Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1

E


s gibt kein Altern für den Geist – so
lautete ein geflügeltes Wort des


  1. Jahrhunderts. Die schönste Be-
    gründung dafür, warum trotz aller unbe-
    streitbaren Befunde wie der Schwächung
    der Sinnesorgane und dem Schwinden der
    Gedächtniskräfte dieses Wort zutrifft, hat
    der große protestantische Theologe Fried-
    rich Schleiermacher entwickelt – bemer-
    kenswerterweise in den „Monologen“, ei-
    ner seiner Jugendschriften. Die „großen
    heiligen Gedanken, die aus sich selbst der
    Geist erzeugt“ seien nicht einfach abhän-
    gig „von der äußeren Glieder Gebrauch“.
    Das monumentale Alterswerk von
    Deutschlands wohl bedeutendstem leben-
    den Philosophen wirkt wie eine Bestäti-
    gung dieses tröstlichen Gedankengangs.
    Jürgen Habermas legt kurz nach seinem

  2. Geburtstag ein äußerst umfangreiches
    Werk vor, das nicht weniger zu geben bean-
    sprucht als eine umfassende Geschichte
    der „westlichen“ Philosophie seit ihren
    Ursprüngen in der Antike bis ins späte

  3. Jahrhundert. Keineswegs fasst hier ein-
    fach ein Denker in fortgeschrittenem Alter
    zu einer Summe zusammen, was ihn ein Le-
    ben lang und in seinen vielfältigen Schrif-
    ten beschäftigt hat. Wie der Autor selbst
    im Vorwort freimütig eingesteht, hat er vie-
    le der klassischen Schriften der philosophi-
    schen Tradition erst jetzt wirklich studiert.
    In der Tat waren die Bezüge auf fast alle
    Denker vor Kant in Habermas’ Lebens-
    werk immer recht spärlich gewesen, was
    manche Kollegen zu spitzen Bemerkungen
    verführte, er sei eigentlich doch mehr The-
    oretiker moderner Gesellschaft und Poli-
    tik als Philosoph. In dieser Weise nun über
    die eigenen bisherigen Grenzen hinauszu-
    gehen und ein Werk von höchster argumen-
    tativer Dichte, größtem Gedankenreich-
    tum und innerer Konsistenz vorzulegen,
    verdient Bewunderung und uneinge-
    schränkte Anerkennung.
    Niemand wird von dem meinungsstar-
    ken und streitfreudigen Habermas einen
    neutralen Überblick über geistesgeschicht-
    liche Entwicklungen erwartet haben. Sein
    Buch folgt denn auch einem klaren Leit-
    faden, nämlich der Frage nach dem Verhält-
    nis von Glauben und Wissen, die schon in
    der aufsehenerregenden Friedenspreis-
    rede von 2001 deutlich angeklungen war.
    Nach dieser Rede kam das Gerücht auf, Ha-
    bermas bereite nun ein umfangreiches
    Werk über Religion und Religionsgeschich-
    te vor. Davon kann beim nun vorliegenden
    Werk nicht wirklich die Rede sein, weil es
    Habermas nicht eigentlich um den Glau-
    ben oder die Religion geht, sondern um die



  • angebliche oder wirkliche – schrittweise
    Verselbständigung der Philosophie gegen-
    über religiösen und metaphysischen Vor-
    aussetzungen. Diese Selbständigkeit der
    Philosophie und des rationalen Argumen-
    tierens überhaupt ist es, was den Glutkern
    von Habermas’ Motivation ausmacht, sei-
    nen „heiligen Gedanken“, der auch seinen
    Blick auf die Geschichte der Philosophie
    und der Religion lenkt und leitet.


