Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 geld&mehr 31


Staaten) Konzessionen in Richtung einer
supranationalen Risikoteilung gemacht.
Draghi hat in der Konstruktion der Wäh-
rungsunion keine bedeutende Rolle ge-
spielt, aber er hat seine Rolle als Präsi-
dent der Europäischen Zentralbank ge-
nutzt, um für Fortschritte in der Integra-
tion der Finanzpolitik sowie der Banken-
und Kapitalmärkte einzutreten. Damit
wurde für die sich in Deutschland zu-
nächst vor allem in der akademischen
Szene, dann auch in den Medien und in
der Politik ausbreitende Euro-Kritik
nicht nur die Bundesregierung zur Ziel-
scheibe von Anfeindungen, sondern auch
der EZB-Präsident.
Draghi hat seine Ansichten nicht geän-
dert. „Der Aufbau des Europäischen Sta-
bilitätsmechanismus (ESM), der Start
der Europäischen Bankenaufsicht, die
Schaffung eines gemeinsamen Abwick-
lungsfonds – all dies stieß auf Wider-
stand mit Hinweis auf moralisches Fehl-
verhalten oder eine angemessene Über-
tragung von bisher national wahrgenom-
menen Kompetenzen auf die europäi-
sche Ebene“, sagte er kürzlich in einer
Rede. „Im Rückblick hat den Regierun-
gen in der Eurozone nicht der Mut ge-
fehlt, und sie haben Schritte im entschei-
denden Moment übernommen. Im Er-
gebnis ist unsere Währungsunion heute
stärker, und die meisten vorausgesagten
Schwierigkeiten sind nicht eingetreten.“
Alles hat Draghi allerdings nicht bekom-
men – weder eine gemeinsame europäi-
sche Finanzpolitik noch eine Banken-
und Kapitalmarktunion.
„Die größte Macht hat das richtige
Wort zur richtigen Zeit“, schrieb Mark
Twain. Die zweite Ebene der Entfrem-
dung zwischen Draghi und den Deut-
schen betrifft die Frage nach den Gren-
zen des Mandats einer von der Politik un-
abhängigen Zentralbank. Zu dieser Ent-
fremdung haben vor allem jene Worte
beigetragen, mit denen Draghi nach An-
sicht vieler Beobachter in einer kriti-
schen Situation den Zusammenhalt der
Eurozone gesichert hat.
Am 26. Juli 2012 fand im Lancaster
House in London eine hochrangig be-
setzte Finanzkonferenz mit Draghi als
Teilnehmer an einer Podiumsdiskussion
statt. Vor Beginn der Runde sagte Dra-
ghi zu den anderen Teilnehmern noch,
sie könnten sich mit ihren Ausführungen
Zeit lassen, denn er habe ohnehin nicht
viel zu sagen. Und wer das im Internet
veröffentlichte Video von Draghis kur-
zer Rede anschaut, würde aus den anfäng-
lichen Ausführungen nicht auf den histo-
rischen Charakter dieser Rede schließen.
Dann faltete Draghi die Hände und sag-
te: „Aber es gibt eine andere Botschaft,
die ich Ihnen mitteilen möchte. Inner-
halb unseres Mandats ist die EZB bereit
zu tun, was immer nötig ist, den Euro zu
bewahren.“ Nach einer kurzen Pause
folgt das Ende dieser Sequenz: „Und
glauben Sie mir, es wird ausreichen.“
„Whatever it takes“ - was immer nötig
ist. Mit diesen drei mittlerweile berühm-
ten Wörtern und den aus ihnen sich ab-
leitenden Folgen hat Draghi die Ge-
schickte der Währungsunion nachhaltig
beeinflusst. Seine Nachfolgerin Chris-
tine Lagarde, die damals im Publikum
saß, sagte später, sie habe damals sofort
die außerordentliche Bedeutung der
Rede gespürt. Und auch manche Leute,
die Draghis Geldpolitik sehr kritisch ge-
genüberstehen, räumen ein, dass der
Londoner Auftritt ebenso mutig wie
smart gewesen sei. Was auf den ersten
Blick improvisiert wirkte, war das Ergeb-

