Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
Larissa Holzki Lissabon

W


er in diesen Ta-
gen in Lissabon
unterwegs ist,
wird Teil einer
Weltpremiere –
ohne es zu merken. Das Quanten-
computer-Unternehmen D-Wave
und Volkswagen führen den ersten
Quantencomputing-Feldversuch
durch. Mit den Echtzeitdaten von
Mobilfunknutzern berechnet ein
Quantencomputer in Vancouver,
wie sich neun Linienbusse am
schnellsten durch die Massen zur

Technologiemesse „Web Summit“
schlängeln. Damit bringen die bei-
den Unternehmen zwar derzeit nur
wenige Menschen schneller ans Ziel,
die technologische Entwicklung
aber einen großen Schritt voran.
Gerade erst hat Google seine
Quantenüberlegenheit verkündet.
Erstmals ist es Forschern gelungen,
mit einem universellen Quanten-
computer eine Berechnung durch-
zuführen, die mit Supercomputern
viel länger gedauert hätte. Nun folgt
der nächste Durchbruch mit einem

anderen Ansatz: Ein spezialisierter
Quantencomputer macht die Tech-
nologie auch praktisch nutzbar. Für
viele Unternehmen ist es höchste
Zeit, sich mit der Technologie zu be-
fassen. „Wir schreiben hoffentlich
ein Kapitel in die Geschichte der In-
formationstechnologie“, sagt Volks-
wagen IT-Chef Martin Hofmann.
Auch als Fahrgast eines Quanten-
busses merkt man von der Zukunfts-
technologie im Hintergrund nichts.
Allein die Anzeige „Quantum Shut-
tle“ macht auf das Projekt aufmerk-
sam. Die Navigations-App des Bus-
fahrers läuft auf einem gewöhnli-
chen Tablet. Einer der Busfahrer
berichtet, dass die Routenführung
sich am ersten Testtag nur im Be-
rufsverkehr geändert hat. Bei acht
von zehn Fahrten sei er auf der al-
ternativen Strecke schnell vorange-
kommen, zweimal wäre er am Ende
lieber auf der anderen Strecke ge-
blieben. Aber das ist ein Gefühl –
den Quantenvorsprung können nur
Daten belegen.

Programmiersprache
soll kommen
„Am allerbesten können Quanten-
computer Optimierungsprobleme
lösen“, sagt der Geschäftsführer von
D-Wave, Vern Brownell, dem Han-
delsblatt. Etwa 150 Anwendungsfälle
hat das Unternehmen nach eigenen
Angaben, darunter in Finanzdienst-
leistungen, Material- und Pharma-
forschung. Forscher wollen damit
auch herausfinden, wie Wasser un-
terirdisch am besten fließen kann
und wie 5G-Sendemasten arbeiten
sollten, sagt Brownell.
Die Projekte stehen noch am An-
fang, es sind sozusagen Labortests,
wie die Technologie im konkreten
Fall den größten Nutzen stiftet. Kun-
den können die Quantencomputer-
leistung pro Stunde mieten oder zu-
sammen mit D-Wave-Experten Algo-
rithmen entwickeln. So lernt auch
das kanadische Unternehmen
D-Wave dazu. „Volkswagen hat uns
sehr geholfen zu erkennen, wie man
die Technologie nutzt und wie man
die Nutzung einfacher macht“, sagt
Brownell.
Noch brauchen Anwender dazu
eigene Experten. Volkswagen hat
drei Jahre lang zwölf Physiker, Quan-
tenphysiker und Mathematiker in
München und San Francisco auf das
Projekt angesetzt, die das Problem
in die richtigen mathematischen
Formeln übersetzt haben, damit der
Quantencomputer es berechnen
kann. Das erklärte Ziel von D-Wave
ist es aber, eine Programmierspra-
che zu entwickeln, die die Quanten-
computernutzung einfacher macht.
Bei ihrem Pilotprojekt in Lissabon
haben die Experten von D-Wave und
Volkswagen zunächst einen klassi-
schen Computer mit Daten gefüt-
tert, wie Menschen sich bei Veran-
staltungen wie dem Web Summit
normalerweise durch Lissabon be-
wegen und wie sich Stau auf einer
Strecke auf den Verkehrsfluss auf an-
deren Straßen auswirkt. Mithilfe ak-
tueller GPS-Daten hat der Computer
maschinell gelernt, den Verkehr der
nächsten 45 Minuten vorherzusa-
gen. Das System arbeitet also mit
sämtlichen anonymisierten Bewe-
gungsdaten von Smartphones, die
sich ins Mobilfunknetz innerhalb
des Versuchsfelds einwählen.
Dieses Modell wurde schließlich in
den Quantencomputer überführt.
Der muss die komplexe Aufgabe be-
rechnen, über welche alternativen
Routen die Busse noch an ihr Ziel
kommen und die Fahrgäste einsam-
meln könnten – und zwar ohne dass