Habermas ist historisch viel zu gebildet,
um das Verhältnis von Philosophie und Re-
ligion als äußerliche Konkurrenz zu miss-
deuten und ihre Verbindung in der europäi-
schen Geistesgeschichte nachträglich zu
beklagen. Deshalb idealisiert er auch kein
vergangenes Zeitalter und träumt nicht
von einer Rückkehr ins antike Griechen-
land, weder zu Platon noch zu den Vorso-
kratikern, und schon gar nicht ins christli-
che Mittelalter. Energisch grenzt er sich
deshalb von Martin Heidegger, Leo Strauss
und auch Karl Löwith ebenso ab wie von
Carl Schmitt. „Erst im Lichte des Erbes,
von dem sich die Philosophie in ihrer nach-
metaphysischen Gestalt gelöst hat, er-
kennt man das Erbe, das sie angetreten
hat, in seinen richtigen Proportionen: die
Emanzipation zum Gebrauch der vernünf-
tigen Freiheit bedeutet Befreiung und nor-
mative Bindung in einem.“
Aus diesem Grundgedanken resultiert
die Einteilung der Philosophiegeschichte
in Phasen. Habermas beginnt, und das ist
durchaus originell, mit einer Anknüpfung
an die Idee von Karl Jaspers, in der „Ach-
senzeit“ Mitte des letzten vorchristlichen
Jahrtausends habe es in mehreren der gro-
ßen Weltkulturen vergleichbare Durchbrü-
che gegeben zu einem anspruchsvollen me-
taphysischen Verständnis von Transzen-
denz und einem „moralischen Universalis-
mus“, das heißt einem Ethos des umfassen-
den Bezugs zum Wohl aller Menschen und
nicht nur derer, mit denen wir in einem
Volk oder Staat ohnehin verbunden sind.


Was bei Jaspers noch in vielerlei Hin-
sicht bloß spekulativ und intuitiv war, ist
durch einen breiten Strom historisch-so-
ziologischer Forschung in den letzten Jahr-
zehnten immer mehr empirisch präzisiert
und bereichert worden, und Habermas
knüpft an die wichtigsten dieser Forschun-
gen (Shmuel Eisenstadt, Robert Bellah) mit
großer Ernsthaftigkeit an und weitet sogar
kurz den Blick in Richtung der asiatischen
Geschichte. Eigentlich aber führt ihn seine
historische Rekonstruktion zur Verknüp-
fung des griechischen und des jüdisch-
christlichen Durchbruchs im christlichen
Platonismus und zur Entstehung der ka-
tholischen Kirche. Das Mittelalter wird im
Zeichen einer fortschreitenden neuen Dif-
ferenzierung von „Glauben“ und „Wissen“
gedeutet, bevor Luther und die Reformati-
on in einer für die heutige Philosophie-
geschichte überraschenden Weise als epo-
chaler Einschnitt behandelt werden.
Für Habermas leistet Luthers klare
Scheidung des Glaubens vom Wissen der
umgekehrt akzentuierten Scheidung des
Wissens vom Glauben unbeabsichtigt Vor-
schub. Die Aufklärung führt Habermas zu-
folge auf eine große Wegscheide zu, die mit
den Namen David Hume und Immanuel
Kant bezeichnet wird. Von Hume führe der
Weg in einen reduktionistischen Naturalis-
mus, von Kant in die Denkentwicklung der
klassischen deutschen Philosophie zu He-
gel und auch Marx. Was in dieser Zeit nur
Unterströmung war, nämlich die Umstel-
lung eines Vernunftbegriffes, der am ein-
zelnen erkennenden Subjekt entwickelt
wurde, auf Sprachgemeinschaften, „kom-
munikative Vergesellschaftung“, werde in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
von einzelnen Denkern wie dem amerikani-
schen Pragmatisten Charles Peirce pionier-
haft systematisiert. Fluchtpunkt dieser
Darstellung, ohne plump ausgesprochen
zu werden, ist dann in unserer Zeit für Ha-
bermas sein eigenes Denken.
Es ist absehbar, dass diese große Erzäh-
lung zum Gegenstand vieler Tagungen
und Bücher werden wird, in denen die Plau-
sibilität der einzelnen Interpretationen auf
den Prüfstand gelangt. So soll es auch sein.
Indem Habermas seinem Werk in lockerer
Anspielung auf eine Schrift Johann Gott-
fried Herders den bescheiden-pluralisti-
schen Titel „Auch eine Geschichte der Phi-
losophie“ gegeben hat, räumt er von vorn-
herein ein, einer Geschichte der Philoso-
phie hätten auch ganz andere Leitfäden zu-
grunde liegen können. Hätte aber auch bei
dem gewählten Leitfaden, bei der Konzen-
tration auf Glauben und Wissen, eine ande-
re Geschichte erzählt werden können? Das
halte ich für die spannendere Frage.
Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche
Alternative findet sich versteckt in einer

