschnitt proJahr
am meisten Gelder aus dem Haushalt er-
halten haben.An der Spitze dieserRang-
liste steht mit einigem AbstandPolen
(11 Mrd. €), vorRumänien, Ungarn und
Griechenland (je rund 4,5 Mrd. €). Diese
«Freunde derKohäsion» forderten in
einer gemeinsamen Erklärung, dass die
entsprechenden Zahlungen innerhalb
der EU vonreichen Staaten an ärmere
Länder nicht wie von der EU-Kommis-
sion vorgeschlagen gekürzt, sondern viel-
mehr auf dem Niveau von 20 14 bis 2020
beibehalten werden.
Auch am Dienstag trat in Brüs-
sel GertJanKoopman, der General-
direktor der Budgetabteilung der EU-
Kommission, vor die Medien. Er wollte
etwas Ordnung in den Zahlensalat
bringen und den bereits 20 18 vorgeleg-
tenKommissionsvorschlag bewerben.
Allerdings legte auch erkeine Netto-
beitragszahlen für einzelneLänder vor,
wie dasOettinger fürDeutschland ge-
macht hatte. Berlin soll laut dem Plan der
Kommission von 2021 bis 2027 jährlich
imDurchschnitt knapp 33 Mrd. € nach
Brüssel überweisen.Das ist die höchste
Summe aller Mitgliedstaaten.In der der-
zeit noch laufendenPeriode liegt der
Betrag bei 25 Mrd. €. Deutschland er-
hält aber auch direkt etwas zurück, bei-
spielsweise Agrarsubventionen und auch
in geringem UmfangKohäsionsgelder.
Zieht man die verschiedenenRückflüsse
ab, trägt Berlin laut Oettinger 2021 als
Nettozahlerrund 18 Mrd. € zum EU-
Haushalt bei und 2027 etwa 24 Mrd. €.
Alle sollen mehreinzahlen
Welche Zahlen man auch nimmt, eine
Botschaft ist klar: DieKommission will,
dass alle Mitgliedstaaten nach dem Ab-
gang des wichtigen Nettozahlers Gross-
britannien etwas mehr in den EU-Topf
einzahlen. Zudem sollen sämtlicheRa-
batte gestaffelt über mehrereJahre ver-
schwinden, die im Zusammenhang mit
Extrawürsten für London eingeführt
worden waren. Sie führten zur bemer-
kenswertenTatsache, dass gemessen am
Bruttonationaleinkommen (BNE) – ein
bei grossen Staaten mit dem Brutto-
inlandprodukt (BIP) vergleichbares
Mass – diereichenLänder Niederlande,
Schweden, Deutschland, Dänemark
und Österreichrelativ gesehen 2020 am
wenigsten beisteuern. Ihr Beitrag liegt
bei 0,7% des BNE, derjenige derLän-
der mit unterdurchschnittlichem BIP
proKopf bei0,85%.
Die EU-Kommission will die Mit-
glieder aber nicht nur wegen des Bre-
xits um höhere Beiträge bitten. Der Er-
satz der fehlenden Gelder aus Grossbri-
tannien macht nämlich «nur» 13% der
von Brüssel angestrebten höheren Ein-
zahlungen aus. Ein deutlich grösserer
Teil des Anstiegs (40%) geht aufKosten
der Inflation über diePeriode von sie-
benJahren, nochmals 20%ergeben sich
aus demWirtschaftswachstum.Rundein
Viertel schliesslich istfürneue und mehr
Ausgaben, etwa in den Bereichen Digi-
talisierung,Forschung,Klimaschutzund
Grenzschutz, vorgesehen.
Doch Oettinger plant auch Umschich-
tungen. Erwill insbesondere die traditio-
nell grössten Budgetposten, Agrarsub-
ventionen undKohäsion, kürzen. Die am
Dienstag veröffentlichten Zahlen zeigen
nun, dass derKommissionsvorschlag für
den nächsten MFR insbesonderePolen
und Ungarn stark belastet. Diese müss-
ten nämlich – neben höheren Beiträgen
- auch empfindlicheReduktionen der
Fördergelderhinnehmen. Entsprechend
überrascht der Protest der «Freunde der
Kohäsion» in Prag wenig.
Insbesondere die Agrarsubventio-
nen sind jüngst durch eine umfangreiche
Recherche der «NewYorkTimes» zu-
sätzlich unter Druck geraten.Das ame-
rikanische Blatt hat aufgezeigt, dass bei-
spielsweise in Ungarn grosse Summen
di rekt anVertraute des Premierminis-
tersViktor Orban fliessen. Die Zeichen
stehen in der Budgetdebatte also vorerst
auf Sturm. Eine Einigung vor Ende 2020
wäre eine Überraschung.
Insbesondere im Agrarsektorplant die EU-KommissionKürzungen.Tomatenernteim OstenPolens. WOJCIECHPACEWICZ / EPA