Süddeutsche Zeitung - 14.11.2019

(Michael S) #1
Laute Schreie aus der Nachbarwohnung,
blaueFlecken im Gesicht der Bekannten –
manchmal werden die Anzeichen einer ge-
waltsamen Beziehung auch für Außenste-
hende sichtbar. Aber wann ist es sinnvoll
einzugreifen? „Es ist auf keinen Fall falsch,
die betroffene Frau in einem günstigen Mo-
ment anzusprechen“, sagt Katja Lipp,
Teamleiterin der psychosozialen Bera-
tungsstelle der Frauenhilfe München. Man
könne der Frau signalisieren, dass man
sich Sorgen mache und ihr etwa die Tele-
fonnummer einer Beratungsstelle dalas-
sen. „Viele Frauen haben es gar nicht mehr
auf dem Schirm, dass sich tatsächlich je-
mand um sie sorgen könnte.“ In besonders
heftigen Fällen sei es auch ratsam, die Poli-
zei oder, wenn Kinder in dem Haushalt le-
ben, das Jugendamt zu informieren. Das
gehe auch anonym, sagt Lipp.
Es solle sich niemand selbst in Gefahr
bringen, es könne allerdings helfen, die
Streitsituation durch ein Klopfen an der
Tür zu stören, sagt ein Polizei-Sprecher.
Werden die Beamten wegen häuslicher Ge-
walt gerufen, verweisen sie den gewaltaus-
übenden Partner in der Regel für zehn Ta-
ge der Wohnung. Während dieser Zeit gilt
ein Kontaktverbot und Betroffene können
sich beim zuständigen Amtsgericht die
Wohnung für bis zu sechs Monate zur allei-
nigen Nutzung zuweisen zu lassen.

Frauen, die sich beispielsweise Sorgen
um einen möglichen Sorgerechtsstreit ma-
chen, können sich anonym beraten lassen,
erklärt Lipp. Außerdem, so ein Sprecher
der Polizei, gibt es an der LMU die Untersu-
chungsstelle für Opfer häuslicher Gewalt
(089 / 2180 73011). Dort können Frauen Ver-
letzungen dokumentieren lassen. Diese Be-
weismittel werden dann wichtig, wenn sie
sich später für eine Anzeige gegen den Part-
ner entscheiden. berj

von julia bergmann

F


ür Romy Stangl fing das Leid schon
an, als sie noch gar nicht geboren
war. Wann immer ihr Vater in Rage
war – und das war er oft –, schreckte er
auch nicht davor zurück, seine schwangere
Frau zu schlagen. Seine Fäuste schlugen
auf ihren Bauch ein. Immer und immer wie-
der. Besser wurde es nicht. Auch nicht
nach der Geburt. Da hatte ihr Vater eine
Person zusätzlich, an der er seine Wut aus-
lassen konnte. „Von der Seite meines Va-
ters gab es keine Liebe“, sagt die 44-Jähri-
ge, das Gesicht ernst, die Stimme fest. Nur
die gepflegten, feinen Hände zittern. „Er
hat mich auch vor der versammelten Fami-
lie geschlagen.“
Romy Stangl sitzt an einem kleinen
Tisch in einem Café. Erzählt von ihrem Va-
ter, der sie in ihrer Kindheit schlug, ihrem
Stiefbruder, der sie in ihrer Jugend fast um-
brachte und ihrem Mann, der sie als junge
Erwachsene verprügelte und einsperrte.
Sie erzählt ohne Scham, ohne Angst, weil
sie erzählen muss. Weil sie 13 Jahre nach-
dem sie von ihrem Mann ins Frauenhaus
geflüchtet ist, anderen Frauen sagen will,
dass ein anderes Leben möglich ist.


