Handelsblatt - 14.11.2019

(Steven Felgate) #1

K. Leitel, C. Volkery London


B


oris Johnson ist in die-
sen Tagen viel im Nor-
den Englands unter-
wegs. In der Tetley-Tee-
fabrik von Eaglescliffe
gönnt er sich eine „cuppa“ des briti-
schen Nationalgetränks, in Matlock in
der überfluteten Grafschaft Derbyshi-
re lässt er sich mit einem Wischmopp
ablichten. Überall verbreitet der Re-
gierungschef die gleiche Botschaft:
Als Erstes müsse man den Brexit ab-
haken, dann könne man sich endlich
um die Themen kümmern, die den
Menschen wirklich wichtig seien: Ge-
sundheit, Bildung, Sicherheit.
Am 12. Dezember wählen die Bri-
ten ein neues Parlament. Johnson
hofft auf eine absolute Mehrheit für
seine Konservativen. Dann könne das
Parlament den EU-Ausstiegsvertrag
absegnen und den Brexit zum 31. Ja-
nuar sicherstellen, wirbt er.
In allen Umfragen liegen Johnsons
Tories zweistellig vor der Labour-Op-
position. Doch der vermeintlich si-
chere Vorsprung täuscht: Im briti-
schen Mehrheitswahlrecht gibt es
nur Direktmandate, es kommt also
auf das Kräfteverhältnis in jedem ein-
zelnen der 650 Wahlkreise an. Die je-
weils stärkste Partei erhält ein Man-
dat, der Rest der Stimmen verfällt.
Landesweite Umfragen sind daher
nur bedingt aussagekräftig.
An mehreren Fronten dürfte es für
Johnson schwierig werden. Der hohe
Norden scheint fest in der Hand der
schottischen Nationalpartei (SNP). Im
Süden und in der Hauptstadt London
sind die proeuropäischen Liberalde-
mokraten im Aufschwung. Für jeden
Sitz, den die Tories an SNP und Libe-
rale verlieren, müssen sie anderswo
einen neuen Wahlkreis hinzugewin-
nen. Deshalb tourt Johnson nun
durch die Labour-Hochburgen in der
Landesmitte. Diese hatten 2016 mit

deutlicher Mehrheit für den EU-AAus-
stieg gestimmt. Der Premier hoofft,
mit dem Versprechen eines schnelllen
Brexits selbst eingefleischte Laboour-
Wähler auf seine Seite zu ziehen.
Am Montag erhielt Johnson Hilfe
von unerwarteter Seite. Der Rechhts-
populist Nigel Farage erklärte, seeine
Brexit-Partei werde nicht in den 317
Wahlkreisen antreten, die bei dder
letzten Wahl konservativ gewählt hhat-
ten. Das macht es einfacher für die
Tories, wackelige Wahlkreise geggen
die Liberaldemokraten zu verteiidi-
gen. In den Labour-Wahlkreisen wwill
die Brexit-Partei jedoch antreten –
und könnte dort den Sieg der Koon-
servativen erschweren. Schon Johhn-
sons Vorgängerin Theresa May haatte
bei der Unterhauswahl 2017 verggeb-
lich versucht, die Labour-Wähler mmit
dem Brexit-Versprechen zu locken.
Am Wahltag scheint daher allles
möglich: eine Mehrheit für Booris
Johnson, ein erneutes Patt im Parrla-
ment – oder sogar eine Labour-Reggie-
rung, möglicherweise mit Unterstttütüt-
zung der SNP oder der Liberalen. „„EsEsEsEss
ist immer noch zu früh, um über ein
Ergebnis zu spekulieren“, waarnt
Georgina Wright vom Thinktank In-
stitute for Government in Londonn.
Die Stimmung im Land spielt ehher
der Labour-Opposition in die Hände: d
Nach zehn Jahren konservativer Spar-
politik haben die Wähler genug von
immer neuen Kürzungsrunden im öf-
fentlichen Sektor. Labour wirbt mit
großen staatlichen Investitionen, die
Tories beeilen sich mitzuhalten. Die
Staatsausgaben dürften also deutlich
ansteigen, egal wer gewinnt.
Den Ausschlag geben könnte am
Ende allerdings nicht das Wahlpro-
gramm, sondern der Spitzenkandi-
dat. Und im direkten Duell mit La-
bour-Chef Jeremy Corbyn liegt John-
son eindeutig vorn.

