DPA
/ MICHAEL KAPPELER
bleibt, droht folgendes Szena-
rio: Deutschland nimmt dann
die „legalen“ Quotenflüchtlinge
auf – und illegale Migranten wie
bisher zusätzlich.
Das bisherige Gemeinsame
Europäische Asylsystem mit
der Dublin-Verordnung ist nur
die Antwort auf die Abrüstung
der nationalen Grenzen. Auf
keinen Fall wollten die damali-
gen Regierungen der nördli-
chen EU-Staaten, dass nun alle
in den südlichen Ländern an-
kommenden Migranten einfach
nach Norden weiterreisen kön-
nen, um dort Asyl zu beantra-
gen. Deswegen wurde mit den
Dublin-Verordnungen festge-
legt, dass in der Regel der Er-
steinreisestaat zuständig ist –
es gibt aber viele Ausnahmen,
etwa für Kranke, Minderjährige
oder Migranten, die schon An-
gehörige in einem anderen
Staat haben.
All diese Ausnahmen sowie
die EU-Freizügigkeit für Asyl-
zuwanderer mit Aufenthaltsti-
tel und vor allem die illegale
Weiterwanderung haben dazu
geführt, dass trotz „Dublin“ die
reichen Staaten im Norden fast
immer stärker belastet waren,
als die Ankunftsstaaten. Das
war nichts neues: Seit es illega-
le Einwanderung aus anderen
Kontinenten nach Europa in re-
levantem Umfang gibt, also ab
den späten 70er-Jahren, sind
Deutschland, Frankreich und
die Benelux-Länder Hauptziele.
Dort gab und gibt es bessere Ar-
beit, einen tragfähigeren Sozi-
alstaat und eine größere Dia-
spora, die das Leben in der
Fremde leichter macht. Man
kann in die Daten der Statistik-
ämter blicken, um zu erkennen,
dass in den angeblich am stärk-
sten belasteten Südländern ein
geringerer Anteil der Bevölke-
rung zugewandert ist. So be-
trägt der Anteil der im Ausland
geborenen Bevölkerung in Ita-
lien laut OECD zehn Prozent
(6,1 Millionen), in Griechenland
sechs Prozent (0,6 Millionen)
und in Deutschland 16 Prozent
(13,2 Millionen). Auch die Asyl-
statistik zeigt, dass Deutsch-
land im Vergleich mit Italien,
Spanien und Griechenland be-
reits seit den Anfängen des
Schengenraumes Mitte der
1980er-Jahre und auch nach
dem Inkrafttreten des Dublin-
Übereinkommens 1997 die mei-
sten Asylanträge verzeichnete.
In einem bemerkenswerten
AAAufsatz in der „Zeitschrift fürufsatz in der „Zeitschrift für
Gesetzgebung“ hat der Göttin-
ger Europarechtler Frank
Schorkopf im Frühjahr unter
der Überschrift „Die Dublin-III-
chorkopf im Frühjahr unter
er Überschrift „Die Dublin-III-
chorkopf im Frühjahr unter
VVVerordnung als Sinnbild dys-erordnung als Sinnbild dys-
fffunktionaler EU-Gesetzge-unktionaler EU-Gesetzge-
bung“ eine kritische Bestands-
aufnahme geliefert. Das Dublin-
Recht sei eine „unionsrechtli-
che lex imperfecta, die seit zwei
Jahrzehnten in juristischer Kon-
struktion wie administrativem
VVVollzug dysfunktional ist undollzug dysfunktional ist und
Zahl zu bewegen? Und: Heute
scheitern viele Abschiebungen
daran, dass die Identität der Be-
troffenen nicht zweifelsfrei
festgestellt werden kann oder
die abgelehnten Asylbewerber
untertauchen.