Dass es so ist, hat sie lange selbst nicht
geglaubt. Damit ist sie nicht allein, sagt
Therapeutin Michaela Kuen vom psycholo-
gischen Fachdienst der Initiative für
Münchner Mädchen (IMMA). Was es für
viele Frauen so schwierig macht, sich zu
trennen? „Die Partner nutzen die Abhän-
gigkeit der Frauen aus“, sagt Kuen. Die
finanzielle und die psychische. Häufig wür-
den gewaltbereite Männer ihre Partnerin-
nen nach und nach von ihrem sozialen Um-
feld isolieren. Die Frauen stehen alleine da,
haben keinen Kontakt mehr zu Freunden
oder zur Familie. Der Partner ist dann ihre
einzige Bezugsperson. „Je mehr Einfluss
ein Täter auf eine Person hat, desto einfach
ist es für ihn, Gewalt auszuüben.“ Wenn
dann noch Kinder im Spiel sind, trete bei
vielen Frauen häufig eine Art „falsch ge-
dachter Schutzinstinkt“ ein, sagt Kuen.
„Wo soll ich hin mit meinem Kind?“, „Kann
ich ihm ein Leben im Frauenhaus zumuten
und wie geht es danach weiter?“ Solche Fra-
gen würden viele Frauen erst einmal da-
von abhalten, zu gehen.
Auch Romy Stangl war isoliert, wie sie er-
zählt. Mit der Familie hatte sie schon lange
abgeschlossen. Mit dem prügelnden Vater
hatte sie nur dann Kontakt, wenn er sie um
Geld bat. Der Stiefbruder hatte sie, als sie
17 war, halb totgeprügelt. Der Anlass – eine
Lappalie: Stangl hatte eine Party in der
Wohnung der Mutter gefeiert und danach
nicht gleich aufgeräumt. Mit der Mutter
hatte Stangl kein Wort mehr gesprochen,
seit sie 19 war. Seit sie sie aus der gemeinsa-
men Wohnung geworfen hatte. Die Mutter,
damals bereits vom Vater getrennt, hatte
ihrer Tochter die Schuld an der Scheidung
gegeben. Hatte ihr eines Tages einen Satz
ins Gesicht geschmettert, der sie traf, wie
ein Faustschlag: „Woher soll ich wissen,
dass du meine Tochter bist?“ Vielleicht, so
der irrationale Gedanke der Mutter, hatte
man ihr Kind vertauscht. Damals als der
Säugling mit einer schweren Erkrankung
zur Welt gekommen war. Als Romy Stangl
die ersten Wochen ihres Lebens auf der In-
tensivstation verbringen musste. „Das wa-
ren die letzten Worte, die ich von meiner
Mutter gehört habe“, sagt sie. Der letzte
Kontakt zur Familie war weg.
„Ich war mein Leben lang auf der Suche
nach Liebe“, sagt sie. „Ich hatte ja von Zu-
hause aus keine Wurzeln mitbekommen.“
Nach ihrer ersten, kurzen Ehe trifft Stangl
ihren vermeintlichen Traummann. „Er hat
mich das erste Jahr über auf Händen getra-
gen“, sagt sie. Die beiden ziehen bald zu-
sammen. Zwei Jahre nachdem sie sich ken-


nengelernt haben, kommt ihr Sohn zur
Welt, ein Wunschkind. Es hätte perfekt
sein können. Aber es kam anders. „Es fing
mit Worten an“, sagt Stangl. Schon bald
nach der Geburt hatte ihr Partner nur noch
Gemeinheiten für sie übrig: „Du kriegst
nichts auf die Reihe, du bist hässlich, du
hast keinen Geschmack.“ Die Beleidigun-
gen wurden heftiger, kamen häufiger und
bald auch die ersten Schläge.
„Es ist ein eskalierender Prozess“, er-
klärt Katja Lipp von der psychosozialen Be-
ratungsstelle der Frauenhilfe München.
Häufig beginne es mit psychischer Gewalt,
mit Beleidigungen und Anschreien, später
folgen körperliche Übergriffe. Und übli-
cherweise werden die Attacken von Mal zu
Mal schlimmer.
So war es auch bei Stangl. Sie suchte bei
den Schwiegereltern Hilfe. Und blitzte ab,
erzählt Stangl. Sie werde ihn schon so pro-
vozieren, dass er gar nicht anders könne,
sagen die. Also verstummt Stangl. Glaubt
irgendwann selbst an die Herabwürdigun-
gen ihres Peinigers. „Wenn man solche
Worte immer wieder hört, macht das was
mit einem. Das Selbstwertgefühl schwin-
det“, sagt Lipp. Aber nicht nur das. Irgend-
wann lässt Stangls Partner sie nicht einmal
mehr aus dem Haus. „Er hat mich einge-
sperrt, mir das Handy weggenommen“,
sagt sie. Stangl hat versucht zu entkom-
men, aus einem Fensterschacht der Souter-

