FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 rhein-main R3
Verkehr und Franzen
Der Bücherschrank an der Taunusanla-
ge im Frankfurter Bahnhofsviertel ist
ein Protz. Seine gläsernen Schiebetüren
erinnern an eine Vitrine. Wuchtig,
grau, massiv steht er vor dem English
Theater. Autos rauschen vorbei, Passan-
ten hetzen vorüber. Sie tragen Aktenta-
schen oder ziehen Rollkoffer hinter sich
her. Sie haben keinen Blick für den Bü-
cherschrank. Dessen Inhalt sieht so aus,
als bekomme er nicht viel Zuwendung.
Die fünf Bretter sind halbleer, in der un-
tersten und obersten Etage sind die Bü-
cher umgekippt und liegen übereinan-
der. In der Ebene in der Mitte steht heu-
te Jonathan Franzens „Freedom“ neben
„Global Challenge of Global Finance“.
In der Etage darüber finden sich Kraft-
fahrzeug-Ratgeber: „Begleitung rund
ums Auto“ und das „Auto Bordbuch“.
Eine Frau nähert sich dem Bücher-
schrank und schiebt vorsichtig die Tür
auf. Sie bückt sich und betrachtet die
Bücher in der untersten Reihe. Dann
schließt sie die Tür wieder, läuft einmal
um den Schrank herum und öffnet die
Tür auf der anderen Seite. Sie greift
nach „Und doch lacht mir die Sonne“,
der Biographie der Schriftstellerin Lot-
te Bormuth. Stellt es aber nach kurzer
Zeit wieder zurück. „Ich arbeite ganz in
der Nähe und komme jede Mittagspau-
se her“, sagt sie. Manchmal auch nach
der Arbeit, so wie heute. Doch viel Zeit
bleibt nicht, auch sie hat nur fünf Minu-
ten Zeit, dann eilt sie weiter zum Bahn-
hof, um ihren Zug zu bekommen.
Frauenromane, Sachbücher
Im Frankfurter Nordend stehen zwei Le-
sende am Bücherschrank an der Ecke
von Bornwiesenweg und Oeder Weg.
Praktisch, dass die Bücherschränke im-
mer von zwei Seiten geöffnet werden
können. Trotzdem wartet hier an man-
chen Tagen schon der nächste Büchersu-
chende und schaut dem bereits blättern-
den Vordermann über die Schulter. Heu-
te finden sich in dem leicht angerosteten
Schrank sogar Schallplatten. Die hat
eine Frau erst vor wenigen Minuten hin-
eingelegt. Klassiker wie „Anatevka“ und
„Welt der Oper“ sind darunter. Eigent-
lich habe sie die im Second-Hand-Laden
verkaufen wollen, erzählt die Frau. Statt-
dessen landen sie jetzt im Bücher-
schrank. Sie selbst schaue vor allem nach
Büchern. „Ich bin ein haptischer Mensch
und fasse gerne die Seiten an.“ Wenn sie
in einen Bücherschrank schaue, sei sie
auf der Suche nach Fach- und Sachlitera-
tur, zum Beispiel zum Thema Psycholo-
gie. Da sie in der Nähe wohne, komme
sie jeden Tag vorbei, auch vor dem Ur-
laub. „Hier stehen häufig veraltete
Kunst- und Kulturreiseführer“, sagt sie.
Die Restauranttipps seien dann nicht
mehr aktuell, aber das sei ja egal. Auf der
anderen Seite durchforstet ein Mann im
Tweed-Sakko den Bücherschrank. Doch
er blickt skeptisch drein. „Zu viele Frau-
enromane“, sagt er. Wie er beobachtet
hat, stehen genau diese Bücher Wochen
und Monate im Schrank. Doch er weiß
auch: „Das ist der Schrank mit den meis-
ten Sachbüchern.“
„Sonntags ist der beste Tag“
Bücherschränke verändern sich mit der
Zeit. Das sagt ein älterer Mann, der den
Bücherschrank am Malvenweg im Stadt-
teil Frankfurter Berg nach eigenen Anga-
ben schon seit Jahren beobachtet. Frü-
her habe man regelmäßig Autoren wie
Henning Mankell oder Charlotte Link
entdeckt, die heute nur noch selten zu
finden seien. An Weihnachten hätten
Weihnachtsliteratur und Gesangbücher
im Schrank gestanden, auch mehr Schall-
platten als heute. „Aber das macht
nichts, vielleicht kommt das wieder.“
Wie häufig sich das Literaturangebot im
Schrank ändere, hänge davon ab, wie vie-
le Menschen in der Umgebung umzö-
gen. Dann nämlich würden häufig neue
Bücher vorbeigebracht. „Sonntags ist
der beste Tag, da wird am meisten ausge-
tauscht.“ Im Malvenweg gibt es in der
untersten Etage ein Bücherfach für Kin-
der. Die Titel sind sehr unterschiedlich:
Vom Lexikon deutschsprachiger Schrift-
steller und Knaurs großem Schauspiel-
führer über „Biss zum Abendrot“ von
Stephanie Meyer bis zu Bridget Jones
„Helen Fielding“. Der ältere Mann hat
heute nichts gefunden. „Vielleicht mor-
gen wieder.“
Über Kochen und Nahost
Verlassen wirkt der Bücherschrank an
der Kennedyallee in Sachsenhausen. Im
Schrank riecht es nach alten Büchern,
als ob er nicht häufig geöffnet würde.
