- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 44 WIRTSCHAFT 23
DIE ZEIT: Herr Lutz, es ist Montag. Hatten Sie
heute früh schon Ihren Adrenalin-Kick?
Richard Lutz: Nur beim Kaffeetrinken.
ZEIT: Wie das? Morgens bekommen Sie doch
eine SMS mit der aktuellen Unpünktlichkeit der
Bahn.
Lutz: Am Wochenende waren wir gar nicht so
schlecht. Wir kämpfen jeden Tag um jede Minu-
te. In den ersten neun Monaten waren wir
pünktlicher als im Vorjahr.
ZEIT: Das ist relativ. Sind Sie nach drei Jahren
an der Bahn-Spitze etwa schon abgestumpft?
Lutz: Nein, ich leide wie alle Mitarbeiter, wenn
Züge unpünktlich sind. Aber wenn ich von Ber-
lin nach Frankfurt fahre und zehn Minuten Ver-
spätung habe, geht für mich die Welt nicht unter.
ZEIT: Verkehrsminister Andreas Scheuer reicht
es. Er forderte gerade per Brandbrief ein schlüs-
siges Strategiekonzept der Bahn bis Mitte No-
vember. Was antworten Sie?
Lutz: Wenn wir auf die Fakten schauen – und
die Pünktlichkeit ist nur ein Thema von vie-
len –, ist die Bahn besser geworden gegenüber
dem Vorjahr. Nur ein Beispiel: Wir haben bis
Ende September fast 20.000 neue Mitarbeiter
eingestellt und damit fast schon unser Jahres-
ziel erreicht.
ZEIT: So wie Sie reden, waren Sie völlig von den
Socken, als der Brief kam.
Lutz: Der Inhalt war mir nicht neu. Ich war erst
vergangene Woche zum Jour fixe bei Herrn
Scheuer. Es gibt keinen Dissens zwischen Bund,
Verkehrsministerium und uns.
ZEIT: Der Minister schreibt, es dürfe kein »Wei-
ter so« geben. Lässt Sie sein Ultimatum kalt?
Lutz: Ein »Weiter so« gibt es schon lange nicht
mehr. Wir investieren massiv in die Schiene, da-
mit sie leisten kann, was sie für Kunden und
Klima leisten soll.
ZEIT: Brauchen Sie dafür ein Ultimatum?
Lutz: Gras wächst nicht schneller, wenn man
daran zieht. Jeder weiß: Die Bahn wird nicht von
heute auf morgen rundum besser, dafür braucht
es Jahre. Entscheidend ist, dass wir Schritt für
Schritt besser werden. Und die Fakten zeigen,
dass wir Fortschritte machen.
ZEIT: Sind Sie Weihnachten noch Bahn-Chef?
Lutz: Ich verschwende meine Zeit nicht mit
solchen Gedanken. Mir hat dieser Job noch nie
so viel Spaß gemacht wie heute. Ich habe gerade
mein 25-jähriges Bahn-Jubiläum gefeiert, und
ich erlebe Historisches: Die Politik hat die
Eisenbahn nach vielen Jahrzehnten wiederent-
deckt. Als Schlüssel für Klimapolitik und Mo-
bilitätswende.
ZEIT: Haben Sie sich schon bei Greta bedankt?
Lutz: Schon vor Greta haben wir auf Ökostrom
gesetzt. Grün gehört zur DNA der Bahn.
ZEIT: Aber »Fridays for Future« hat die Politik
wachgerüttelt.
Lutz: Wir sind dankbar, dass der Klimaschutz in
den Mittelpunkt der politischen Diskussion
rückt. Ohne Verkehrswende keine Klimawende.
Die Beschlüsse des Klimakabinetts sind ein star-
kes Signal für eine starke Schiene!
ZEIT: Bisher konnte sich noch jeder Bahn-Chef
damit herausreden, dass der Bund zu wenig Geld
gibt. Nun bekommen Sie 20 Milliarden Euro
zusätzlich für Schienen- und Brückensanierun-
gen in den nächsten Jahren. Was bedeutet das?