rainwohnung zu kriechen. In die Freiheit.
Vergebens. Romy Stangl saß fest. In ihrem
Haus. In einer gewaltsamen Beziehung.
Wie damals, als junges Mädchen. „Dabei
hatte ich mir immer geschworen: So etwas
passiert mir nicht.“
Doch der Wunsch allein reicht oft nicht.
Es brauche Unterstützung, häufig eine The-
rapie, um den Kreislauf zu durchbrechen.
Michaela Kuen weiß das. „Mehr als 50 Pro-
zent der Mädchen, die Gewalt erlebt haben
und die von der IMMA betreut werden, ha-
ben vielfältige Gewalterfahrung“, sagt sie.
Außerdem gebe es eine transgenerationale
Weitergabe, sagt Lipp. „Sie funktioniert
für beide Geschlechter.“ Einschlägige Er-
fahrungen in der Kindheit erhöhen die
Wahrscheinlichkeit, später selbst Täter
oder Opfer zu werden. Die Gewalterfahrun-
gen, die junge Menschen in ihrem Eltern-
haus machen, würden häufig Muster
„scheinbarer Normalität“ prägen, die
später wieder abgerufen werden, erklärt
Kuen. Das zeige sich etwa in der Partner-
wahl. „Ein stark kontrollierender grenz-
überschreitender Persönlichkeitsanteil
wird unter Umständen als starkes Interes-
se interpretiert.“ Etwa wenn der Partner
sämtliche E-Mails oder Nachrichten auf
dem Handy liest.
Auch Stangls Freund tut das, kontrol-
liert sie, wo es geht. Stangl geht es dabei im-
mer schlechter. Auch das ist in gewaltsa-

men Beziehungen die Regel, sagt Kuen.
„Das größte gesundheitliche Risiko für
Frauen bei uns sind Gewalterfahrungen in
der Familie.“ Weil man niemals sicher sein
kann, wann die nächste Attacke kommt,
leben die Betroffenen in ständiger Angst.
„Das Nervensystem ist permanent in
Alarmbereitschaft“, sagt Kuen. Das hat Fol-
gen für die psychische Gesundheit, genau-
so wie für die physische. Depression,
Schlafstörungen, Suizidalität kämen bei
Betroffenen genauso vor wie Rücken-
schmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankun-
gen und Magen-Darm-Beschwerden.
Romy Stangl lebt bereits vier Jahre lang
in permanenter Alarmbereitschft, als sie
die schlimmste Attacke trifft. Der Höhe-
punkt des Exzesses: Mit der Faust schlägt
der Partner ihr mit voller Wucht ins Ge-
sicht, schaut ihr danach in die Augen und
sagt: „Jetzt erinnere ich dich an deinen Va-
ter.“ Stangl hat damals Todesangst. Sie hält
im Erzählen kurz inne, sagt dann: „Ich
weiß nicht warum, aber in dem Moment
bin ich auf die Knie gegangen und habe ihn
angefleht, dass er mich nur noch einmal
meinen Sohn in den Kindergarten bringen
lassen soll“, sagt sie. Und er lässt sie.