nis längerer Überlegungen gewesen. Zu
Draghis Verständnis von Macht gehörte,
dass die Bundesregierung vorher infor-
miert gewesen sein soll, Bundesbankprä-
sident Jens Weidmann aber nicht.
Grenzüberschreitungen aus der Sicht
traditioneller deutscher Geldpolitik hatte
es in der EZB schon unter Draghis Vor-
gänger Jean-Claude Trichet etwa in Ge-
stalt der Ankäufe von Anleihen aus Kri-
senländern gegeben. Sie bewegten das
deutsche Direktoriumsmitglied Jürgen
Stark zum Rücktritt. Auch Bundesbank-
präsident Axel Weber, der damals Hoff-
nungen hegte, Nachfolger Trichets in
der EZB zu werden und der hierfür aber
keine ausreichende Unterstützung durch
die Bundesregierung sah, war gegangen.
Trichet hatte gleichwohl lange Zeit
darauf geachtet, sich nicht allzu weit von
den Prinzipien der Bundesbank zu entfer-
nen. Für Draghi, den die „Bild“-Zeitung
bei seinem Amtsantritt im November
2011 als einen Preußen bezeichnet und
mit Pickelhaube abgebildet hatte, spiel-
ten solche Traditionen keine Rolle. Der
Gedanke, als Geldpolitiker ein politi-
sches Projekt wie die Europäische Wäh-
rungsunion zu retten, stellte aus der
Sicht vieler Kritiker eine klare Über-
schreitung seines Mandats dar, auch
wenn Draghi eine gegenteilige Ansicht
vertritt. „Die EZB ist mit dem Mandat
der Sicherung der Preisstabilität gegrün-
det worden, und Preisstabilität gründet
auf der Existenz des Euros. Wenn es kei-
nen Euro gibt, ergibt das Mandat keinen
Sinn“, sagte er der „Financial Times“.
Die Kritik an Draghi nahm erheblich
zu, als den Worten Taten folgten. Denn
mit Worten allein ließen sich die auf den
Zusammenbruch der Eurozone spekulie-
renden Finanzmärkte nicht beruhigen.
Draghis Antwort war ein Programm na-
mens OMT („Outright Monetary Trans-
actions“). Es sieht seitens der EZB vor,
in Schwierigkeiten befindlichen Euro-
Mitgliedsländern durch den Ankauf kurz-
laufender Staatsanleihen zu helfen, so-
fern ein Mitgliedsland vorher einen An-
trag auf Hilfen aus einem europäischen
Rettungsfonds gestellt hat und sich be-
reit erklärt, von dem Fonds aufgestellte
wirtschaftspolitische Bedingungen zu ak-
zeptieren. Offiziell begründet wurden
die Anleihekäufe mit der Notwendigkeit,
die Wirksamkeit der Geldpolitik in den
Krisenländern zu sichern. Der Zentral-
bankrat der EZB stimmte dem Pro-
gramm mit 21 von 22 Stimmen zu – die
Gegenstimme stammte von Bundesbank-
präsident Jens Weidmann. Die Bundesre-
gierung sagte, die EZB handele inner-
halb ihres Mandats.
Kein anderes Programm Draghis hat
die Proteste in Deutschland mehr beför-
dert als OMT. Als „Falschmünzer" wur-
de Draghi vom damaligen CSU-General-
sekretär Alexander Dobrindt bezeichnet.
Die Bundesbank schlug sich auf die Seite
der Kritiker, die Verstöße gegen das Ver-
bot der Staatsfinanzierung durch die No-
tenpresse sahen sowie die Gefahr einer
Umverteilung von Risiken zwischen den
Steuerzahlern unterschiedlicher Länder.
Kurz: Die EZB überschreite ihr Mandat,
indem sie Finanz- und Umverteilungspo-
litik betreibe, die aber gewählten Politi-
kern vorbehalten seien.
Das häufig verwendete Bild, der deut-
sche Steuerzahler müsse für die überbor-
denden Schulden Südeuropas haften,
wurde von vielen Gegnern verwendet,
die OMT vor Gericht brachten, dort
aber – wie auch in anderen europäischen
Dossiers – nicht das bekamen, was sie