andere Verkehrsteilnehmer dadurch
ausgebremst werden. Laut Volkswa-
gen hätte ein klassischer Computer
ungefähr 30 Minuten gebraucht – so
lange will einerseits kein Autofahrer
auf die Ansagen warten, und ande-
rerseits hätte sich die Situation
längst wieder geändert. Die neun
Busse in Lissabon erhalten jetzt alle
zwei Minuten neue Routenberech-
nungen, die mit nur ein bis zwei Mi-
nuten Verzögerung den aktuellen
Verkehr zugrunde legen sollen, um
Staus und stockenden Verkehr vor-
herzusagen.
Der gewählte Ansatz ist skalierbar:
Ein Verkehrsteilnehmer wird besser-
gestellt, kein anderer muss darunter
leiden. Mit der Quantennavigation
können neun Busse, 100 Busse oder
alle Verkehrsteilnehmer schneller
ans Ziel kommen, weil mitberechnet
ist, dass kein neuer Stau entstehen
darf. Eine Simulation in Peking hat
laut Hofmann gezeigt, dass die indi-
viduelle Routenänderung für 500
von 10 000 Taxen in einem Bereich
der Stadt einen prognostizierten
Stau verhindern kann.
Wenn sich die Erwartungen also
bestätigen, würde so jedes bereits
vorhandene Auto, das mit der Volks-
wagen-Software ausgestattet wird,
die Verkehrssituation verbessern.
„Die Idee ist, dass wir damit unser
Produkt erweitern“, sagt Hofmann
in Lissabon. Autos könnten also
künftig zum Stauverhinderer wer-
den.
Konkrete Anwendungsmöglichkei-
ten gibt es aber auch für Städte. Sie
könnten möglicherweise den Berufs-
verkehr mit temporären Einbahn-
straßen entstressen. Lissabon ist ein
gutes Beispiel: Zu den Stoßzeiten
seien noch einmal so viele Pendler
in der portugiesischen Hauptstadt
unterwegs, wie die Stadt Einwohner
hat, sagt Tiago Farias, Chef von Car-
ris, der kommunalen Verkehrsgesell-
schaft für die Metropolregion. Städ-
te könnten den Verkehr aber auch
anhand anderer Kriterien als der
Fahrtdauer mit Quantencomputing
optimieren. Zum Beispiel, wenn sie
Fahrzeuge gezielt an Gefahrenstel-
len vorbeilenken.

Zusammenarbeit mit
Forschungszentrum Jülich
Die entwickelten Algorithmen hat
sich Volkswagen bereits in den USA
patentieren lassen. Noch geht es für
den Konzern laut Hofmann aber vor
allem darum, die Zukunftstechnolo-
gie von Anfang an zu verstehen und
eine mögliche Disruption nicht zu
verpassen. Deshalb haben Vertreter
des Konzerns vor drei Jahren
D-Wave im Büro in Palo Alto be-
sucht und gefragt: „Haben wir Pro-
bleme, die mit Quantencomputing
besser zu lösen sind, und können
wir dafür heute schon etwas tun?“,
schildert Hofmann.
Ganz nah dran an der Quanten-
technologie ist auch das For-
schungszentrum Jülich zwischen
Köln und Aachen. Ende Oktober hat
D-Wave bekanntgegeben, dass in Jü-
lich das erste cloudbasierte Leap-
Quantencomputer-System außer-
halb Nordamerikas untergebracht
werden soll. Das Forschungszen-
trum kann damit auf die Dienste
von D-Wave zugreifen, auch euro-
päische Geschäftskunden können
einen Zugang zu dem System mie-
ten. Für Mitte 2020 hat D-Wave die
nächste Generation seines Quanten-
computers angekündigt, die noch
besser als das aktuelle Modell auf
die praktische Nutzung ausgelegt
ist. Eines der neuen Modelle soll in
Jülich stehen.

Web Summit Lissabon


Quantencomputing


im Live-Test


D-Wave und Volkswagen starten den ersten


Quantenfeldversuch im Stadtverkehr von Lissabon.


Verkehr in Lissabon:
Das Auto könnte zum
Stauverhinderer werden.

mauritius images / Jose Fuste Raga

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DONNERSTAG, 7. NOVEMBER 2019, NR. 215
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