Handelsblatt - 07.11.2019

(Darren Dugan) #1
Stefano Pessina

Der stille Pharma-Milliardär


I


n Italien geboren, wohnhaft in
Monaco und auf der Liste der
reichsten Italiener auf Platz
drei: Der 78-jährige Stefano Pessina
arbeitet am liebsten im Hinter-
grund. Schon bald könnte er auch
die internationale Apotheken- und
Drogeriekette Walgreens Boots Alli-
ance vor dem Blick der Öffentlich-
keit schützen. Laut Medienberich-
ten will der Vorstandsvorsitzende
und Großaktionär das Unterneh-
men mithilfe von Finanzinvestoren
von der Börse nehmen.
Mit einem Wert von 70 Milliarden
US-Dollar wäre es die größte fremd-
finanzierte Übernahme eines bör-
sennotierten Unternehmens. Und
für Pessina wäre es nicht das erste
Mal: Nachdem er 2006 sein Unter-
nehmen Alliance Unichem mit
Boots verschmolzen hatte, nahm er
das Gemeinschaftsunternehmen
ein Jahr später für 16 Milliarden Dol-
lar von der Börse. Geholfen hat ihm
dabei der Finanzinvestor KKR – ein
Name, der auch aktuell wieder fällt.
Pessina ist in Pescara in den
Abruzzen geboren und in Mailand,

Como und Neapel aufgewachsen.
Nach seinem Studium zum Atomin-
genieur hat er zunächst an der Uni-
versität und beim Marktforschungs-
institut AC Nielsen in Mailand gear-
beitet. 1977 übernahm er mit 36
Jahren die Führung des elterlichen
Pharma-Großhandels in Neapel,
baute daraus den italo-französi-
schen Anbieter Alliance Santé, der
dann 1997 zu Alliance Unichem fu-
sionierte und sich zwei Jahre später
mit Boots zusammenschloss.
Auch nach der Übernahme seines
Konzerns durch Walgreens im Jahr
2015 blieb Pessina mit 15 Prozent
der größte Anteilseigner. Außerdem
führte er das Unternehmen, das im
vergangenen Jahr 131 Milliarden Dol-
lar umsetzte, fünf Milliarden Ge-
winn erzielte und 415 000 Mitarbei-
ter beschäftigte, als Vorstandschef.
Zuletzt hatte Pessina jedoch deut-
lich zu kämpfen. Sowohl im Apo-
thekengeschäft als auch bei den
Drogerien treten neue Spieler auf
den Markt, die den traditionellen
Ketten online und offline Konkur-
renz machen. Pessina sitzt auf einer
Vielzahl von Geschäften, die sich in
Zeiten des Onlinehandels nicht
mehr rechnen. Der Aktienkurs ist
deutlich gesunken. Jenseits der Bör-
se hofft er wohl, das Unternehmen
leichter auf die Zukunft trimmen zu
können. Katharina Kort

Stefano Pessina:
Der Milliardär meidet
gern die
Öffentlichkeit.

interTOPICS/Justin Sutcliffe

Mona Späth (l.) und Hanna Jakob: Ihre App ist bei mehr als 600 Logopä-
den im Einsatz.

neolexon


Der gebürtige Italiener
könnte die Apothekenkette
Walgreens von der Börse
nehmen. Es wäre nicht sein
erster Deal dieser Art.

Mona Späth und Hanna Jakob

Tablet statt


Bildkärtchen


Die Neolexon-Gründerinnen
haben Sprachtherapie digital
interaktiv gemacht. Jetzt
hoffen sie, dass die Erstattung
von Apps bald Gesetz wird.

