Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 feuilleton 39


Terror als Spiel und


seine Ideologie


Ü


ber Computerspiele zu
sprechen, wenn es um
Ereignisse wie den Ter-
roranschlag in Halle
geht, wird hierzulande
oft als Verharmlosung
oder Ablenkung verstanden (so wie Do-
nald Trump offensichtlich von der Not-
wendigkeit neuer Waffengesetze ablen-
ken wollte, als er nach dem Schulmassa-
ker von Parkland 2018 als Erstes von Ge-
walt in Videospielen sprach). Doch wenn
man das sogenannte Spiel so eng mit der
Ideologie verknüpft, wie es bei den Mor-
den tatsächlich gewesen ist, stellt das
Thema eine notwendige Zuspitzung, ja
Verschärfung der politischen Frage dar,
um die es geht: Was haben der Rechtsra-
dikalismus, der Rassismus und der Antise-
mitismus, die jetzt immer mörderischere
Folgen hervorbringen, mit der Gesell-
schaft zu tun, die sie umgibt, und wie ver-
ändern sie diese?
Natürlich gehört dazu die Durchleuch-
tung rechtsradikaler Milieus in bestimm-
ten Computerspielnetzwerken (was ja so
wenig behauptet, dass Computerspieler
von sich aus zum Rechtsradikalismus nei-
gen, wie die Ermittlung in rechtsradika-
len Kneipen nahelegt, Kneipengänger
seien generell verdächtig). Aber um die
politische Dimension der Spiele ernst zu
nehmen, muss man auch noch grundsätz-
lichere Fragen stellen: Was bedeutet es
überhaupt, wenn ein antisemitischer At-
tentäter sich der Formen und der Spra-
che der Gamer-Szene bedient, wenn er
seine Taten nach deren Vorbild model-
liert? Früher wurde diese Frage meist auf
einen psychologischen Aspekt reduziert,
etwa wenn man sich dafür interessierte,
ob die Spiele die Gewaltbereitschaft im
realen Leben steigern. Eine solche Psy-
chologisierung, oft noch mit einer allge-
meinen Entwirklichungshypothese im
Rücken, machte es den Verteidigern der
Branche leicht, ihren Kritikern kultur-
pessimistische Ignoranz vorzuwerfen,
die sich gegen das kulturell Neue, das
Computerspiele darstellen, sperrt. Seit-
her haben im Übrigen mehrere Untersu-
chungen, etwa des amerikanischen Psy-
chologen Christopher Ferguson, in Zwei-
fel gezogen, dass die Spiele die Neigung
zur Gewalt generell fördern. Heute geht
es weniger darum, ob sie zu einer Ver-
wechslung mit der Wirklichkeit Anlass
geben, als darum, inwiefern sie die Wirk-
lichkeit verändern, in der sie bewusst ein-
gesetzt werden.
Es ist offensichtlich, dass sich der Mör-
der von Halle bis in viele Einzelheiten
hinein an Brenton Tarrant, dem Attentä-
ter im neuseeländischen Christchurch,
orientierte, der am 15. März in zwei Mo-
scheen 51 Menschen erschossen hatte. Bei-
de betteten ihre Taten durch deren Insze-
nierung bei einer Live-Übertragung im
Internet in ein Computerspiel-Setting
ein. Die Perspektive der auf einen Helm
montierten Kamera auf den Waffenlauf
ähnelt der Sicht der Protagonisten in
Ego-Shooter-Spielen, bei denen es darauf
ankommt, in einer dreidimensionalen vir-
tuellen Welt möglichst viele Gegner abzu-
schießen. Als Medium wählte der Mörder
das Live-Streaming-Portal Twitch, das
vor allem für die Übertragung von Video-
spielen genutzt wird. Sich selbst bezeich-
net er als „Anon“, und in dem fortlaufen-
den Kommentar, mit dem er, wie in vie-
len Spielen üblich, den Livestream unter-
legt, nimmt er auch sonst immer wieder
Bezug auf „Memes“ und Codewörter, die
in der Szene gebräuchlich sind. In einem
zuvor verfassten Manifest spricht er von
„Achievements“, die er sich zum Ziel
setzt wie Gamer, die auf Punkte oder
sonstige digitale Trophäen aus sind.
Nach dem Christchurch-Massaker brach-