Lutz: Ich habe immer gesagt: Eine bessere Bahn
gibt es nicht zum Nulltarif. Wir können jetzt
endlich anfangen, die Verkehrsverlagerung auf
die Schiene zu organisieren. Die Infrastruktur ist
dabei der Schlüssel für Wachstum, Betriebsqua-
lität und Pünktlichkeit. Dafür müssen wir uns
natürlich mehr anstrengen. Und für die Umset-
zung brauchen wir nicht nur neue digitale Tech-
nik, sondern auch mehr Mitarbeiter, beispiels-
weise Ingenieure.
ZEIT: Sie sagten kürzlich: »Wir stellen jeden ein,
der bei drei nicht auf den Bäumen ist.« Ist die
Lage wirklich so schlimm?
Lutz: Journalisten mögen doch lockere Sprüche.
Aber zur Sache. Die Klimadebatte bringt uns
einen enormen Attraktivitätsschub. Die junge
Generation, die Jobs sucht, kommt gerne zu uns,
weil sie in der Bahn Sinn und Nachhaltigkeit
sieht. Sie würden sich wundern, wie viel gute
junge Leute aus der Automobilbranche gerade
zu uns wechseln. Die wollen mitmachen bei
dem Generationen-Projekt, täglich so viele
Menschen und Güter wie möglich klimafreund-
lich an ihr Ziel zu bringen. Deshalb schaffen wir
übrigens in den nächsten drei bis vier Jahren 200
neue ICE- und Intercity-Züge an.
ZEIT: Bei den neuesten ICE von Siemens hat
sich die Auslieferung um Jahre verzögert. Wa-
rum soll es jetzt besser klappen?
Lutz: Derzeit erhalten wir alle drei Wochen ein
neues Flaggschiff für den Fernverkehr, den
ICE4. Zugegeben, es gab im ersten Halbjahr
einen kleinen Hänger beim Hersteller. Das ist
vorbei. Wir sind wieder auf Plan. Und jeder
neue ICE, den wir in Betrieb nehmen, macht
unser Angebot attraktiver und verlässlicher.
ZEIT: Die vielen Züge werden Sie dringend
brauchen für eine gewaltige Neuerung, den ge-
planten »Deutschlandtakt«, mit dem die deut-
schen Großstädte in hoher Frequenz verbunden
werden sollen. Wie weit sind die Planungen?
Lutz: Bis 2030 sollen fast 30 Großstädte im
Halbstundentakt verbunden werden. Städte ab
100.000 Einwohner bekommen im Ein- oder
Zweistundentakt Anschluss an den Fernver-
kehr. Mit dem Deutschlandtakt kehrt die Bahn
in die Fläche zurück. Zum Fahrplanwechsel im
Dezember werden wir beispielsweise die IC-
Verbindung Dresden–Berlin–Rostock wieder-
beleben. 2021 bekommt die Strecke Berlin–
Hamburg einen Halbstundentakt. Wir brau-
chen den engeren Takt und mehr Züge, um
unser Ziel zu erreichen: die Zahl der Fahrgäste
im Fernverkehr zu verdoppeln.
ZEIT: Sie sprechen von immer neuen Rekord-
zahlen im Fernverkehr.
Lutz: Stimmt, dieses Jahr peilen wir über 150
Millionen Fahrgäste an.
ZEIT: Wahr ist aber auch: Vor 20 Jahren, vor
dem Abschaffen der Interregio-Züge, waren die
Zahlen schon einmal höher.
Lutz: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen. Ich
schaue lieber nach vorne. Wir kehren zurück in
die Fläche, weil wir das Potenzial sehen. Das
folgt nicht nur einer politischen Vorgabe, nein,
es ist auch unternehmerisch sinnvoll. Übrigens:
Wir haben die Angebotsoffensive im Fernver-
kehr schon 2015 beschlossen.
ZEIT: In manchen Gegenden speist das Gefühl,
abgehängt zu sein, Wut und Populismus. Hat die
Bahn da auch eine politische Aufgabe?
Lutz: Verkehrspolitik ist immer auch
Gesellschaftspolitik. Ich sehe das als
unseren Beitrag dafür, dass unser Land
zusammenbleibt. Aber ich lege auch
Wert darauf, dass es zugleich unterneh-
merisch sinnvoll ist. Die Interregios
wurden um die Jahrtausendwende nicht
abgeschafft, um Leute zu ärgern, son-
dern weil die Nachfrage zu gering war.