H


anna Jakob und Mona Späth
helfen Patienten, nach ei-
nem Schlaganfall wieder
sprechen zu lernen. Und weil die bei-
den promovierten Sprachtherapeu-
tinnen nicht länger nur mit Bildkärt-
chen arbeiten wollten, haben sie vor
drei Jahren mit zwei Mitgründern das
Start-up Neolexon aus der Taufe ge-
hoben und eine App entwickelt.
Dank dieser können Patienten am
Tablet anhand von Fotos und Videos
Wörter und Bedeutungen neu erler-
nen. Die Programme sind individuell
angepasst: Fußballfans lernen wieder
„Tor“ und Trikot“ zu sprechen, Gar-
tenfans das Wort „Rasenmäher“.
Für diese digitale Innovation wur-
den Neolexon vor zwei Jahren mit
dem Health-i-Award von Handelsblatt
und Techniker Krankenkasse ausge-
zeichnet. Und beim diesjährigen
Award, der am heutigen Donnerstag
in Berlin verliehen wird, können die
Gründerinnen berichten, dass ihre
App mittlerweile bei mehr als 600
Logopäden im Einsatz ist, einige
Krankenkassen das Angebot erstatten
und ihr Start-up mit insgesamt sieben
festen Mitarbeitern profitabel ist. Wie
viel Umsatz Neolexon erzielt, verra-
ten sie allerdings nicht.
Ein Selbstläufer war diese Erfolgs-
geschichte nicht. Hanna Jakob, 32,
und Mona Späth, 30, sind zu vielen
Tagungen von Logopäden gereist
und haben ihr Programm vorgestellt.
Und auch die Krankenkassen für eine
Erstattung zu gewinnen war und ist
zähe Überzeugungsarbeit.
Ein Großteil des Umsatzes kommt
durch Selbstzahler: „Weil die Not der
Patienten mit Sprachstörung nach ei-
nem Schlaganfall groß ist, sind sie
hochmotiviert zu üben. Und es gibt
eine große Bereitschaft, für unser
Produkt zu zahlen“, sagt Hanna Ja-
kob. Drei Monate Nutzung der App
kosten 74 Euro, ein Jahr 189 Euro. In
der Praxis bekommen Schlaganfall-

patienten übrigens meist viel weniger
Sprachtherapie verordnet, als sie für
eine effektive Therapie eigentlich
bräuchten. Mit der Neolexon-App,
die als Medizinprodukt zertifiziert ist,
können sie selbstständig üben, und
der Logopäde kann die Therapiefort-
schritte nachverfolgen.
Seit April dieses Jahres hat Neole-
xon ein neues Produkt auf dem
Markt: die Neolino-App für Kinder im
Vor- und Grundschulalter, die wegen
einer Aussprachestörung wie bei-
spielsweise Lispeln in logopädischer
Behandlung sind. Gemeinsam mit
den Mitgründern und Informatikern
Jakob Pfab, 29, und Swaroop Nunna,
32, wurde ein sehr spielerisches Ei-
gentraining entwickelt, das auf viel-
seitige Belohnung setzt. Die Techni-
ker war die erste gesetzliche Kran-
kenkasse, die diese App erstattete,
mittlerweile sind andere gefolgt.
Dagmar Karrasch, Präsidentin des
Bundesverbandes für Logopädie,
lobt bei den Neolexon-Gründerinnen
den hohen wissenschaftlichen An-
spruch bei gleichzeitiger Anwender-
orientierung, beziehungsweise Pra-
xisnähe. „Für mich sind sie ein Bei-
spiel für die Innovationskraft in der
Logopädie als angewandte Wissen-
schaft“, sagt sie.
In der vergangenen Woche siegte
Neolexon neben anderen Start-ups
beim Wettbewerb Healthy Hub ver-
schiedener gesetzlicher Krankenkas-
sen. Das dürfte beim Thema Erstat-
tung helfen. Vor allem aber hoffen
die Gründerinnen darauf, dass mit
dem „Digitale Versorgung Gesetz“
die digitale Sprachtherapie künftig
von allen gesetzlichen Kassen erstat-
tet wird. „Das würde unsere Arbeit
wirklich erleichtern“, sagt Hanna Ja-
kob. M. Telgheder

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