ten Nutzer des einschlägig rechten Por-
tals „8chan“ ihren Willen zum Ausdruck,
dessen hohe Punktzahl zu schlagen, „to
beat his high score“. Gemeint war die
Zahl der Ermordeten.
Zum ausdrücklichen Programm dieses
als Spiel inszenierten Terrors gehört also
neben dem Sich-selbst-unter-Druck-Set-
zen die Wiederholung. Die Taten wollen
nicht für sich stehen, sondern in einem
Kontinuum von Taten anderer Mitspie-
ler verstanden werden, die auf sie Bezug
nehmen und sie zu überbieten versu-
chen. Tatsächlich tauchten nach Christ-
church nicht nur mindestens drei neue
Ego-Shooter-Spiele im Netz auf, die das
Massaker minutiös nachstellten, sondern
es gab auch vor dem Anschlag in Halle
schon mehrere Nachahmungen in der
Wirklichkeit. Am 27. April schoss in der
kalifornischen Kleinstadt Poway ein
Neunzehnjähriger mit einem Sturmge-
wehr auf Gläubige in einer Synagoge
und tötete dabei eine sechzig Jahre alte
Frau; auch er hatte, allerdings vergeb-
lich, versucht, das Attentat live auf Face-
book zu übertragen, und in einem auf
8chan veröffentlichten offenen Brief
nannte er ausdrücklich Brenton Tarrant
als Inspiration. Auch der einundzwanzig-
jährige Attentäter, der am 3. August in ei-
nem Walmart-Supermarkt im texani-
schen El Paso mit einem halbautomati-
schen Gewehr 22 Menschen tötete, hatte
sich in einem auf 8chan veröffentlichten
Manifest auf Tarrant bezogen. Der Atten-
täter von Halle nun sprach seinen Live-
Kommentar zum Teil auf Englisch und

brachte damit zum Ausdruck, dass er
sich ein internationales Publikum erhoff-
te. Die Ideologien, die zur Begründung
der Taten herbeizitiert wurden, unter-
scheiden sich im Detail (antimuslimische
ebenso wie antisemitische Verschwö-
rungstheorien, Ökofaschismus, „großer
Austausch“), kommen aber sowohl in ih-
rem Rassismus als auch im gewählten
Medium mit der globalen Überbietungs-
konkurrenz im Netz überein. Deshalb
spricht man schon jetzt vom internationa-
len Trend einer „Gamifizierung“ des
rechtsradikalen Terrors.
Das wirkt wie die zynische Umkeh-
rung eines ursprünglich positiv gemein-
ten Begriffs. Die „Gamifizierung“, also
die Anwendung von Spieldesign-Merk-
malen auf andere Kontexte, gilt seit Jah-
ren in immer mehr gesellschaftlichen Be-
reichen als Allheilmittel, nicht nur in
Marketing und Werbung, sondern auch
in der Personalpolitik und bei der Kun-
denbindung von Unternehmen, im Bil-
dungswesen, im Gesundheitswesen, so-
gar bei der Förderung ökologischen Ver-
haltens. Die Anerkennung durch ein
Punktesystem, die Transparenz, die
durch die jederzeit sichtbare Darstellung
der eigenen Fortschritte hergestellt wird,
die eindeutig definierte „Quest“, also
Aufgabe, die in einer bestimmten Zeit be-
wältigt sein muss, die „Epic Meaning“,
die den Gamer ständig mit dem Sinn al-