Das Hauptproblem ist aber:
Jeder Plan für eine Reform des
geltenden dysfunktionalen EU-
Asylsystems ist unausgegoren,
solange nicht geklärt ist, wie die
unerlaubte Weiterreise ge-
stoppt wird. Das Dublin-System
funktioniert ja vor allem deswe-
gen nicht, weil die illegal Wei-
terwandernden weit überwie-
gend nicht wieder in den zu-
ständigen Staat abgeschoben
werden, in dem sie zuerst EU-
Boden betreten haben. Dieses
Problem endet auch nicht,
wenn man auf Quotenaufnah-
me umschwenkt, so wie Seeho-
fer dies nun vorschlägt. Die Fra-
ge ist: Was würde geschehen,
wenn Deutschland ungefähr 25
Prozent aller in Griechenland,
Italien und anderswo ankom-
menden Flüchtlinge nach einer
Quote aufnehmen würde und
trotzdem weitere Flüchtlinge
oder abgelehnte Asylbewerber
von dort oder aus anderen Staa-
ten unerlaubt einreisen? Nach
der aktuellen Rechtsauffassung
von CDU-Führung und SPD
darf man sie nicht an der Ein-
reise hindern. Daran hat sich
Seehofers CSU im vergangenen
Jahr vergeblich abgearbeitet.
Falls es bei diesen Differenzen
I
m Spätherbst seiner politi-
schen Karriere versucht
Horst Seehofer (CSU) noch
einmal, die ganz große Re-
form anzustoßen. Nachdem im
Juni 2018 seine Forderung nach
Zurückweisung von unerlaubt
einreisenden Asylbewerbern di-
rekt an der deutschen Grenze
von der CDU-Führung ausge-
bremst wurde, soll nun eine Re-
form des Gemeinsamen Euro-
päischen Asylsystems her.
VON MARCEL LEUBECHER
In den vergangenen Monaten
hatte der Bundesinnenminister
nicht an Kritik am bestehenden
Dublin-System gespart, jenem
Kern des Asylsystems, das re-
gelt, welcher Staat für einen
Asylbewerber zuständig ist.
Auch hatte Seehofer durchblic-
ken lassen, dass er in seinem
Ministerium an einem Alterna-
tivplan arbeiten lässt. Als er vor
einigen Wochen in Luxemburg
erfolglos versuchte, möglichst
viele EU-Staaten zur Quoten-
aufnahme von im Mittelmeer
aufgegriffenen Bootsmigranten
zu bewegen, deutete er schon
an, dass dies ein „Pilotprojekt“
für eine gemeinsame europäi-
sche Asylpolitik sein könnte.
Deutlicher wurde er am
Dienstag in München beim
G-6-Innenministertreffen der
sechs bevölkerungsreichsten
Staaten der EU: „Wir müssen
feststellen, dass das Dublin-
Verfahren gescheitert ist“, es
könne keine Grundlage mehr
für die weiteren Verhandlungen
sein. Er habe die deutschen
Vorstellungen seinen Kollegen
präsentiert, demnach sollen an
den EU-Außengrenzen bereits
die Identitäts- und Sicherheits-
sowie auch eine erste Asylprü-
fung stattfinden. Asylbewerber
mit guter Prognose würden
dann von den EU-Staaten, die
wie Deutschland und Frank-
reich an der Aufnahme nach
einem Verteilmechanismus
mitmachen, aufgenommen und
bekämen dort das vollständige
Asylverfahren, „bei allen ande-
ren erfolgt an und von der Au-
ßengrenze“ die Rückführung
„in die Herkunftsländer“ durch
die Grenzschutzagentur Fron-
tex. Solche Hot Spots, aus de-
nen direkt abgeschoben wird,
hatte auch schon der EU-Rat im
Juni 2018 als Ziel beschlossen,
freilich ohne greifbaren Erfolg.
Wenn es nach Seehofer geht,
sollen schon in der ersten Jah-
reshälfte 2020 Gesetzesvor-
schläge erarbeitet werden, mit
denen die Reformen des Asylsy-
stems dann in der zweiten Jah-
reshälfte unter deutschem
Ratsvorsitz und einer deut-
schen Kommissionspräsidentin
in EU-Richtlinien übersetzt
werden.
