Handelsblatt - 14.11.2019

(Steven Felgate) #1

„Es geht nicht nur um unsere


Glaubwürdigkeit als EU, sondern auch um


unser strategisches Interesse an einer stabilen


und sicheren Region im Herzen Europas.“


Heiko Maas, Außenminister, ist für eine möglichst schnelle Aufnahme
der EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien.

Worte des Tages


D


ie Hoffnungen der Wirtschaft waren
groß. „Der Wind bläst uns gerade mit
voller Wucht ins Gesicht“, sagte Ar-
beitgeberpräsident Ingo Kramer diese
Woche auf dem Arbeitgebertag.
Deutschland befinde sich konjunkturell in einer sehr
schwierigen Lage. Da könne man etwas Hilfe vom
Bundesfinanzminister gut gebrauchen. Etwa in Form
von Steuersenkungen. Doch Finanzminister Olaf
Scholz machte kurze Zeit später bei seinem Auftritt
jede Hoffnung zunichte. Wenn Deutschland beim
Steuerwettbewerb mitmache, werde man die Gesell-
schaft nicht zusammenhalten können, sagte er. Nie-
mand solle deshalb auf Steuersenkungen hoffen. Aus
Sicht des Finanzministers sind sie auch gar nicht nö-
tig. Deutschland, so glaubt Scholz, biete doch genü-
gend andere Vorteile: Rechtssicherheit, eine ver-
zweigte Infrastruktur, gut ausgebildete Ingenieure.
Man muss Steuerwettbewerb nicht mögen, er
kann schnell zu einer ruinösen Angelegenheit für
den Fiskus werden. Scholz’ Initiative für eine globale
Mindestbesteuerung ist deshalb richtig. Dennoch ist
die Analyse des Finanzministers vollkommen über-
holt. Deutschland kann sich einer Unternehmen -
steuerreform nicht länger verweigern. Die hohen
Steuern sind längst ein Standortnachteil. Reihum ha-
ben alle Länder von den USA über Frankreich bis
Schweden die Firmensteuern teils drastisch gesenkt.
Nur in Deutschland sind sie gestiegen, weil Kommu-
nen die Gewerbesteuer erhöht haben. Die Folge:
Werden Firmen im OECD-Schnitt mit 23 Prozent be-
steuert, sind es in Deutschland 31 Prozent. Höher
fällt die Last in kaum einem Industrieland aus.
Wenn die Steuern überall anders so viel niedriger
sind, müssen die übrigen Standortfaktoren denen
anderer Länder schon ziemlich überlegen sein, um
diesen Nachteil wettzumachen. Das sind sie aber
nicht. Die deutsche Infrastruktur ist marode. Firmen
können sich aufgrund des Fachkräftemangels nicht
sicher sein, Personal zu finden. Bei Digitalisierung,
E-Government oder Bürokratieabbau bekommt
Deutschland peinliche Zeugnisse ausgestellt.
Zu glauben, den Steuerwettbewerb dennoch ein-
fach ignorieren zu können, ist so, als würde VW sich
weigern, trotz des neuen Tesla-Werks in Branden-
burg saubere Motoren zu entwickeln. Man möchte
den Wettbewerb ja nicht anheizen. Und auch an an-
derer Stelle irrt Scholz: Die Rahmenbedingungen für
die Wirtschaft einem veränderten globalen Umfeld
anzupassen taugt nur in politischen Sonntagsreden
als politischer Spaltpilz. Die Gesellschaft fliegt des-
halb nicht gleich auseinander. Schon gar nicht, wenn
die Politik vorher ausschließlich soziale Großprojek-