Fußnote des großen Werks. Dort heißt es,
der Verfasser nehme als Philosoph „natür-
lich“ eine „asymmetrische Einstellung ge-
genüber dem Diskurs über Glauben und
Wissen“ ein, weil er nachvollziehen wolle,
„was die Philosophie aus diesem Diskurs
gelernt hat“. Aber das scheint mir kein
zwingendes Argument zu sein. Hätte der
Philosoph nicht ebenso gut die Frage zu-
grunde legen können, wie die Philosophie
in ihrer Geschichte zu einem angemesse-
nen Verständnis des Glaubens kam oder
noch kommen könne? Philosophen müs-
sen sich ja nicht vorrangig für den Sonder-
status der Philosophie interessieren, und
auch nicht nur für vergangene Lernprozes-
se, es könnte ihnen um die Bedingungen
für gegenwärtige und zukünftige gehen.
In Habermas’ Geschichtserzählung fin-
den sich sehr schöne Passagen zum Glau-
bensverständnis, etwa in den Abschnitten
zu Augustinus und zu Pascal. Aber in den
meisten Teilen dominiert die Frage nach
der Herausbildung einer „säkularen“ und
„autonomen“ Rationalität. Dabei ist nicht
ganz klar, warum es hier bei aller Beto-
nung der argumentativen Rationalität die-
ser beiden Beiwörter bedarf. Wenn „säku-
lar“ heißen soll, dass etwa wissenschaft-
liche Debatten nicht der Kontrolle durch
religiöse Institutionen unterliegen sollen,
sondern in ihnen nur das überzeugende Ar-
gument zählt, dann ist die Bedeutung klar.
Aber nicht nur religiöse Institutionen
sind eine potenzielle Bedrohung. Die Kon-
trolle durch „säkulare“ Institutionen, zum
Beispiel eine kommunistische Partei oder
ihren Staatsapparat, ist doch genauso abzu-
lehnen wie religiöse Bevormundung. Und
wenn wir die persönlichen religiösen Über-
zeugungen eines Denkers nicht nur als Ver-
innerlichung äußerlicher Autorität auffas-
sen, sondern als echte Überzeugung, dann
stellen diese zwar als solche noch kein Ar-
gument dar, wohl aber eine Quelle des Den-
kens. Solche Überzeugung unterscheidet
sich nicht prinzipiell von den Wertgewiss-
heiten, die bei säkularen Denkern ihrer
rationalen Argumentation vorauslaufen.
Auch das Demokratie-Pathos ist bei Haber-
mas lebensgeschichtlich grundiert und
nicht einfach argumentativ gewonnen. Die
Unklarheit im Begriff des Säkularen hier,
das Changieren zwischen einer starken
und einer schwachen Bedeutung dieses Be-
griffs, trägt dazu bei, religiöse Menschen
als andersartig erscheinen zu lassen, sie zu
„exotisieren“.
Noch stärker ist das der Fall, wenn von
der Autonomie solcher Rationalität die Re-
de ist. Der Begriff hat einen guten Sinn in
der Abwehr machtförmiger Eingriffe,
nicht aber, wenn der Philosophie eine Un-
abhängigkeit von vorreflexiven Überzeu-
gungen zugesprochen wird, die sich noch