Im Kindergarten geht plötzlich alles
ganz schnell. Eine der Erzieherinnen sieht
die blauen Flecken in Stangls Gesicht und
reagiert. Sie bringt Stangl ins Frauenhaus.
Dort bekommt sie Unterstützung, erfährt,
was es heißt, in einer wohlwollenden Ge-
meinschaft zu leben. Mit der Hilfe des Netz-
werks regelt sie ihre finanzielle Situation
und bereitet sich auf einen Prozess gegen
ihren Partner vor. Stangl ist endlich frei.
Auch wenn die Zeit nach der Flucht keine
leichte ist. Der Rechtsstreit um das Aufent-
haltsbestimmungsrecht des Sohns ist zer-
mürbend. Vor Gericht hat sie gegen ihren
ehemaligen Partner keine Handhabe, weil
sie die Verletzungen der zurückliegenden
Jahre nie hat dokumentieren lassen. Weil
Stangl durch das jahrelange Leid psy-
chisch angeschlagen ist, entscheidet das
Gericht schließlich, dass sie ihren Sohn
nur einmal pro Woche drei Stunden lang se-
hen darf. „Es war, als hätte mir jemand
mein Herz herausgerissen. Und das war
genau das, was er wollte“, sagt Stangl. Er
habe es ihr so ins Gesicht gesagt.
„Ich habe zehn Jahre gebraucht, um das
aufzuarbeiten“, sagt Stangl. Aber auf dem
Weg gab es viele gute Momente, viele Men-
schen, die ihr geholfen haben. Schließlich
lernt Stangl auch einen Mann kennen, mit
dem sie glücklich wird. Sie schließt Freund-
schaften und lernt, die Wut und den
Schmerz ihrer Vergangenheit loszulassen.
„Ich habe versucht, zu verstehen, warum
mir das passiert ist.“ Heute kann Stangl
über ihren Expartner sagen: „Ich habe ver-
standen, dass niemand so auf die Welt
kommt.“
Romy Stangl engagiert sich heute selbst
für Frauenrechte, ist bei Terre des
Femmes aktiv und Vorsitzende von One Bil-
lion Rising München – Vereine, die sich ge-
gen Gewalt an Frauen starkmachen. Es
sind zwei von vielen Vereinen und Einrich-
tungen, die sich noch bis zum 26. Novem-
ber auch mit Beiträgen zu den Münchner
Aktionswochen gegen Gewalt an Frauen,
Mädchen und Jungen beteiligen. Stangl
will jetzt auch ein eigenes Projekt, Signs of
Hope, Hoffnungszeichen, auf die Beine stel-
len und ein offenes Haus für Frauen mit Ge-
walterfahrung gründen. Stangl setzt auf Of-
fenheit im Umgang mit dem Thema. Auch
mithilfe eines von ihr mitentwickelten päd-
agogischen Konzepts zur Gewaltpräventi-
on an Kindergärten und Schulen. Für
Stangl ist das der erste Schritt hin zu einer
Gesellschaft, in der für Gewalt an Frauen
kein Platz mehr ist. Sie habe mittlerweile
erste Heilung erfahren. „Jetzt will ich auch
anderen Frauen Kraft geben.“

Frauennotruf München: 089/76 37 37
Frauen helfen Frauen: 089/64 51 69
Frauenhilfe München: 089/35 48 30
Haus Hagar: 089/74 44 12 22

Frauen-Beratungsstelle
bei Partnergewalt: 089/3 58 28 10
IMMA-Zuflucht für Mädchen und junge
Frauen: 089/18 36 09

Im Landkreis München:
Interventionsstelle (ILM): 089/62 21 12 21
Frauenhaus (SKF): 089/451 25 49 90