Hier liegt auch der erste gro-
ße Knackpunkt der neuen Re-
formidee: Warum soll die EU-
Kommission bald schaffen,
woran sie seit vielen Jahren
kläglich scheitert, nämlich die
Herkunftsstaaten zur Rücknah-
me ihrer Staatsbürger in großer
die Mitgliedstaaten asymme-
trisch“ belaste. Für Schorkopf
ist das „zentrale Problem des
Dublin-Rechts die Sekundärmi-
gration“, also „die Weiterreise
von in die EU unrechtmäßig
eingereisten Drittstaatsangehö-
rigen aus dem Mitgliedstaat der
Antragstellung in einen anderen
Mitgliedstaat, ohne eine end-
gültige Entscheidung über den
Antrag abzuwarten“.
Exakt für dieses „zentrale
Problem“ von „Dublin“, also
die unerlaubte Weiterreise,
wurde bisher noch kein proba-
tes Gegenmittel vorgeschlagen,
auch wenn die Dublin-Verein-
barung ersetzt werden sollte.
Zuletzt scheute die Koalition
vor einem harten Einschnitt zu-
rück: Im Vorlauf des im Som-
mer verabschiedeten Gesetzes-
pakets zur Migrationspolitik
hatten Unionspolitiker darauf
gedrängt, unerlaubt nach
Deutschland weiterreisende
Asylbewerber von Soziallei-
stungen auszuschließen. Dieser
wirksame Schritt fand aber in
der schwarz-roten Koalition
keine Mehrheit.
Lediglich ein Leistungsaus-
schluss für schon als Flüchtling
Anerkannte wurde beschlossen.
Das betrifft zum einen nur we-
nige Tausend Fälle jährlich,
zum anderen können diese
auch dagegen klagen. Die EU-
Kommission schlug schon 2016
eine reformierte Dublin-IV-Ver-
ordnung vor, die weitere Asyl-
anträge in der EU abschaffen
sollte und nach der volle Sozial-
leistungen nur noch im zustän-
digen Staat gezahlt würden.
Doch diese Reform scheiterte.
Die künftige EU-Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der
Leyen (CDU) machte schon vor
WWWochen deutlich, dass sie einenochen deutlich, dass sie einen
neuen Anlauf zur Reform des
Gemeinsamen Europäischen
Asylsystems nehmen wolle. Sie
habe nie wirklich verstanden,
warum laut Dublin-Vereinba-
rung ein Migrant dort bleiben
müsse, wo er zuerst europäi-
schen Boden betritt, sagte sie im
Juli, offenbar in Unkenntnis der
rechtlichen und faktischen Lage.
Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) und Außenmini-
ster Heiko Maas (SPD) begrüß-
ten damals jedenfalls die An-
kündigung. Nun haben sie mit
Seehofers Plan konkrete Re-
formvorschläge auf dem Tisch.
Die Innenausschussvorsitzende
Andrea Lindholz (CSU) sagte
WELT: „Das Ziel, den individu-
ellen Schutzanspruch bereits
an den EU-Außengrenzen zu-
mindest kursorisch zu prüfen,
halte ich für absolut richtig.“
Die entscheidende Herausfor-
derung bei Seehofers Konzept
bleibe „die Rückführung der
Migranten, die keinen Schutz-
anspruch haben“. Hier habe die
EU ihre Möglichkeiten noch
nicht ausgeschöpft. Lindholz
denkt „dabei an europäische
Rückführungsabkommen, den
Visa-Hebel und weitere Maß-
nahmen, um die Rücknahmebe-
reitschaft der Herkunftsländer
zu erhöhen“.
Aufbruch ins
Ungewisse
Seehofers Plan zur Reform des EU-Asylsystems lässt
ungeklärt, wie die unerlaubte Weiterreise gestoppt wird.
Probleme bei der Abschiebung enden nicht,
wenn ein Verteilsystem etabliert wird
6 POLITIK DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 31. OKTOBER 2019