Das kann man denen, die das entschieden ha-
ben, nicht vorwerfen. Heute ist die Situation
völlig anders. Die Nachfrage wächst.
ZEIT: Seit der Privatisierung wurden über 6000
Kilometer Gleis zurückgebaut. Vor allem auf
dem Land. War das nicht ein schwerer Fehler?
Lutz: Das war leider der Zeitgeist. Damals haben
Politiker in Bund und Ländern Milliardenein-
sparungen verlangt. Deutschland war der kranke
Mann in Europa, überall musste gespart werden.
In Berlin sagte der damalige Regierende Bürger-
meister, die Stadt sei »arm, aber sexy«, und es
werde »gespart, bis es quietscht«. Da gab es nie-
manden in der Politik, der sagte: Wir haben Spiel-
räume im Haushalt, um die Bahn größer und die
Nahverkehrssysteme fit für die Zukunft zu ma-
chen. Das hat sich völlig gedreht. Überall werden
Programme aufgelegt. Rund um Frankfurt heißt
das »Rhein-Main-Plus«, in Berlin und Branden-
burg »i2030«, in München soll eine zweite
Stammstrecke für die S-Bahn her. In einer ständig
wachsenden Stadt wie Berlin platzt das Nahver-
kehrssystem aus allen Nähten. Kann man das der
heutigen Politik vorwerfen? Ich glaube nicht.
ZEIT: Angeblich soll die Bahn zwischen 2012
und 2018 zwei Milliarden Euro für Berater aus-
gegeben haben.
Lutz: Die Zahl ist erheblich zu hoch.
ZEIT: Dass der eine oder andere Ex-Bahn-
Manager, der dann als Berater tätig war, zu viel
bekommen hat, würden Sie ebenfalls bestreiten?
Lutz: Das arbeitet der Aufsichtsrat gerade mit-
hilfe unabhängiger Ermittler umfassend auf.
Von mir nur so viel: Wir werden die Berater-
kosten in Deutschland auf maximal 100 Millio-
nen Euro jährlich begrenzen. Für ein Unterneh-
men unserer Größe liegt das im Rahmen.
ZEIT: Ein anderes Thema, das die Bahn ständig
in die Schlagzeilen bringt, sind eben die Zugver-
spätungen. Die häufen sich dort, wo Gleise oder
Oberleitungen saniert werden. Mehr Geld für
die Bahn bedeutet dann wohl erst mal mehr
Zugverspätungen, oder?
Lutz: Nein, wir haben gelernt, wie man möglichst
intelligent Baustellen in den laufenden Zug-
betrieb integriert. Wir haben heute 30 Prozent
mehr Bauvolumen als 2015, zugleich sind die
Störungen dadurch um 40 Prozent gesunken.
ZEIT: Ein Dauerärgernis ist die umgekehrte Wa-
genreihung. Warum geht das nicht besser?
Lutz: Ja, es kommt manchmal vor, dass die Zeit
fehlt, Züge in die richtige Richtung zu bringen.
Früher passierte es, dass dies zum Ärger der Kun-
den nicht vorher angezeigt wurde. Heute steht es
zu 99 Prozent korrekt an der Anzeige.
ZEIT: Um es den Kunden nicht zu einfach zu
machen, werden dann im Zug die Sitzplatzreser-
vierungen nicht angezeigt.
Lutz: Ich könnte Ihnen jetzt eine halbe Stunde
Ursachenanalyse herunterbeten ...
ZEIT: Bitte nicht. Lieber Lösungen.
Lutz: Wenn wir einen Zug tauschen, kann
manchmal die Information nicht auf den Ersatz-
Richard Lutz, 55, ist
seit 2017 Vorstands-
chef der Deutschen
Bahn. Er arbeitete im
Konzerncontrolling
und wurde 2010
Finanzvorstand
Foto: Felix Brüggemann für DIE ZEIT
»Wi r kämpfen jeden Tag um jede Minute«
Warum die Züge der Deutschen Bahn trotzdem oft zu spät ankommen und wie der Brandbrief
des Verkehrsministers auf ihn wirkt, erklärt Bahn-Chef Richard Lutz im Interview
»Jeder weiß, die Bahn wird nicht
von heute auf morgen rundum
besser, dafür braucht es Jahre«
»Es kommt manchmal vor,
dass die Zeit fehlt, Züge in die
richtige Richtung zu bringen«
zug aufgespielt werden. Das sind dann ältere
Züge ohne Verbindung zum aktuellen IT-Sys-
tem. Das ist ärgerlich. Wir arbeiten gerade mit
einem Sonderprogramm daran.