nirgends gefunden hat. Gerade der ameri-
kanische Pragmatismus, in dessen Darstel-
lung Habermas seine Philosophiegeschich-
te gipfeln lässt, hat die „Vernunft“ nie als
säkular und autonom behandelt, nicht als
Substantiv, sondern als Adjektiv. Nicht
„die Vernunft“ handelt, spricht, fordert –
sondern wir Menschen können mehr oder
weniger vernünftig reden und handeln,
Gläubige ebenso wie Nichtgläubige.

Der Grundgestus von Habermas ist,
dass Religion zwar heute „noch“ existiere,
aber vom Richterstuhl der „Vernunft“ aus
gesehen doch ein Relikt der Vergangenheit
sei. Es bedürfte eines Durchgangs durch
die Teile des Buches, in denen direkt von
der Religion als einer „gegenwärtigen Ge-
stalt des objektiven Geistes“ und von den
Ursachen der europäischen Säkularisie-
rungsgeschichte die Rede ist, um aufzuzei-
gen, welche Annahmen hier den Blick des
Verfassers lenken. Oft sind es dabei nicht
die Thesen selbst, sondern unbemerkte Be-
griffsverwendungen und Seitenbemerkun-
gen, die Einblick in die Denkvoraussetzun-
gen gewähren.
Wenn etwa, Max Weber folgend, die ka-
tholische Kirche als „Heilsanstalt“ bezeich-
net wird, dann wird damit gewiss etwas für
sie Wesentliches getroffen. Aber es han-
delt sich keineswegs, weder bei Weber
noch bei Habermas, um eine neutrale sozio-
logische Charakterisierung. Der lebendige
Geist der Institution wird in dieser Bezeich-
nung verfehlt oder in Abrede gestellt.
Charakteristisch für das große vor-
liegende Werk ist, dass hier – anders als
bei anderen maßgeblichen Philosophen
unserer Zeit wie Charles Taylor und Paul
Ricœur – nicht ein Denker mit dem Verhält-
nis von Glauben und Wissen im eigenen
Denken ringt. Es geht bei Habermas im-
mer um etwas, was in unserer Zeit bei allen
historischen Verdiensten, die es habe, als
bloßes Relikt erscheint und potenziell als
Gefahr.
Je näher die Darstellung der Gegenwart
rückt, desto stärker tritt die Frage nach ei-
ner zeitgenössischen Form des Christen-
tums oder der Religion in den Hinter-
grund. Im Kapitel zu Friedrich Schleierma-
cher etwa spielen dessen epochale Reden
von 1799 „Über die Religion“ „an die Gebil-
deten unter ihren Verächtern“ praktisch
keine Rolle. Schleiermachers Begriff des
„Gefühls“ wird von Habermas durch He-
gels Brille gelesen und simplifiziert dar-
gestellt, als sei von bloßen Gefühlen ohne
kognitiven Gehalt die Rede.