ler seiner Aktivitäten in Verbindung hält,
die „Community Collaboration“, die die
Mitspieler bei einer bestimmten Aufgabe
zusammenwirken lässt: All solche Ele-
mente sollen dazu beitragen, den spielty-
pischen Flow in das im Zweifel frustrie-
rende, langweilige und dysfunktionale
Realleben zu übertragen. Sogar Ausbil-
dungskurse, die sich mit der Terrorbe-
kämpfung beschäftigen, wurden schon in
die Form von Spielen gegossen. Es gibt
zwar auch Kritiker wie Ian Bogost („Ga-
mification is bullshit“), die den manipula-
torischen und ausbeuterischen Zug die-
ser Übertragung geißeln, doch auch sie
wären nicht auf die Idee gekommen, sie
in einen Bezug zu Terrorakten zu stellen.
In der grundsätzlichen Weise jedoch,
in der die Computerspielentwicklerin
Jane McGonigal die Gamifizierung pro-
pagiert, etwa in dem Buch „Besser als die
Wirklichkeit“ (auf Deutsch 2012 erschie-
nen), wird ein Bezug zur Politik deut-
lich, innerhalb dessen auch der Terroris-
mus einen Platz finden kann. „Reality is
broken“, schreibt sie, und erst die Spiele
könnten sie wieder zusammenflicken,
könnten die „grundlegenden menschli-
chen Bedürfnisse“ erfüllen, die die echte
Welt nicht mehr befriedige. So weist sie
der Gamifizierung eine nicht geringere
Aufgabe als die Veränderung der Welt
zu, um Depression, mangelnde Partizipa-
tion und Klimawandel ein für allemal zu
überwinden.
Tatsächlich gibt es bei den Computer-
spielen mehrere Elemente, die sie als pass-
genaue Kompensation zu dem sich aus-
breitenden Unbehagen an der Globalisie-
rung erscheinen lassen können: Sie lassen
die Mitspielenden Akteure sein; sie entlas-
ten von allem, was nicht zur Aufgabe des
Spiels gehört; sie bilden Gemeinschaften.
Wenn es einen gemeinsamen Nenner des
in allen westlichen Demokratien in unter-
schiedlichen Weisen zu konstatierenden
Dralls nach rechts gibt, dann die Wahr-
nehmung, ohnmächtig, nicht mehr Herr
im eigenen Haus zu sein, sowohl individu-
ell wie kollektiv. Seit seinem Aufstieg in
der kolonialen Ära erlebt sich Europa
zum ersten Mal vorrangig als Objekt der
Welt, in die es bislang bloß selber aktiv
ausgriff, etwa in Gestalt der die heimi-
schen Märkte und Sozialstandards unter
Druck setzenden ökonomischen Konkur-
renz aus Asien oder der Flüchtlinge, die
aus verschiedenen Krisenregionen der
Erde nach Europa kommen. In dieser
Lage wieder Akteur zu sein, in einem fest
umrissenen, überschaubaren, nicht länger
durch Ambiguitäten und Komplizierthei-
ten geprägten Rahmen das Heft des Han-
delns in die Hand zu bekommen, das ver-
bindet die Computerspiele mit dezisionis-
tischen rechtsradikalen Wunschvorstellun-
gen in der Realität. Und ist bei den Atten-
tätern dieses Jahres offenbar zum Antrieb
für ihre fürchterliche Art der Gamifizie-
rung geworden.
Darüber hinaus hat der in Hongkong
lehrende Literaturwissenschaftler Alfie
Bown (Autor von „The Playstation
Dreamworld“, 2017) Muster bei bestimm-
ten Computerspielen benannt, die eine
spezifische Nähe zu rechten Topoi auf-
weisen: Grenzkontrollen, Gebietsaneig-
nungen, der Aufbau von Imperien, die
Angst vor Infektion und Verunreinigung
durch „Aliens“, mit denen man den
Kampf aufnimmt. Der Typus des „einsa-
men Wolfs“, mit dem sich die Terrorex-
perten zunehmend beschäftigen, ist auch
in vielen Videospielen eine prominente
Figur. Die Funktion der Gamifizierung
bei den Attentaten seit Christchurch ist
also offenbar die eines Katalysators, der
sich von den in ihn eingespeisten anti-
semitischen, antimuslimischen oder
sonst wie rassistischen Ideologien nicht