Hilfetelefonbei Gewalt gegen Frauen
(kostenlos): 08 00/01 16 01

Jede vierte Frau in Deutschland erlebt Ge-
walt durch den aktuellen oder früheren Part-
ner. Allein in München wurden im Jahr 2018
2999 Fälle von Partnergewalt bei der Polizei
angezeigt. Das sind 85 Fälle mehr als im Vor-
jahr. Die Fallzahlen beziehen sich sowohl auf
Taten, die von Männern als auch von Frauen
begangenen wurden. Die Dunkelziffer dürf-
te allerdings viel höher liegen. Viele Betroffe-
ne trauen sich nicht, Anzeige zu erstatten.
Frauen, die von ihrem Partner bedroht
werden, können in München eines der drei
Frauenhäuser aufsuchen. Insgesamt gibt es
dort 78 Plätze. Ein weiteres gibt es im Land-
kreis München. Die Häuser sind für Notrufe
und Notaufnahmen rund um die Uhr telefo-
nisch erreichbar. Die Adressen sind zum
Schutz der Bewohnerinnen geheim. Betroffe-
ne können sich telefonisch melden, den Kon-
takt können aber auch Polizei und Beratungs-
stellen herstellen. Dennoch decken die vor-
handenen Plätze nicht den Bedarf, sagt Sibyl-
le Stotz vom Verein Frauen helfen Frauen.
Immer wieder sind alle drei Frauenhäuser
in München belegt und auch die Frauenhäu-
ser in den umliegenden Landkreisen in der
Metropolregion. „Frauen müssen dann, um
einen sicheren anonymen Frauenhausplatz
zu bekommen, ihr Leben in München aufge-

ben, Freundinnen und Freude, Arbeits- und
Kinderbetreuungsplätze zurücklassen und
in ein weiter entferntes Frauenhaus flüch-
ten“, sagt Stotz. Derzeit ist in München ein
viertes Frauenhaus in Planung.
Wenn es an der ersten Anlaufstelle keine
freien Kapazitäten gibt, helfen die Mitarbei-
ter in der Regel bei der weiteren Suche. Frau-
en haben außerdem die Möglichkeit, sich
beim Amtsgericht die Wohnung zur alleini-
gen Nutzung zuweisen zu lassen. 2018 wur-
de in 623 Fällen der Täter für einen längeren
Zeitraum aus der Wohnung verwiesen. „Das
ist nur eine Lösung, wenn der Täter diesen
Gerichtsbeschluss akzeptiert“, sagt Stotz. In
vielen Fällen folge aber Stalking, Cybermob-
bing, Belästigung und auch erneute Übergrif-
fe. In einigen solchen Fällen kam es auch zu
Tötungsdelikten in München. „Es muss also
immer eine Gefährlichkeitseinschätzung ge-
macht werden, ob dieser Weg auch sicher
ist“, sagt Stotz. „Bei Morddrohungen empfeh-
len wir immer einen anonymen Frauenhaus-
aufenthalt, falls der Beschuldigte nicht, wie
in den seltensten Fällen, in Untersuchungs-
haft kommt.“ Zwar gebe es immer wieder
Frauen, die zu ihrem Partner zurückkehren,
aber bis zu 75 Prozent schaffen laut Stotz
den Weg in ein gewaltfreies Leben. BERJ

Das Thema ist ernst, die Dunkelziffer si-
cher höher als die gemeldeten Verdachts-
fälle. Jedenfalls geht die Polizei davon aus,
dass jährlich mehr Menschen in München
mit sogenannten K.-o.-Tropfen betäubt
werden als 40 bis 50 Personen. Soviel wer-
den seit 2014 jährlich im Stadtgebiet bei
den Polizeidienststellen bekannt. Eine Ten-
denz nach oben gebe es derzeit nicht, er-
klärt Polizeisprecher Werner Kraus auf
Nachfrage. K.-o.-Tropfen aber sind ein gro-
ßes Thema im Münchner Nachtleben – in
Clubs, auf Studentenpartys, auf der Wiesn,
beim Fasching – immer dann und überall
dort, wo gefeiert wird.
Als „K.-o.-Tropfen“ bezeichnet man
Substanzen, die eine narkotisierende Wir-
kung haben und verabreicht werden, um je-
manden wehrlos zu machen. Anders aber
als in einem Boxkampf, in dem es auch um
„Knock-out“ geht, haben die Betroffenen
keine Chance sich zur Wehr zu setzen.
Denn die Präparate werden heimlich vor-
nehmlich in Drinks gemischt. Das Phäno-
men betrifft vor allem Frauen, die betäubt,
zu gefügigen Opfern für Sexualdelikte wer-
den. Nicht selten können sie sich danach
an nichts erinnern. Was bleibt, wenn die
Wirkung nachlässt, sind Verletzungen an
Körper und Seele. Und Scham.
„Man könnte grundsätzlich alle Jungs
am Eingang eines Clubs durchsuchen“,