sich erhofft hatten. Denn das Bundesver-
fassungsgericht schloss sich den Vorbe-
halten der Kritiker zunächst weitgehend
an, gab die Angelegenheit dann aber an
den Europäischen Gerichtshof weiter,
der im Sinne der EZB urteilte. Dem
schloss sich das Bundesverfassungsge-
richt anschließend weitgehend an, auch
wenn es ein paar Bedingungen für die
Anleihekäufe stellte.
Draghi kümmerte sich auch weiterhin
nicht um Vorbehalte traditionell denken-
der Geldpolitiker. Dies zeigt auch die
dritte Ebene der Entfremdung – die Ver-
wendung geldpolitischer Instrumente.
Im Jahre 2014 führte die EZB negative
Leitzinsen ein, denen im Jahre 2015 ein
mehrere Billionen schweres Anleihekauf-
programm folgte. In der Zwischenzeit
hatte der anfangs vor allem von Ökono-
men getragene Protest zur Gründung
der Alternative für Deutschland (AfD)
geführt, deren anschließende Wahlerfol-
ge der damalige Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble etwa zur Hälfte mit
der Geldpolitik der EZB erklärte. Nach
der Auflegung des Anleihekaufpro-
gramms nahm die öffentliche Kritik der
deutschen Finanzbranche in einem solch
extremen Maße zu, dass es nicht allzu
fern lag, dahinter eine orchestrierte Kam-
pagne zu vermuten.
Manche deutsche Kritiker haben an-
geblich den Konflikt mit der EZB als ei-
nen Machtkampf gegen Mario Draghi
gedeutet. Wenn dem so war, so haben sie
diesen Machtkampf verloren, und es
lohnt, den Gründen nachzugehen. Zum
einen ist Deutschland nur ein Land in
der Eurozone, wenn auch das größte. Fu-
ror aber lässt sich nicht leicht exportie-
ren. Selbst wenn die Geldpolitik auch in
anderen Ländern kritisch begleitet wor-
den ist, so fehlte es dort doch an jenem
Maß an Empörung und an Wut, das in
Deutschland zu beobachten war. Zwei-
tens haben weder Regierungen noch Ge-
richte eine Bereitschaft gezeigt, der EZB
grundsätzlich in die Parade zu fahren.
Zudem ist Mario Draghi ein Mann,
der nach dem frühen Tod seiner Eltern
in jungen Jahren Verantwortung über-
nehmen musste und mit Disziplin, Wil-
len und Fleiß eine beeindruckende Kar-
riere absolviert hat und hinter dessen
meist freundlicher Attitüde sich bei Be-
darf eine große Härte verbirgt. Gegen
deutsche Kritiker, die ihn mit abfälligen
Bemerkungen häufig nicht verschonten,
wusste er kräftig auszuteilen. „Nein zu al-
lem“ sei keine Antwort auf die Krise, sag-
te er im Jahre 2012 einem damals noch
Beifall spendenden Publikum. Ende 2017
attackierte Draghi auf einer Konferenz
in Frankfurt Ökonomen aus Deutsch-
land mit der Feststellung, viele Kritiker
„seien von der Außenwelt abgeschirmt“.
Mit dem Satz „Wir sprechen Englisch!“
deutete er an, dass seine Geldpolitik von
vielen internationalen Ökonomen unter-
stützt wird und mancher deutsche Kriti-
ker mit neuen wissenschaftlichen Er-
kenntnissen offenbar nicht vertraut sei.
Auf der EZB-Konferenz in Sintra im
vergangenen Juni ließ sich Draghi dann
zu der Äußerung verleiten, Populisten
seien in jenen Ländern stark, in denen
die Geldpolitik der EZB nicht richtig er-
klärt werde. Viele Anwesende verstanden
dies als einen bösen Seitenhieb auf den
anwesenden Weidmann. Auch wenn
Draghi später betont haben soll, er habe
nicht an Weidmann gedacht, blieb ein
sehr unangenehmer Nachgeschmack.
Daraus wird nicht nur ein erhebliches
Kommunikationsproblem deutlich, das

Draghi niemals ernsthaft zu überwinden
versuchte. Erkennbar wird auch: Draghi
forderte Gefolgschaft ein. Er arbeitete
gerne mit einem kleinen Kreis von Ver-
trauten; potentielle Gegenspieler im Zen-
tralbankrat versuchte er mit intern
„Beichtstuhlverfahren“ genannten Vier-
Augen-Gesprächen auf Linie zu brin-
gen – und nicht selten funktionierte es.
Fachlicher Widerstand hätte im Prinzip
am ehesten von EZB-Chefvolkswirt Pe-
ter Praet kommen können, einem sehr
sympathischen Mann, der aber kein öko-
nomisches Schwergewicht wie sein Vor-
vorgänger Otmar Issing war und der häu-
fig versicherte, zwischen ihn und Draghi
passe kein Blatt Papier.

