Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

40 feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


D

em erst vorigen Monat aus rus-
sischer Haft entlassenen Regis-
seur Oleg Senzow ist jede
Selbstdarstellung sichtlich unange-
nehm. Die Fragen, die der Schriftstel-
ler Andrej Kurkow, ein russischsprachi-
ger Ukrainer wie er, über die fünf in
russischen Gefängnissen zugebrachten
Jahre an ihn richtet, beantwortet er
mit leiser, eindringlicher Stimme und
blickt aus tiefliegenden Augen wie aus
großer Ferne über die Zuschauerrei-
hen im Agora-Lesezelt. Das Gefäng-
nis sei kein interessanter Ort, sagte
Senzow, es gebe einem nichts, son-
dern nehme nur weg – aber er habe
sich seine Würde nicht wegnehmen
lassen. Zugleich betonte er, dass er
nicht physisch misshandelt worden sei,
doch der moralische Druck sei groß
gewesen, seine Aufseher und Mitgefan-
gene hätten ihn als Feind angesehen.
In der Zelle habe er Hunderte Bü-
cher gelesen, auch aus der Gefängnis-
bibliothek, bekannte Senzow; das tue
dort übrigens jeder, auch wer sonst nie
gelesen habe. Vor allem aber habe er
fünfzehn Skizzenbücher vollgeschrie-
ben. Dazu gehöre ein Folgeband sei-
ner frühen Romankomödie „Kaufen
Sie das Buch, es ist lustig!“, der in den
Vereinigten Staaten spiele, in denen er
nie gewesen sei. Umso leichter sei ihm
das Schreiben gefallen, sagte Senzow,
der anmerkte, viele glaubten, er habe
ein strenges Naturell, dabei sei er ei-
gentlich fröhlich. Daneben habe er
Kurzgeschichten verfasst, in denen
aber nicht er selbst, sondern nur seine
Mithäftlinge vorkämen. Diese Por-
träts zeigten, was das Gefängnis mit ei-
nem macht. Außerdem habe er wäh-
rend seines Hungerstreiks ein Tage-
buch geführt. Das habe ihm geholfen,
durchzuhalten, sei aber auch riskant
gewesen. Denn die Notizen enthielten
Passagen, in denen seine Aufseher
nicht gut wegkämen. Er sei ständig
per Videokamera überwacht, jeden
Tag durchsucht worden, und wenn je-
mand das Tagebuch bemerkt hätte, wä-
ren ihm wohl auch die anderen Auf-
zeichnungen abgenommen worden.
Doch seine „schlechte Handschrift“
habe ihn gerettet.
Übrigens habe die Gefängniserfah-
rung doch ein Gutes, man betrachte
das eigene Leben aus der Distanz.
Und merke, wie oft man sich mit
Überflüssigem beschäftige statt mit
Wichtigem wie der Familie. Das wer-
de er künftig anders machen, versi-
cherte Senzow. Vor allem aber werde
er sich für jene 87 Ukrainer einset-
zen, die weiterhin in russischen Haft-
anstalten schmachten, sowie für die
mindestens 127 ukrainischen Armee-
angehörigen, Aktivisten, aber auch
Frauen und Jugendlichen in den Ge-
fängnissen der besetzten „Volksrepu-
bliken“. Dort gehe es noch viel
schlimmer zu als in den russischen
Haftanstalten. KERSTIN HOLM

D


as war natürlich ein ganz be-
sonderer Moment, als am
Montagabend im Frankfurter
Römer der Sieger des Deut-
schen Buchpreises, Saša Stanišić, das
Wort ergriff. Wochenlang war über die-
sen Preis gestritten worden, weil die Jury
mit ihren vielen Nominierungen literari-
scher Debüts einfach nicht überzeugen
konnte; weil ein Jury-Mitglied noch vor
der Kür des Preisträgers mit Interna an
die Presse ging und, für sich, die Verkäuf-
lichkeit von Büchern zum Kriterium der
Preisvergabe erhob. Man hatte eigent-
lich schon überhaupt keine Lust mehr
auf diesen Buchpreis. Genauso wenig
wie auf den Nobelpreis. Und da trat nun
Saša Stanišićauf die Bühne und zeigte in
einer eindringlichen Rede, dass es um et-
was ging. In seiner Kritik am Nobelpreis
für Peter Handke, den er für preisunwür-
dig hielt, sprach er von Literatur und da-
von, was diese für ihn soll und kann. Pe-
ter Handke habe die Literatur instrumen-
talisiert durch die Art und Weise, wie er
über den Bosnien-Krieg gesprochen
habe, sagte Stanišić. Über jenen Krieg,
dem der damals Vierzehnjährige mit sei-
ner Mutter 1992 entkommen konnte, als
ihre Heimatstadt Višegrad von serbi-
schen Milizen besetzt wurde, die dort
dann Hunderte Zivilisten ermordeten.
Im Buchpreis-Publikum waren da alle
wieder wach. Und manche fingen an, dar-
über nachzudenken, wem sie da eben
noch gratuliert hatten. jia

