langfristigen Zinsen weiter sinken, kommen sie mit
den kurzfristigen Zinsen schneller an die Nullgren-
ze. Daher kommen sie nicht umhin zu schauen,
was die Mechanismen sind, um den langfristigen
Zinssatz nach oben zu treiben.
Welche sind das?
Es gibt weltweit einen großen Sparüberhang. Dieser
hängt zum Beispiel damit zusammen, dass die
Schwellenländer in den vergangenen Jahren viel we-
niger Kapital bekommen haben, als sie brauchten.
In der Vergangenheit ist viel Kapital vom Norden in
den Süden geflossen. Das funktioniert jetzt nicht
mehr so wie in der Vergangenheit. Wir sollten zum
Beispiel darüber nachdenken, wie wir Afrika unter-
stützen können, unser Überschusskapital zu ver-
wenden und gleichzeitig dort Wohlstand aufzubau-
en und den Migrationsdruck zu verringern.
Aber lässt sich das Problem des Sparüber-
hangs nur dadurch lösen, dass man mehr Ka-
pital exportiert?
Eine andere Möglichkeit ist, dass man mehr in die
künftige Produktivität investiert, zum Beispiel
durch Investitionen in Infrastruktur. Ich kann Ih-
nen keine ausgearbeitete modelltheoretische Alter-
native zur Verfügung stellen. Aber ich kann Ihnen
eine Reihe von Dingen sagen, warum die aktuelle
Politik nicht gut ist.
Sehen Sie die Negativzinsen kritischer als die
Anleihekäufe? Ihr deutscher Amtskollege Jens
Weidmann hatte mit den Negativzinsen weni-
ger Probleme.
Ich sehe sowohl die Negativzinsen als auch die An-
leihekäufe sehr kritisch. Durch das Anleihepro-
gramm wird es für Staaten noch leichter, sich zu
verschulden. Zwangsläufig kommt es zu gefährli-
chen Verzerrungen. Zu welchen Problemen die In-
tervention der Notenbank am Anleihemarkt führen
kann, zeigt sich aktuell in den USA. Dort musste
die Federal Reserve stark eingreifen und dem
Markt viel Liquidität zur Verfügung stellen, weil der
frühere Interbankenmarkt ausgetrocknet war.
Die Anleihekäufe und die Negativzinsen sollen
die Inflation im Euro-Raum wieder in Rich-
tung der Zielmarke der EZB von unter, aber
nahe zwei Prozent bringen. Sie haben sich für
ein niedrigeres Inflationsziel von 1,5 Prozent
ausgesprochen. Sehen Sie Chancen, dass sich
unter der neuen EZB-Präsidentin Christine La-
garde etwas am Inflationsziel ändert?
Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die Revi-
sion des Inflationsziels wird stattfinden. Im aktuel-
len wirtschaftlichen Umfeld macht es wenig Sinn,
mit großem geldpolitischem Aufwand auf eine In-
flation von knapp unter zwei Prozent zu kommen.
Diesen Ansatz der EZB halte ich für eine schlechte
Politik.
Ihr Vorvorgänger im Amt, Klaus Liebscher, und
andere frühere Notenbanker wie Otmar Issing ha-
ben jüngst in einem Memorandum die Geldpolitik
der EZB kritisiert. Teilen Sie die Position?
Ich halte es für sehr wichtig und richtig, dass so er-
fahrene Experten ihre Vorschläge öffentlich auf
den Tisch legen. Ich habe das auch positiv öffent-
lich kommentiert. Der Seitenruf war nicht als Zwi-
schenruf von Kermit in der Muppet-Show gedacht,
sondern als sehr ernsthafte Unterstützung. Das war
eine wichtige Botschaft.
Sie waren bisher externer Beobachter: Wie
fällt denn Ihre Bilanz der Amtszeit von Mario
Draghi aus?
Herr Draghi ist zu bewundern für seine Worte
„Whatever it takes“, also die Aussage, alles inner-
halb des Mandats Mögliche zu tun, um den Euro
zusammenzuhalten. Zentralbanken müssen Liqui-
dität bei einem Bankrun zur Verfügung stellen,
aber auch bei einem Run am Anleihemarkt. Mit
dieser Aussage hat er dafür gesorgt, dass die EZB
von einer halben zu einer ganzen Zentralbank ge-
worden ist. Ohne diese Handlung hätte es für den
Euro nicht gut ausgesehen. Die Frage danach war
aber, ob es dieser intensiven Senkungen des Zinses
bedurft hat. Aus meiner Sicht jedenfalls nicht.
Kritiker sagen, die EZB sei unter Draghi zen-
tralistischer geworden. Er würde die nationa-
len Notenbankchefs nicht genug einbeziehen.
Wie sehen Sie das?
Die Macht der EZB beruht in hohem Maße auf der
Fähigkeit, mit ihren vielen Mitarbeitern in Frank-
furt viele Papiere zu produzieren. Selbst für mittel-
große Notenbanken wie die Oesterreichische Natio-
nalbank ist es unmöglich, alle Kommissionen der
EZB personell zu bestücken. Kleinere Notenbank
haben überhaupt keine Chance mehr.