trennen lässt. Er stellt ein in sich ge-
schlossenes Narrativ und Rollenbild be-
reit, gliedert in eine globale Community
ein, die zugleich den eigenen Aktionen
Resonanz zu verschaffen verheißt, setzt
den Täter unter Druck und bringt eine
Dynamik der über die einzelne Tat hin-
ausweisenden Fortsetzung in Gang.
Wie es aussieht, könnte die Gamifi-
zierung die Politik auch noch auf ganz
anderen Feldern als dem des Terroris-
mus verändern. Micah White, ein
Mitbegründer von Occupy Wall Street,
hat darauf hingewiesen, dass der Situa-
tionist Guy Debord schon 1955 gefor-
dert hatte, die Gesellschaft und die
eigene Existenz durch „systematische

Provokation“ in ein „umfassendes mit-
reißendes Spiel“ umzuwandeln. In ei-
nem ähnlichen Sinn forderte White
eine nach dem Vorbild bestimmter auf
Kollaboration angelegter Computerspie-
le, die „das Leben neu imaginieren“,
eine „neue Art Aktivisten-Spiel“: „Stellt
euch Flashmobs von Störern vor, die
plötzlich auftauchen und ohne Führung
funktionieren, die die pure Manifestati-
on eines verstreuten vernetzten Kollek-
tivs sind.“ Es wirkt so, als seien diese
2011 im Magazin „Adbusters“ erschiene-
nen Sätze eine Beschreibung dessen,
was gerade in Hongkong und jetzt auch
in Barcelona passiert. Die Funktionen,
die die Gamifizierung da übernimmt,

verhalten sich zu denen der rechts-
radikalen Attentäter in vielem gegen-
sätzlich: Sie dient nicht der Stilisierung
eines einzelnen Helden, sondern der
blitzschnellen Organisation und Maskie-
rung von Massen – und vor allem nicht
der Tötung von Menschen, sondern der
Störung einer etablierten Ordnung.
Anarchisten, Separatisten, linke – aber
auch rechte – Revolutionäre könnten
sich solche Strategien zueigen machen.
Wir stehen erst am Anfang beim Begrei-
fen, wie die Politik als Computerspiel
gesellschaftliche Auseinandersetzungen


  • und den Wahnsinn, der diesen biswei-
    len entspringt – verändern könnte.
    MARK SIEMONS


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Foto Ullstein

Warum modelliert ein antisemitischer Attentäter seine Morde


nach dem Vorbild von Ego-Shootern? Die abgründige politische


Dimension der „Gamifizierung“, der Übertragung von


Computerspielen auf die Realität, ist noch nicht annähernd begriffen


WiesiehtdieZukunftaus?InSachen

KlimasinddiePrognoseninzwischen

sehrgenau.Undebensoerschreckend.

IndiesemBuchentwerfenLuisa

Neubauer,diebekanntestedeutsche

Klimaaktivistin,undderPolitökonom

AlexanderRepenningdieGeschichte

unsererZukunft.DenndieMenschheit

stehtamScheideweg.Wennwirjetzt

nichtdenKursändern,schaffenwiruns

selbstab.Politiker,Unternehmer,Bürger,

jedermussaktivwerden.Aberwie?

»WIR SIND DIE ERSTEN,DIE DIE


KLIMAKRISE ZU SPÜREN BEKOMMEN,


UND DIE LETZTEN,DIE NOCH ETWAS


ÄNDERN KÖNNEN.«


Luisa Neubauer/Alexander Repenning
Vom Ende der Klimakrise
Eine Geschichte unserer Zukunft
304 Seiten, Klappenbroschur
€ 18,– (D) /€ 18,50 (A)
ISBN 978-3-608-50455-2

©AnnetteHauschild/Ostkreuz

BIS
12.JAN.
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