Und fast schon sensationell ist die Tatsa-
che, dass im Kapitel über den Pragmatis-
mus nur von Charles Peirce die Rede ist,
nicht aber vom bekanntesten Vertreter
dieser Denkschule, von William James,
dessen Buch über Religion zudem das in
der englischsprachigen Welt wohl verbrei-
tetste überhaupt zum Thema ist. James,
der anders als Peirce nicht an Kant, son-
dern an Hume anknüpfte, brächte, wäre er
hier ernster genommen worden, auch die
These von der großen Wegscheide Hume
versus Kant ins Wanken.
Dabei geht es hier nicht einfach um phi-
losophiegeschichtliche Fragen. Es geht um
die Möglichkeit einer zeitgenössischen
Gläubigkeit, die sehr wohl intellektuell
rechtfertigbar ist. Karl Rahners berühmtes
Wort, der Christ der Zukunft sei ein Mysti-
ker, drückt eine Einsicht aus, die nicht auf
das Christentum beschränkt ist. Nicht me-
taphysische Weltbilder ziehen die Men-
schen in den Bann von Religionen und
nicht, wie Habermas meint, die sozialinte-
grativen Wirkungen der Rituale, sondern
intensive außeralltägliche Erfahrungen, al-
lein oder mit anderen, welche der Artikula-
tion bedürfen und der Ermöglichung
durch die Klugheit von Traditionen.
Dieses Opus magnum von Habermas
lässt sich, was sich schon in seinen Stel-
lungnahmen der letzten Jahre andeutete,
als großartiges Plädoyer an die Adresse ei-
ner säkularen Öffentlichkeit lesen, die
Gläubigen nicht aus ihrem Gespräch auszu-
grenzen. Man könnte es in diesem Sinne
als Manifest eines „Anti-Säkularismus“ le-
sen. Aber für Gläubige schafft es eine unbe-
hagliche Lage. Hier bietet einer der größ-
ten Denker unserer Zeit Dialog und Freund-
schaft an – und macht es doch schwer, das
Angebot anzunehmen, weil das Bild vom
Glauben, das er zeichnet, sich vom Selbst-
bild der Gläubigen so stark unterscheidet.

Jürgen Habermas:Auch eine Geschichte der Philo-
sophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von
Glauben undWissen. Band 2: Vernünftige Freiheit.
Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Zusammen 1752 Sei-
ten, 98 Euro. Der Soziologe und Sozialphilosoph
Hans Joaslehrt an der Berliner Humboldt-Universi-
tät und an der University of Chicago.

Die Salzburger Festspiele feiern 2020 ihr
100-jährigesBestehen unter anderem mit
der Sopranistin Anna Netrebko in der Titel-
rolle von Puccinis „Tosca“. Außerdem wer-
de mit „Zdeněk Adamec“ ein neues Stück
des Literaturnobelpreisträgers Peter Hand-
ke uraufgeführt, teilte Schauspielchefin
Bettina Hering am Mittwoch in Salzburg
mit. In Handkes Drama geht es um den jun-
gen Tschechen Zdeněk Adamec, der sich
2003 aus Protest gegen die gesellschaft-
lichen Verhältnisse auf dem Prager Wen-
zelsplatz anzündete.
Höhepunkt der Festspieltage soll der


  1. August sein, der Tag, an dem 1920
    Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“
    erstmals auf dem Salzburger Domplatz auf-
    geführt wurde. Die zentralen Rollen in der
    Inszenierung von Michael Sturminger spie-
    len Tobias Moretti und die Burgschauspie-
    lerin Caroline Peters als neue Buhlschaft.
    In der Opernsparte gibt es vier Neuinsze-
    nierungen, darunter Mozarts „Don Giovan-
    ni“ mit Teodor Currentzis am Pult. Bei
    Luigi Nonos Nachkriegsoper „Intolleranza
    1960“ werden die Wiener Philharmoniker
    von Ingo Metzmacher dirigiert. Zudem zei-
    gen die Festspiele Mussorgskis Chor-Oper
    „Boris Godunow“ unter Dirigent Mariss
    Jansons. Der zuletzt wegen Vorwürfen
    sexueller Übergriffe in die Kritik geratene
    Tenor Plácido Domingo gastiert in einer
    konzertanten Aufführung der Verdi-Oper
    „I vespri siciliani“. Roter Faden im Konzert-
    programm ist Ludwig van Beethoven, des-
    sen 250. Geburtstag mit Interpretationen
    der Klaviersonaten von Igor Levit und
    einer Aufführung der 9. Symphonie unter
    Riccardo Muti begangen wird. dpa, sz