Britischer Wahlkampf


Johnson im


Labour-Land


Der britische Premier umwirbt


Labour-Wähler mit seinem Brexit-Kurs.


Die Strategie ging schon einmal schief.


Das britische Unterhaus
Zusammensetzung bei
Parlamentsauflösung

Umfrage zu allgemeinen Wahlen*
Anteile in Prozent

39 %
Conser-
vative

4 %
Green Party

4 %
Sonst.

26 %
Labour

10 %
Brexit Party

17 %
Liberal
Democrats

HANDELSBLATT *Stand: 8.11.2019 • Quellen: Britisches Parlament, Yougov

Gesamt
650
Sitze

13 Sonstige


7 Sinn Feín


Democratic
Unionist Party

10


Liberal
Democrats

20


24 Unabhängige


Scottish
National Party

3


243 Labour


29Conservative


Seit Premierminister Boris Johnson im Juli an
die Macht kam, inszeniert er sich als der Mann,
der das Land aus der EU führen wird. Mit der
Neuwahl will er sich nun ein Mandat für seinen Neuw
Brexitt-Kurs holen.

Brexit: „Wir setzen den Brexit um, die anderen
blockkieren nur“, lautet Johnsons zentrale Bot-
schafft. Wenn die Tories im Dezember eine
Mehrhheit erhielten, werde das Parlament den
EU-Ausstiegsvertrag im fünften Anlauf endlich
ratifizzieren. Nach dem Austritt Ende Januar will
Johnsson dann bis Ende 2020 ein Freihandels -
abkommmen mit der EU vereinbaren. Eine Verlän-
gerunng der Übergangsperiode schließt er aus,
doch Experten halten dies für unumgänglich.

Wirtsschaftspolitik: Vor seiner Wahl zum Partei-
chef hhatte Johnson Steuersenkungen verspro-
chen. Führende Konservative fordern auch eine
weitreeichende Deregulierung der Wirtschaft
nach dem Brexit. Im Wahlkampf hat Johnson
diese Forderungen bisher nicht wiederholt.
Stattddessen liefert er sich mit Labour einen Aus-
gabennwettlauf. Der Premier verspricht mehr
Geld für Krankenhäuser, Schulen und 20 000
neue Polizistenstellen. Wo das Geld herkommen
soll, hhat er noch nicht verraten.

Schwwäche: Die Tories sind für den Sparkurs der
vergaangenen zehn Jahre verantwortlich und
damitt für viele Probleme beim Gesundheits -
system NHS, den Schulen und den Kommunen.
EU-Anhänger werfen den Tories obendrein eine
schäddliche Obsession beim Brexit vor.

Boris Johnson, Konservative


Die Liberaldemokraten sind traditionell Groß-
britanniens Protestpartei. Sie profitieren,
wenn die Wähler mit den beiden Volkspar-
teien unzufrieden sind. Derzeit sorgt der Bre-
xit für Zulauf.

Brexit: Die Liberaldemokraten präsentieren
sich als wahre Heimat der EU-Anhänger im
Land und bilden damit den Gegenpol zur Bre-
xit-Partei. Sie fordern, den Ausstiegsantrag in
Brüssel zurückzuziehen und den Brexit so
abzusagen. Mit dieser radikalen Position hofft
Parteichefin Jo Swinson, enttäuschte Labour-
Wähler und Tories hinter sich zu sammeln.
Sollte sie als Juniorpartnerin in einer Labour-
Regierung landen, würde sie sich wohl mit
einem zweiten Referendum zufriedengeben.
In den vergangenen Monaten hat die Partei
bereits mehrere Achtungserfolge erzielt: Pro-
minente Abgeordnete aus den großen Par-
teien haben bei ihr Zuflucht gesucht. Die
Wirtschaftspolitik spielt in ihrem Wahlkampf
keine große Rolle.

Schwäche: Im proeuropäischen Lager gibt es
viel Konkurrenz. Labour, Grüne und Liberale
konkurrieren um die gleichen Stimmen, in
Schottland und Wales kommen die Nationa-
listen von SNP und Plaid Cymru hinzu. Die
Zersplitterung könnte die Liberalen etliche
Mandate kosten.

Jo Swinson, Liberaldemokraten


imago images (3), REUTERS, WireImage/Getty Images, ddp/

/Z

UMA

Wirtschaft & Politik
DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2019, NR. 220

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