te auf den Weg gebracht hat. Die Wirtschaft fühlt
sich zu Recht völlig vernachlässigt.
Dass Scholz Steuererleichterungen dennoch eine
so klare Absage erteilt, liegt wohl weniger an einer
tiefen inneren Überzeugung als an taktischen Erwä-
gungen im Rennen um den SPD-Vorsitz. Forderun-
gen nach niedrigeren Firmensteuern wären eine
Steilvorlage für seinen Gegner Norbert Walter-Bor-
jans. Deshalb hat Scholz auch ein geplantes „Unter-
nehmensstärkungsgesetz“, das jenseits von Steuer-
sätzen die Wirtschaft wenigstens etwas entlasten
sollte, wieder tief in einer Schublade vergraben.
Doch irgendwann wird es einen neuen SPD-Vorsit-
zenden geben. Und es ist nicht unwahrscheinlich,
dass dieser Olaf Scholz heißt. Nachdem Scholz im
Rennen um den SPD-Vorsitz mit diversen Kurskor-
rekturen einen Linkskurs eingeschlagen hat, wäre es
eine naheliegende Strategie, im nächsten Jahr wie-
der in die politische Mitte zu wandern. So könnte er
zeigen: Ein möglicher Kanzler Scholz hätte nicht nur
das Soziale, sondern auch die Wirtschaft im Blick.
Eine Unternehmensteuerreform würde eine sol-
che Strategie mit Leben füllen. Das Schwierige an
dem Unterfangen: Will die Politik die Körperschaft-
steuer senken, muss sie auch an die Einkommen-
steuer ran, um Personengesellschaften nicht zu be-
nachteiligen. Doch für Scholz ist das auch ein Vor-
teil: Denn dadurch ist das steuerpolitische Spielfeld
groß – und damit der politische Spielraum.
Ein Kompromiss könnte so aussehen: Der Körper-
schaftsteuersatz sinkt, gleichzeitig werden die Re-
geln für einbehaltene Gewinne für Personengesell-
schaften großzügiger gestaltet. Damit die SPD dies
ihrer Klientel verkaufen kann, müsste die Union ei-
ner leichten Erhöhung des Spitzensteuersatzes zu-
stimmen. So könnten beide Parteien die Reform als
Erfolg verkaufen. Bleiben sie aber bei ihrer starrsin-
nigen Haltung, droht die Gefahr, weiter von flexible-
ren Volkswirtschaften abgehängt zu werden.
Der Ökonom Holger Schmieding stellte vor gut
zehn Jahren die Prognose auf, das zweite Jahrzehnt
dieses Jahrhunderts werde für Deutschland eine
wirtschaftlich „goldene Dekade“ sein. Kürzlich legte
sein Team eine ähnliche Analyse für das kommende
Jahrzehnt vor, und wieder war von einer „goldenen
Dekade“ die Rede. Allerdings nicht für Deutschland.
Frankreich könnte dank Emmanuel Macrons Refor-
men vor zehn fetten Jahren stehen. Die Bundesrepu-
blik dagegen werde eher zum Sorgenkind.

Leitartikel


Standortnachteil


Steuerpolitik


Deutschland fällt
im globalen
Wettbewerb
zurück. Die
Regierung muss
die Steuern für
Firmen senken,
mahnt Martin
Greive.

Die Gesell-


schaft


fliegt nicht


auseinander,


weil Firmen -


steuern sinken.


Der Autor ist Korrespondent im Hauptstadtbüro.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Bolivien


Krise mit


Ansage


D


ie Vorgänge in Bolivien erin-
nern an die Zeiten, als in
Südamerika noch regelmä-

ßig geputscht wurde. Alleine in Bo-


livien, dem ärmsten Land der Regi-


on, ergriffen die Generäle 45-mal


die Macht seit der Unabhängigkeit



  1. Dennoch sollte man die Flucht


des Präsidenten Evo Morales ins


mexikanische Asyl nicht gleich als


Putsch einordnen – wie das der bri-


tische Labour-Chef Jeremy Corbyn


oder die demokratische Abgeordne-


te Alexandria Ocasio-Cortez in den


USA jetzt tun.


Morales hat sich die schwere Kri-


se selbst eingebrockt. Er beugte


mehrfach die Verfassung, um sich


jetzt zum vierten Mal wählen zu las-


sen, obwohl nur zwei Mandate er-


laubt sind. Die Bolivianer hatten


ihm in einem Plebiszit 2016 klar ge-


sagt, dass sie einen Machtwechsel


wollen. Doch dann fälschte Morales


vor drei Wochen das Wahlergebnis


vom 20. Oktober und erklärte sich


zum Präsidenten – wie die Organi-


sation der Amerikanischen Staaten


jetzt überraschend klar feststellte.


Die Militärs empfahlen Morales zu-


rückzutreten, weil sie wie die Poli-


zei nicht auf Demonstranten schie-


ßen würden. Dass Morales sich als


Opfer eines Putsches sieht, ist das


übliche Narrativ, wenn Linke die


Macht verlieren in Lateinamerika.


Wichtig ist jetzt, dass es zügig


Neuwahlen gibt. Doch es wird


schwer, eine Regierung zu finden,


hinter der sich alle versammeln


können: Da ist einerseits die weiße


Minderheit, die vor allem im tropi-


schen Flachland um Santa Cruz die


wirtschaftliche Macht innehat. Auf


der anderen Seite steht die indigene


Mehrheit der Bevölkerung in den


Anden, die politisch dominiert. Mo-


rales konnte in seinen fast 14 Regie-


rungsjahren ein Gleichgewicht her-


stellen. Hohe Einnahmen für Erd-


gas, Soja und Erze halfen dabei.


Doch nun hinterlässt er seinen


Nachfolgern nicht nur politisch ein


Chaos. Die nächste Regierung muss


Sparmaßnahmen durchsetzen – der


Haushalt ist tief im Defizit, die Leis-


tungsbilanz ebenso. Es scheint, als


entstünde in Südamerika ein weite-


rer Brandherd, der lange brauchen


wird, bis er gelöscht werden kann.


In Bolivien entsteht ein weiterer
Brandherd Südamerikas, der
schwer zu löschen sein wird,
fürchtet Alexander Busch.

Der Autor ist Korrespondent in


São Paulo.


Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


Meinung

& Analyse

DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 2019, NR. 220


12

Free download pdf