Beim Humboldt-Forum ist es zu spät, noch
einzugreifen. Es wird, das gab das Finanz-
ministerium gestern bekannt, 49 Millio-
nen teurer als geplant. Die Baukosten stei-
gen auf nun 644 Millionen Euro.
Beim geplanten Museum der Moderne
jedoch, dem anderen Renommierbau des
Bundes in Berlin, wäre ein Umsteuern
noch möglich. Doch an diesem Donnerstag
läuft die Frist ab. Dann soll der Bundestag
die 364 Millionen Euro bewilligen, die der
Bau nach heutiger Schätzung kosten soll.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters
hat aber bereits eine Option auf weitere 86
Millionen ausgehandelt. Dass man 450 Mil-
lionen brauchen wird, steht für die Archi-
tekten schon jetzt außer Frage: „Wenn
man das nicht ausgeben will, kann man
das Museum nicht bauen“, erklärte
Jacques Herzog von Herzog & de Meuron
in einem Interview.
Warum das Museum dreimal so teuer
wird wie geplant, konnte Grütters bisher
nicht erklären. Ein Grund ist, dass es viel
größer wird. Nachdem der Bundestag 2014
für ein um 40 Prozent kleineres Gebäude
130 Millionen zuzüglich eines Puffers von
70 Millionen freigab, entschied Grütters
sich für einen anderen Standort, an dem
ein größeres Museum Platz hat. Dieses war
auf 180 Millionen geschätzt. Doch auch die-
se große Variante wuchs weiter, wie ein Pa-
pier des Kulturstaatsministeriums an die
Mitglieder des Haushaltsausschusses die
wachsenden Kosten zu erklären versucht.
Waren für das von Grütters gewünschte
große Museum noch 23 000 Quadratme-
tern Bruttogrundrissfläche geplant, sind
es in dem aktuellen Entwurf 31 000.
Nennenswerter Widerstand ist dennoch
nicht zu erwarten. Weder von den Abgeord-
neten der Koalition, die das Projekt hinter
vorgehaltener Hand verfluchen, noch von
der Opposition. Die Grünen-Abgeordnete
Anja Hajduk kündigte an, Grütters darauf
einzuschwören, unterhalb der 364 Millio-
nen zu bleiben, dem Betrag also, den Her-
zog bereits für unrealistisch erklärt hat.
jörg häntzschel  Seite 4

Tesla will nahe dem neuen, gerüchteweise
im Bau befindlichen Berliner Flughafen ei-
ne „Gigafactory“ realisieren. Ab 2021 sol-
len Elektroautos und Batterien produziert
werden. Ein Ingenieurzentrum ist geplant.
Tesla-Chef Elon Musk, hauptamtlich Visio-
när, begründete den Standort am Dienstag
mit der „Qualität deutscher Ingenieure“.
Muss man, wie der Autor, ein deutscher In-
genieur sein (mit Migrationshintergrund),
um über diese Meldung in einen Taumel zu
verfallen, wie er sich sonst nur noch ein-
stellt, sobald man in Dackelhöhe hinter ei-
nem deutschen Dieselfahrzeug tief einat-
met? Absolut, denn an sich schien der deut-
sche Ingenieur ja vom Aussterben bedroht
zu sein. Es ist aber gut, dass es ihn gibt.
Natürlich gab es im Netz außer Likes
und spontanen Einbürgerungsvorschlä-
gen („In Musk We Trust“) auch Hohn. Auf
Twitter freut sich Richard Gutjahr: „Ach


fein. Haben die Berliner am Ende doch
noch Verwendung für ihr Flughafen-Expe-
riment gefunden.“ Das ist aber tatsächlich
bemerkenswert am Musk-Lob: Es rehabili-
tiert eine so literarische wie problemati-
sche wie zukunftsnotwendige Figur inmit-
ten ihrer größten Krise. Der deutsche Inge-
nieur galt der hyperventilierenden Wutöf-
fentlichkeit nach dem einen oder anderen
Bauskandal, nach Dieselgate und einem
tendenziell per se unbegreiflichen Hass
der Deutschen auf die deutsche Ingenieurs-
kunst (Windräder, Stromtrassen, Autos,
Flugzeuge, Straßen, Häuser) eher als Teil
des Problems, denn als Teil der Lösung.
Es ist umgekehrt: Ingenieure werden ge-
braucht, um die Zukunft zu erringen. Nur
dass es bald keine mehr gibt hierzulande.
Die Ingenieure, die man außer für Tesla
auch für umweltfreundliche Technologie,
erneuerbare Energien, KI, autonomes Fah-