Ist denn das bei der US-Notenbank Federal Re-
serve (Fed) anders?
In den USA gibt es zwölf regionale Distrikt-Noten-
banken, die sich die intellektuelle Freiheit erhalten
haben, die Fed in Washington zu kritisieren. Auch
die regionalen Notenbanken wie beispielsweise in
St. Louis reden dort in der Geld- und Fiskalpolitik
mit. Damit wird ein Gegengewicht zur Fed geschaf-
fen, und es gibt einen intellektuellen Wettbewerb.
In der Euro-Zone gibt es das so nicht. Die EZB zele-
briert ihr Paradigma. Die Möglichkeit gegen dieses
Paradigma aufzutreten geht gegen null. Keiner im
EZB-Rat, nicht einmal die Bundesbank, hat die Res-
sourcen, ein Gegengewicht zu diesem Paradigma
einzunehmen.
EZB-Chef Mario Draghi ist oft mit geldpoliti-
schen Reden vorgeprescht und hat damit Er-
wartungen an den Märkten geweckt. Kritiker
sagen, er hätte damit den Rat unter Druck ge-
setzt und vor vollendete Tatsachen gestellt.
Wie sehen Sie das?
Ich erwarte, dass Lagarde einen Prozess in der EZB
startet, der die nationalen Notenbanken stark ein-
binden wird.
Der EZB-Rat wirkt nach außen zerstritten. Wird
es für Draghis Nachfolgerin Christine Lagarde
nicht schwer, das Gremium wieder zu einen?
Ich erkenne keine Zerstrittenheit im EZB-Rat. Jeder
von uns will das Beste für Europa. Keiner hat die
Wahrheit für sich gepachtet. Mein Diskussionsbei-
trag soll nicht für Streit sorgen. Ich will zum ratio-
nalen Nachdenken anregen.
Ihr Vorgänger Ewald Nowotny hat auf eine enge
Partnerschaft mit der Bundesbank und seine
Freundschaft mit Jens Weidmann gesetzt. Werden
Sie das fortsetzen?
Bevor ich den Job übernommen habe, bin ich pri-
vat nach Frankfurt geflogen, um mit Jens Weid-
mann zu sprechen. Das war mir persönlich wich-
tig. Ich rede aber auch mit anderen Kollegen in
Spanien und Italien. Bedingt durch das eigene
Land sehen wir Dinge bisweilen anders. Doch es ist
eine gute Stimmung da, um die Währungspolitik
unter Lagarde in eine neue Richtung zu treiben.
Sie wurden als Gouverneur der Oesterrei-
chischen Nationalbank von der rechtspopulis-
tischen FPÖ durchgesetzt. Ist das ein Nachteil
für ein EZB-Ratsmitglied?
Es ist sicher kein Vorteil, von einer Partei unter-
stützt worden zu sein, die sich derzeit in einer
schweren Krise befindet. Ich wurde zwar von der
FPÖ vorgeschlagen, doch von der Regierung unter
Kanzler Sebastian Kurz nominiert und von Bundes-
präsident Alexander Van der Bellen – übrigens
mein früherer Professor an der Universität – er-
nannt. Jeder, der mich kennt, weiß: Ich war und
bin Wirtschaftsliberaler. Daran wird sich auch in
Zukunft nichts ändern.
Herr Holzmann, vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellten Jan Mallien und Hans-Peter
Siebenhaar.
EZB-Zentrale in Frankfurt:
Mitte September hat die Noten-
bank eine weitere Lockerung ihrer
Geldpolitik beschlossen.
Paul Langrock/Zenit/laif
Robert Holzmann:
„Die Macht der EZB
beruht in hohem Ma-
ße auf der Fähigkeit,
mit ihren vielen Mitar-
beitern in Frankfurt
viele Papiere zu pro-
duzieren.“
Bloomberg
Die Person Der
70-jährige promo-
vierte Volkswirt arbei-
tete für die OECD,
den IWF und die
Weltbank. Er hat sich
vor allem einen Ruf
als Rentenexperte
erworben. Außerdem
war Holzmann von
1992 bis 1997 Leiter
des Europa-Instituts
an der Universität
Saarbrücken. Auf Vor-
schlag der rechtspo-
pulistischen FPÖ
rückte er im Septem-
ber an die Spitze der
österreichischen
Notenbank.
Die Institution Der
Führungswechsel bei
der Oesterreichischen
Nationalbank sorgte
zuletzt für Aufsehen.
Mit umstrittenen Per-
sonalentscheidungen
wie der Kündigung
der Personalchefin
brachte Holzmann die
Belegschaft gegen
sich auf. Der neue
Notenbankchef hat
sich für sein Vorgehen
bereits entschuldigt.
Nun sollen unabhän-
gige Experten die
Entscheidungen
untersuchen.
Vita
Robert Holzmann
Finanzen & Börsen
DONNERSTAG, 17. OKTOBER 2019, NR. 200
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