ZEIT: Wenn wir uns das Geld für die entgange-
ne Reservierung zurückholen möchten – ab
wann geht das online?
Lutz: Spätestens 2021 wird es möglich sein, Fahr-
gastrechte auch online bei uns geltend zu machen.
Wir bereiten unser IT-System darauf vor.
ZEIT: Ein Thema, das Ihnen regelmäßig Kritik
einbringt, sind die Auslandsaktivitäten der Bahn.
Sie besitzen Autohäuser in Slowenien, Sprach-
schulen in Dänemark, Krankenwagen in Groß-
britannien. Was wollen Sie damit?
Lutz: Sie sprechen von unserer britischen
Tochter DB Arriva. Diese werden wir
ohnehin aus strategischen Gründen ver-
kaufen. Noch in diesem Jahr soll eine
Entscheidung fallen. Unsere Aktivitäten
im Ausland werden wir im Übrigen künf-
tig noch mehr danach bewerten, welchen
Beitrag sie für eine möglichst starke
Schiene in Deutschland leisten.
ZEIT: Es heißt, Sie und die früheren Bahn-Chefs
würden sich einmal im Jahr treffen.
Lutz: Das stimmt. Jedes Jahr im Herbst treffe ich
mich mit meinen Vorgängern. Es wird Sie nicht
wundern, dass wir uns auch über die Bahn aus-
tauschen.
ZEIT: Ein Bahn-Chef sagte mal: »Bis zum Fahr-
planwechsel sollen die Verspätungen insgesamt
halbiert werden.« Wissen Sie, wer?
Lutz: Nein, keine Ahnung. In der aktuellen
Situation käme mir das nicht in den Sinn.
ZEIT: Es war der damalige Bahn-Chef und Ex-
Kanzlerberater Johannes Ludewig 1997. Er
scheiterte daran wie seine Nachfolger. Warum?
Lutz: Das ist über 20 Jahre her. Seither haben
wir deutlich mehr Verkehr auf der Schiene.
Aber das Netz ist nicht mitgewachsen, sondern
geschrumpft. Heute ist das System an vielen
Stellen an seiner Belastungsgrenze, weil immer
mehr Verkehr auf eine immer knappere Infra-
struktur trifft. Diese »Wachstumsschmerzen«
führen zu Unpünktlichkeit und Staus. Wie
auf der Straße. Und deshalb ist der Schlüssel
für pünktliche Züge eine gut ausgebaute
Infrastruktur. Auf der neuen Strecke von
München nach Berlin erleben wir gerade den
positiven Effekt: Da sind mehr als acht von
zehn Zügen pünktlich.
ZEIT: Besonders umstritten war der Kurs eines
anderen Vorgängers. Hartmut Mehdorn wollte
die Bahn profitabel für die Börse machen und
soll sie dafür kaputtgespart haben. Finden Sie
die Kritik fair?
Lutz: In einem marktwirtschaftlichen System
sollten wir Profitabilität und Gewinne nicht
stigmatisieren. Denn niemand kann auf Dauer
mehr Geld ausgeben als einnehmen. Die dama-
lige Regierung hat den Weg für einen Börsen-
gang freigemacht. Hartmut Mehdorn hat die
Bahn konsequent darauf ausgerichtet. Den pau-
schalen Vorwurf des Kaputtsparens mache ich
mir nicht zu eigen. Klar ist, heute geht es längst
nicht mehr um den Börsengang. Erstmals sagt
die Politik, was sie will: eine Bahn, die ihren
gesellschaftlichen Beitrag leistet für die Mobilität
der Menschen, das Wachstum der Wirtschaft
und nicht zuletzt für das drängendste Problem
unserer Zeit, das Klima.
Die Fragen stellten Stefan Schirmer und
Cla a s Tatje