ren, Robotik, Recycling und die Baukultur
der Zukunft braucht, werden bald so selten
sein wie Problembären. Derzeit kommen
auf einen Ingenieur sechs offene Stellen.
Good luck, Mr. Musk!
Da wäre es an der Zeit, den Ingenieur
zwischen Mythos und Notwendigkeit neu
zu verorten in jenem Land, das nicht nur
eines der Dichter und Denker ist (19. Jahr-
hundert). Sondern: Es ist auch ein Land des
technologischen Fortschritts. Der aber
vom 20. Jahrhundert, wo er kritiklos als
Fetisch und Golem gefeiert wurde, in die
Gegenwart des 21. Jahrhunderts überführt
und rehumanisiert werden müsste. Carl
von Linde, Rudolf Diesel (jawohl!), Oskar
von Miller, Robert Bosch, Hugo Jun-
kers ... bis Elisabeth von Knobelsdorff, die
1912 die erste deutsche Diplom-Ingenieu-
rin der Architektur wurde: Unsere Ahnen-
galerie der technikkreativen Findigkeit

lässt sich sehen. Die literarischen Figuren
(von Max Frischs „Homo faber“ bis zu Tho-
mas Manns Protagonisten Hans-total-an-
ämisch-Castorp im „Zauberberg“) sind so
folgerichtig wie die des Kinos. Unverges-
sen: Paul Hubschmid als deutscher Ingeni-
eur, der im „Tiger von Eschnapur“ die Prin-
zessin rettet, leider nicht final, und so ne-
benher ein paar Krankenhäuser entwirft.
Heute, da die Idee des versimpelten
Fortschritts durchaus fragwürdig ist, sind
die Ingenieurinnen und Ingenieure erst
recht gefragt. Die Welt wird zum besseren
Ort nicht nur durch die seltsame Scham
(als Präfixe dienen: Flug-, SUV- oder Bau-),
sondern auch durch Technik, Techniker
und eine Technikkultur, die übrigens dem
Handwerk, dem Naturwissen und der
Wissenschaft gleichermaßen entstammt.
Das muss uns ausgerechnet Musk in Berlin
sagen, herrlich. gerhard matzig

DEFGH Nr. 263, Donnerstag, 14. November 2019 9


Die Frage ist: Lässt sich eine
zeitgenössischeGläubigkeit
intellektuell rechtfertigen?

Hundert Jahre


Salzburger Festspiele mit neuem
Handke und „Don Giovanni“

Immer größer


Bundestag soll mehr Geld
für Moderne-Museum bewilligen

Der deutsche Ingenieur lebt


Habenwir Elon Musk gebraucht, um einen Mythos für die Zukunft zu entdecken? Absolut!


Ohne dass er es plump ausspricht,


ist Habermas’ eigenes Denken


der Fluchtpunkt der Darstellung


FEUILLETON


JürgenHabermas bei der Vorstellung seines zweibändigen Werkes „Glauben und Wissen“ im Suhrkamp-Verlag in Berlin. FOTO: BUNDESREGIERUNG / JESCO DENZEL

Was weiß,


wer glaubt?


Im neuen Buch von


Jürgen Habermas fragt


die Vernunft nach


dem Erbe der Religion


Von Hans Joas


MARTIN SCORSESE


REGIE
STEVEN ZAILLIAN

DREHBUCH

AB 14. NOVEMBER AB 27. NOVEMBER
IN AUSGEWÄHLTEN
KINOS
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