* * *
Mit Handke und mit Stanišić begann
auch die Aufzeichnung des „Literarischen
Quartetts“, als sie dann endlich begann,
am Donnerstagabend, mit ordentlicher
Verspätung, als also das Blaue Sofa am
Stand des ZDF von der Bühne geräumt
worden war, als Thea Dorn ihren „Lieb-
lingssatz“ für die Tonprobe eingespro-
chen hatte („Der Papst isst Erbsensuppe“)
und auch die Zuschauer die Aufwärm-
übungen für die Live-Aufnahmen brav ab-
solviert hatten. Und es dauerte dann auch
nicht lang, bis Thea Dorn die Kritik an
Handke mit großem metaphysischem Pa-
thos zurückwies und ihn als Schriftsteller
verteidigte, der doch seit fünfzig Jahren so
tapfer gegen den Skandal anschreibe, dass
man als Mensch in eine kalte, distanzierte
Welt geworfen sei. Aus Stanišićmacht sie
einen Verfasser von „Zivilisationslitera-
tur“, der vor allem aus „politischem
Zorn“ schreibe, einen bornierten Anhän-
ger der empirischen Wahrheit gewisser-
maßen – als sei Stanišićnicht gerade auch
dafür ausgezeichnet worden, dass er, wie
die Jury fand, „ein so guter Erzähler“ sei,
„dass er sogar dem Erzählen misstraut“.
So weit konnte man das vielleicht noch als
Geschmacksurteil durchgehen lassen,
selbst wenn man es eher mit Sibylle Berg
hält, für die Handke einfach ein „schlecht
gealterter Popliterat“ ist. Infam wurde es
aber, als Dorn begann, Stanišićzu unter-
stellen, dass er in seiner Rede ein „angebli-
ches Handke-Zitat“ verwendet habe, das
seitdem „durch die Medien geistert“.
Zwei Tage lang hätte sie danach gesucht
und es nicht gefunden. Leider sagte sie
nicht dazu, um welches Zitat es ging, ver-
mutlich auch deshalb, weil Stanišićgar kei-
ne Zitate verwendet hatte, sondern Hand-
ke nur paraphrasierte. (Wahrscheinlich
meinte Dorn die Passage, in der Stanišić
erwähnt, wie Handke Milizen beschreibt,
„die barfuß nicht die Verbrechen began-
gen haben können, die sie begangen ha-
ben“). Man kann sicher darüber streiten,
ob man Handkes Lügen als Poesie be-
trachten kann. Die von Thea Dorn sind
reines Gift. stau

* * *
Und wie alle von der „Kronprinzessin“
bezaubert waren! Denn eigentlich, so hat

man den Eindruck, war gar nicht Norwe-
gen das Gastland dieser Buchmesse, son-
dern allein Mette-Marit als das Gesicht
Norwegens. Auf sie konzentrierte sich
die ganze Begeisterung. Wie „schön“ sie
sei, schrieben die Journalisten; wie „zau-
berhaft“, jene, die bereits mit Mette-Ma-
rit und Prinz Haakon und neunzehn nor-
wegischen Autorinnen und Autoren im
ICE zur Buchmesse fahren und in Wag-
gon 27 für ein paar Minuten ihrer hab-
haft werden, sogar das Wort an sie rich-
ten durften! „Die Frankfurter Buchmes-
se glänzt royal“, schrieben sie oder
schwärmten von der „Literaturkennerin“
Mette-Marit: „die Prinzessin und die Bü-
cher“, „Literatur Royal“. So hofften alle
sehnsüchtig, dass auf die wenig glänzen-
de Buchwelt ein wenig Sternenstaub her-
abfiele, damit sie selbst endlich auch mal
ein bisschen glitzern durften. jia