Am Ende waren die deutschen Kriti-
ker trotz vieler wuchtiger Worte einfach
zu schwach. Die Menschen rebellieren
am ehesten gegen die Geldpolitik in ei-
ner Situation hoher Inflationsraten. Aber
in den Draghi-Jahren blieb die durch-
schnittliche Inflationsrate in der Eurozo-
ne mit 1,2 Prozent sowohl unter dem Ziel
der EZB wie unter den Erwartungen vie-
ler Beobachter. Gerade deutsche Ökono-
men hatten zu Beginn der Amtszeit
Draghis zum Teil groteske Fehleinschät-
zungen über angeblich unausweichliche
Inflationsschübe veröffentlicht, die nicht
zu ihrem Ansehen beitrugen. Anschlie-
ßende Versuche, die Berechnung der In-
flationsrate anzuzweifeln, hatten keinen
durchschlagenden Erfolg.
Ähnlich gingen Versuche aus, die aus
der Geldpolitik, anderen Elementen der
Euro-Rettung sowie den Targetsalden
stammenden finanziellen Risiken für
Deutschland zu dramatisieren. Auf die-
sem Gebiet tat sich besonders Hans-Wer-
ner Sinn hervor. Aber mit der
Sinn’schen Apokalypse ist es wie mit der
vermeintlich dräuenden Hyperinflation
und den auf die Dauer ermüdenden Pro-
gnosen über einen Crash des Banken-
oder Geldsystems: Je länger die angekün-
digte Katastrophe ausbleibt, umso stär-
ker verhallt die Botschaft.

„Je größer die Macht, umso gefährli-
cher der Missbrauch“, schrieb der irisch-
englische Staatsmann Edmund Burke.
Nichts hält ewig, und ein Missbrauch
von Macht weckt früher oder später Ge-
genkräfte. Die größte Gefahr für die
Macht von Draghis EZB ist immer Drag-
hi selbst gewesen. Mit seiner dieses Jahr
in Sintra angekündigten Absicht, ohne
jede Vorabsprache mit dem Zentralbank-
rat eine weitere geldpolitische Locke-
rung ohne jede wirtschaftliche Notwen-
digkeit auf den Weg zu bringen, hatte er
den Bogen kurz vor Ende seiner Amts-
zeit überspannt. Von den im September
veröffentlichten Beschlüssen stieß vor al-
lem die Wiederaufnahme des Anleihe-

kaufprogramms auf bisher ungekannten
Widerstand. In der Folge wurde eine tie-
fe Spaltung im Zentralbankrat offensicht-
lich, die Draghi ohne jede Not zugelas-
sen hatte. Ein kurze Zeit später veröffent-
lichtes Manifest ehemaliger Geldpoliti-
ker aus mehreren Ländern, darunter Is-
sing und Stark, verdeutlichte, dass mit
dem Ende von Draghis Amtszeit der
Druck übermächtig wird, einmal grund-
sätzlich über Ziele und Instrumente der
Geldpolitik in der Eurozone zu spre-
chen. Eine solche Erörterung ist auch im
Interesse der EZB dringend notwendig.
Vermutlich wird es in den Geschichts-
büchern heißen, Draghi sei allein wegen
seiner Londoner Rede ein sehr bedeuten-
der Geldpolitiker gewesen. Ein sehr
mächtiger Geldpolitiker war er auf jeden
Fall. Aber eine zu große Macht der Geld-
politik wird auf die Dauer für eine auf
wohlwollende Unterstützung durch die
Bevölkerung angewiesene Institution wie
eine unabhängige Zentralbank gefähr-
lich. Zudem ermuntert sie Regierungen,
im Vertrauen auf die Macht der Geldpoli-
tik unangenehme, aber notwendige Ent-
scheidungen hinauszuzögern. Im Kreise
der Geldpolitiker seiner Epoche ist Ma-
rio Draghi ein Solitär gewesen. Seiner
Nachfolgerin Christine Lagarde ist zu
wünschen, dass sie die EZB wieder nä-
her an die Menschen führt.

Innerhalb


unseres


Mandats ist


die EZB bereit


zu tun, was


immer nötig ist,


den Euro zu


bewahren. Und


glauben Sie


mir, es wird


ausreichen.“


Mario Draghis berühmtester Satz,
ausgesprochen am 26. Juli 2012
inmitten der Euro-Krise.


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Im November dieses Jahres wird die Französin Christine Lagarde Draghis Nachfolgerin. Am vergangenen Freitag wurde sie von den Eurostaaten offiziell ernannt. Foto Reuters
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