Ein Nachbar erzählt, hier kämen nicht
viele Menschen zufällig vorbei. Viel-
leicht wäre es besser, wenn der Schrank
an der nächsten Bahnhaltestelle, am
Otto-Hahn-Platz, stünde. Doch wer in
Ruhe stöbern will, der ist hier richtig.
In der untersten Etage sind literarische
Küchenhelfer aufgereiht: „Das große
Garten- und Kochbuch“ oder „Das ita-
lienische Kochbuch“. Neben Eltern-
Ratgebern finden sich Klassiker wie
Daphne du Mauriers „Rebecca“ oder
Werke von Thomas Mann. Ganz an-
ders wirkt der Bücherschrank am
Schweitzer Platz, der etwa dreihundert
Meter entfernt ist. Ein Radfahrer nach
dem anderen hält auf dem Nachhause-
weg kurz an. Eine junge Frau freut sich
heute besonders über ihren Fund. Sie
hält „Das Alphabet des Juda Liva“ von
Benjamin Stein in der Hand. Im Hebräi-
schen habe jeder Buchstabe eine andere
Bedeutung. „Ich lerne gerade Hebrä-
isch, das ist unglaublich spannend“, sagt
die Frau. „Ich habe hier schon so viele
Bücher über Politik in Israel gefunden,
auf die ich niemals gekommen wäre,
wenn ich nachts auf Amazon danach ge-
sucht hätte.“
Die Geschichte der Schränke
Erstmals in den neunziger Jahren sind in
Deutschland Bücherschränke aufgestellt
worden. Unter den ersten Kommunen,
in denen das geschah, war zum Beispiel
Darmstadt. In Frankfurt gibt es heute
etwa 70 öffentliche Bücherschränke, da-
von allein sechs im Stadtteil Sachsenhau-
sen. In ganz Hessen stehen mehr als 160
Bücherschränke, von Kassel bis Michel-
stadt, von Wiesbaden bis Hanau. Meis-
tens sind es zu diesem Zweck aufgestellte
Vitrinen, oft werden aber auch ehemali-
ge Telefonhäuschen zu Bücher-Tausch-
börsen umfunktioniert oder Anhängerwa-
gen mit Literatur beladen. Der erste
Frankfurter Bücherschrank wurde im No-
vember 2009 am Merianplatz im Nord-
end eröffnet. Unterhalten werden sie
vom städtischen Amt für Straßenbau und
Erschließung; in Sachsenhausen ernennt
der für den Stadtteil zuständige Ortsbei-
rat Paten, die sich um die Bücherschrän-
ke kümmern. Die Standorte aller offe-
nen Bücherschränke sind auf der Inter-
netseite der Stadt Frankfurt (www.frank-
furt.de) zu finden.
Bibliotheken, vom
Zufall bestückt
Alle Autoren der Sonntagsgeschichten verzichten auf ein Honorar. Der Eintritt geht komplett als Spende an „F.A.Z.-Leser helfen“.
Karten können bestellt werden unterfaz.net/veranstaltungen. Fragen beantwortet Frau Mayer-Simon telefonisch unter (069) 75 91-12 51
Zugunsten des Frankfurter Mädchenbüros Milena e.V.
undder von der Christoffel-Blindenmission Bensheim (CBM)
unterstützten Kikuyu-Augenklinik in Kenia.
Sonntagsgeschichten
für Kinder
Lena Hach liest aus dem
ersten Band des „Verrückten
Erfinderschuppens“:
Der Limonaden-Sprudler
Am Sonntag, dem 20. Oktober 2019
Um 16.00 Uhr, Einlass ab 15.30 Uhr
Im Redaktionsgebäude der
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Hellerhofstraße 9, 60327 Frankfurt
Eintritt: 5 Euro
Wer liest was wo? Was sagt das über Stadtteile aus?Stefanie Sippel
hat in öffentlichen Bücherschränken in Frankfurt gestöbert.
Jugend blättert: Sachsenhausen,
Bücherschrank vor der Lukaskirche
Es muss nicht alles ganz neu sein: im
Nordend, am Oeder Weg
Keine Krimis, viele Kinderbücher:
am Frankfurter Berg
Gekauft, gelesen und
für andere bereitge-
stellt: das System der
öffentlichen Bücher-
schränke. Dieser steht
an der Gallusanlage.
Fotos Francois Klein