* * *
Was für die einen die Prinzessin war, war
für die anderen Dirk Nowitzki, der Welt-
star aus Würzburg, dessen Auftritt der Li-
teratur eine gewisse Größe verlieh. Die
meisten, das konnte man schon am Outfit
und am Körpermaß vieler Besucher able-
sen, waren natürlich seinetwegen gekom-
men, wegen „The Great Nowitzki“, als
Thomas Pletzinger am Donnerstagabend
im Schauspielhaus sein Buch über seine
Jahre mit dem Basketballprofi vorstellte.
Schon als Nowitzki die Bühne betrat, gab

es stehende Ovationen, und dass viele Zu-
schauer noch lange blieben, um sich nach
der Lesung ein Buch signieren zu lassen,
unter anderem auch Saša Stanišić, der an
diesem Abend endlich mal kein Handke-
Kritiker sein musste, sondern Pletzinger-
Freund und Nowitzki-Fan sein durfte: das
lag sicher auch eher am besseren der bei-
den Basketballspieler. Und doch merkten
alle im Saal, dass sie all den Zauber, die
Wärme, die Poesie dieses Abends dann
eben doch nicht Nowitzkis einzigartigem
Spiel zu verdanken hatten, sondern Plet-
zingers Talent, es so umwerfend genau zu
lesen und zu beschreiben. Schon als Hau-
ke Hückstädt, der Leiter des Frankfurter
Literaturhauses, Pletzingers Frau und
Tochter bat, kurz aufzustehen, wurden sie
mit rührendem Applaus begrüßt. Und als
dann Pletzinger aus seinem Buch vorlas,
wie er Nowitzki allmählich näher kam,
wie er seine journalistische Distanz verlor
und dabei große Wahrhaftigkeit fand, war
einem Nowitzki schon fast egal. Und des-
halb waren es, nach einem wunderbar gut
gelaunten und sympathischen Gespräch,
schon genau die richtigen Worte, die Mo-
derator Matthias Kalle fand, um den wah-
ren Star dieses Abends am Ende noch mal
zu einer letzten Lesung ans Pult zu bitten:
„Meine Damen und Herren: The Great
Pletzinger“. stau

* * *
Im Haus am Dom sprach am Donners-
tagabend Sahra Wagenknecht mit dem
Sozialpsychologen Christian Schneider
über die Biographie, die Schneider über
sie geschrieben hat. Und sie kam dabei
auch auf den Brief zu sprechen, den Wa-
genknecht als Schülerin an den Schrift-
steller Peter Hacks geschrieben hat:
„Mein Name ist Sahra Wagenknecht
und ich erlebe jetzt mein 17. Jahr. Zur
Zeit besuche ich die 12. Klasse, nach de-
ren Ende ich Kulturwissenschaft studie-
ren möchte. Ich interessiere mich für
die bildende Kunst, Philosophie, Mo-
zart, Beethoven und vieles mehr, – vor
allem aber für Literatur – für Klassik!

(Dies im weitesten Sinn des Wortes).“
Auf den Brief, der ursprünglich neun
Seiten lang war und dessen erste Seite
in der Biographie als Faksimile auch ab-
gedruckt ist, reagierte Hacks mit der
Zeile: „Mein Fräulein, bitte schreiben
Sie mir doch nicht mehr auf Persisch.
Es sieht sehr schön aus. Aber es ist auch
sehr schwer zu lesen.“ Wagenknechts
Vater, ein Iraner und erklärter Schah-
gegner, hatte sich in den sechziger Jah-
ren in Deutschland im studentischen
Milieu politisiert. Als Sahra Wagen-
knecht zweieinhalb Jahre war, ging er