meint Claudia Mayr, Mitarbeiterin von Kof-
ra, des Kommunikationszentrums für
Frauen in der Baaderstraße. Dort hat man
vor Kurzem eine Aktionsgruppe zum The-
ma K.-o.-Tropfen gegründet. Bei den
Münchner Aktionswochen gegen Gewalt
an Frauen, Mädchen und Jungen machen

die Aktivistinnen diese Art von Angriffen
auf Frauen auch zum Thema. Die regelmä-
ßigen Treffen (das nächste ist am Montag,


  1. November, 19 Uhr) stehen allen Frauen
    offen. Im Augenblick sei man daran, so
    Mayr, Informationen zu dem Thema zu
    sammeln.


Im Umlauf sind vielfältige Substanzen.
Mindestens von 100 verschiedenen weiß
man in der Szene. Manche lassen sich
leicht und straffrei im Internet bestellen.
Doch es gehört eine Menge krimineller
Energie dazu, um etwa ein Lösungsmittel,
mit dem man Farben entfernen kann, in ei-
nen Cocktail zu träufeln.
Die Polizei klärt mittlerweile Mitarbei-
ter in Gastronomiebetrieben mit Infoblät-
tern über das Thema auf. Die Symptome
der Opfer würden in den wenigsten Fällen
richtig gedeutet. Wer nicht mehr richtig
stehen und gehen kann, dem wird meis-
tens unterstellt, zu tief ins Glas geschaut
zu haben. Die Betroffenen aber versichern
häufig, eben gerade nicht viel Alkohol oder
Drogen konsumiert zu haben. Das Perfide
an K.-o.-Tropfen: Manche Substanzen
kann man schon nach wenigen Stunden
nicht mehr im Körper nachweisen. Des-
halb raten Polizei und Institutionen vor al-
lem eins: Ein Getränk nie unbeaufsichtigt
stehen lassen. Außerdem: aufmerksam zu
sein.
Dass es Test-Armbänder in Drogerie-
märkten zu kaufen gibt, ist ein weiteres In-
diz dafür, wie groß die Gefahr ist. Die Pa-
pierstreifen reagieren allerdings nur auf ei-
nen Stoff, GHB (Gamma Hydroxybutter-
säure), und sind oft teurer als die
K.-o.-Tropfen selbst. sabine buchwald

Beratung


Heutekennt Romy Stangl ihre Grenzen genau und weiß, wie sie sich schützen kann. FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER

Ein Ratschlag, der öfter zu hören ist: Die Getränke niemals offen und unbeaufsich-
tigt stehen zu lassen. FOTO: STEPHAN RUMPF

GegenwehrOb beimFeiern oder zu Hause – Gewalt an Frauen, Mädchen und Jungen bleibt häufig unentdeckt.


Ein Aktionsbündnis macht in zahlreichen Veranstaltungen noch bis zum 26. November darauf aufmerksam.


Informationsabende, aber auch die Schilderung einzelner Schicksale können vielen Mut machen


Freigekämpft


Schon als Kind wird Romy Stangl von ihrem Vater verprügelt. Auch in ihrer Beziehung erlebt sie Gewalt.
Doch sie schafft es zu fliehen und spricht heute öffentlich über ihre Erfahrungen, um anderen Mut zu machen

Tückische Mischung


K.-o.-Tropfen, die Frauen wehrlos machen, sind in der Partyszene weit verbreitet – Aktivistinnen und Polizei klären auf


Hilfe in der Not


FürBetroffene gibt es in der Stadt viele Anlaufstellen


Akute Schutzräume


RomyStangl war ein Leben lang


auf der Suche nach dem, was ihre


Eltern ihr nie gaben: Liebe


Vor Gericht hat sie gegen den Ex
keine Chance, die Verletzungen
wurden nie dokumentiert


R2 (^) THEMA DES TAGES Donnerstag, 14. November 2019, Nr. 263 DEFGH

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