wieder nach Iran zurück und ver-
schwand aus ihrem Leben. „Ich habe
später Persisch gelernt, mit elf und
zwölf“, erzählte sie im Haus am Dom.
Und sie habe dann diese Handschrift
entwickelt, sie habe auf Deutsch ge-
schrieben, aber dabei das persische
Schriftbild imitiert. „Ich habe immer so
geschrieben, mit Tusche und Feder, und
hatte großen Spaß daran, meine Lehrer
hat es allerdings oft zur Verzweiflung
gebracht.“ Als sie in der DDR in ihrer
Punk-Phase ein Jahr vor dem Abitur für
die Wandzeitung der Schule eine Hone-
cker-Rede besprechen sollte, erzählte
sie, habe das schwer leserliche Schrift-
bild ihr wohl aber auch Unannehmlich-
keiten erspart. Sie schrieb einen Verriss
der Rede in der Sprache Goethes mit
persischem Schriftbild. Und das konnte
auf Anhieb keiner so recht lesen. Bis ein

ihr gewogener Lehrer dafür sorgte, dass
das Pamphlet verschwand. jia
* * *
Empfang des Beck-Verlags, Freitagabend
im „Hessischen Hof “, der akademische
Höhepunkt der Messe, immer schon, und
so viele Inhaberinnen und Inhaber von
Lehrstühlen im Saal, dass man an den al-
ten Gag von Woody Allen denken muss,
auch wenn man mittlerweile ja nicht
mehr ganz so gern an dessen alte Witze
denkt, jedenfalls kommt er in einem Film
auf eine Akademikerparty, guckt sich um
und sagt: Noch ein Stuhl und es reicht für
eine Sitzgruppe. Der Abend gehört Jill Le-
pore, Lehrstuhlinhaberin für amerikani-
sche Geschichte in Harvard, Mitarbeite-
rin des „New Yorkers“ und Autorin einer
mitreißenden Geschichte der Vereinigten
Staaten, „Diese Wahrheiten“, jetzt auf
Deutsch erschienen, elfhundert Seiten
lang. Wie Jill Lepore denn zur Institution
des langen Buchs stehe, fragt ihr deut-
scher Verleger Jonathan Beck, während
sie sich doch selbst bislang eher kurz ge-
halten habe, und Lepore antwortet, nor-
malerweise würden ja eher Männer die
langen Bücher schreiben, Frauen wollten
nicht so viel Platz belegen, aber dieses
Mal habe sie sich entschieden: „Goddam-
nit – I will take up some space!“ Und weil
sie dieses „Goddamnit!“ so laut ins Mikro-
fon ruft, rollt dass Wort wie eine Welle
der guten Laune und Befreiung kurz über
den Saal, die ganzen Stühle lachen und
auch alle anderen, die hinten stehen. Le-
pores sehr langes Buch erzählt die Ge-
schichte der Vereinigten Staaten als per-
manentes Ringen darum, wer wo welchen
Platz in der Nation einnehmen darf und
warum er den einen immer wieder verwei-
gert wurde und die anderen ihn exklusiv
für sich beanspruchen. Lepore präsentiert
ihr Projekt an diesem Abend anhand der
Illustrationen aus dem Buch – eines, aus
der Ära der Sklaven-Emanzipation, zeigt
eine strickende schwarze Frau, deren aus-
laufender Wollfaden die Umrisse der Ver-
einigen Staaten ergibt. Wir gehören nicht
dazu: Wir sind, was uns gehört. tob

Wo es keine


Nichtleser gibt


Oleg Senzow erzählt über
dasSchreiben im Gefängnis

Sternenstaub und reines Gift


Auf der Frankfurter


Buchmesse stritten


die einen über


Handke, standen


andere für Nowitzki


auf oder träumten


von Mette-Marit


Oleg Senzow Foto Helmut Fricke

Die Schriftstellerinnen Jackie Thomae (links) und Helene Hegemann beim Buchmessenabend des F.A.S.-Feuilletons im neuen „Le Petit Royal Frankfurt“ Foto cls

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werden aber nicht nur die F.A.Z. lesen, sondern auch selbst journalistische Texte schreiben.Ausgewählte
Beiträge werden auf der Seite „Jugend schreibt“ in der F.A.Z. veröffentlicht. Lehrer, die mit einer Klasse oder
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Bundesland, Klasse (Kurs), Schülerzahl, unterrichtete Fächer und Zahl der Wochenstunden in dieser Klasse.

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