Die Zeit - 24.10.2019

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Arbeiten Wessis anders als Ossis?


Als die Mauer fiel, bekamen viele Ostdeutsche plötzlich einen Vorgesetzten aus Westdeutschland.


Zwei Chefs und zwei ihrer Angestellten von damals sprechen über Machotum, Gehorsam und Bockwurst morgens um zehn


Am Abendbrottisch mit West-Chefs und Ost-Angestellten


Eine Gaststätte im gutbürgerlichen Leipziger
Viertel Gohlis: Um einen schweren Holztisch
haben sich drei Männer und eine Frau versam-
melt. Zwei von ihnen waren einst die Chefs der
anderen beiden: Günther Rai thel kam nach
dem Mauerfall aus Bayern und kaufte die kon-
kursgegangene Porzellanfabrik Kahla in Thü-
ringen. Neben ihm sitzt seine frühere Angestell-
te Barbara Schmidt – damals junge Designerin
aus Halle, heute Professorin in Berlin. Hartwig
Hochstein kam 1991 aus Hannover und wurde
Chefredakteur der »Leipziger Volkszeitung«.
Einer seiner damaligen Redakteure sitzt ihm
heute gegenüber: André Böhmer, gebürtiger
Sachse – und inzwischen selbst Vizechef.

DIE ZEIT: Sie alle hatten nach der Wende klar
verteilte Rollen, wie sie typisch waren für Ost-
und Westdeutsche dieser Zeit: Die Wessis
wurden die Chefs, die Ossis blieben die Unter-
gebenen. Wie war das, in dieser Kons tel la tion
zu arbeiten?

André Böhmer: Ich war ein junger Reporter,
damals noch bei einer Boulevardzeitung, und
ich erinnere mich genau: Mit dem westdeut-
schen Chef wurde es plötzlich rabiater. Es
herrschte eine neue Lautstärke, eine andere
Kommandostruktur. Meine Vorgesetzten ka-
men von der Bild aus München, wollten hier in
Leipzig Karriere machen und sich beweisen.
Die hatten ein bisschen das Gefühl, sie müssten
uns alles erst beibringen.
Günther Raithel: Für mich als Westdeutschen
war mein erster Besuch im Werk in Kahla ein
echter Schock. Bei meiner alten Firma, dem
Porzellanhersteller Rosenthal in Bayern, hatten
wir penibel drauf geachtet, dass die Arbeits-
plätze sauber und modern sind. Bei Kahla be-
trat ich, ich muss das so sagen, plötzlich Dun-
keldeutschland. Die Fabrik war total schwarz,
alles völlig verkohlt. Ich hatte das Gefühl, ein
ganz übles Eisenwerk vor mir zu haben.
Barbara Schmidt: Na ja, Herr Rai thel, ganz so
schlimm war es auch nicht! Im Vergleich zu

vielen westdeutschen Porzellanwerken stan-
den wir gar nicht so schlecht da. Klar, es war
nicht wie bei Ihrer alten Firma, wo ein
Gewächs haus mit rosafarbenen Flamingos
stand. Aber wir hatten schon moderne Ma-
schinen. So viele sogar, dass sie den Lichtein-
fall blockierten!
ZEIT: Was war Ihre erste Amtshandlung, Herr
Rai thel?
Raithel: Mir war klar: Wenn wir als Firma
überleben wollen, müssen hier mindestens vier
Tonnen Eisen, Steine, Dreck und alte Öfen
raus, wir brauchen neue Geräte, neue Maschi-
nen, ein anderes Arbeitsumfeld. Sonst wird das
nichts. Mit diesem Umbau haben wir direkt
angefangen, das hat bei voller Produktion vier
Jahre gedauert.
ZEIT: Und Sie waren sicher, dass Sie ganz ge-
nau wussten, wie es geht?
Raithel: Ich wusste, es gibt nur diese zwei
Möglichkeiten: völliger Umbau oder baldiges
Ende.

Schmidt: Und wir wussten, wenn Herr Rai thel
uns nicht rettet, wird es keiner tun. Denn vor
ihm hatte es schon ein Düsseldorfer Anwalt
mit wenig Erfolg versucht. Er hatte das Unter-
nehmen von der Treuhand übernommen und
fast in den Ruin geführt.
Raithel: Für eine Mark hatte der die Firma be-
kommen!
Schmidt: Und leider kannte er sich mit Porzel-
lan nicht aus. Er hoffte aber offenbar, im Osten
ein bisschen billiger produzieren und den Ost-
blockmarkt einfach übernehmen zu können.
Das funktionierte vorne und hinten nicht.
ZEIT: Die Presseberichte darüber findet man
noch im Archiv. Der Düsseldorfer Anwalt setz-
te sich selbst eine Luxuswohnung für 300.000
Mark aufs Gelände und soll dafür der Beleg-
schaft das Weihnachtsgeld gestrichen haben.
Schmidt: Ich war als frische Hochschulabsol-
ventin aus Halle gekommen und sollte an der
Entwicklung neuer Porzellanserien mitarbei-
ten. Toll, dachte ich, die Mauer ist gefallen,

jetzt lerne ich, wie ein marktwirtschaftlich
organisiertes Unternehmen funktioniert!
ZEIT: Und dann?
Schmidt: Ließ der neue Chef goldene Teller für
seine Hochzeit produzieren, und wir saßen in
der Kantine und dachten: So also funktioniert
Kapitalismus? Privates und Geschäftliches wur-
den vermischt. Auch die Art und Weise, wie er
uns behandelte, fühlte sich überheblich an. Er
interessierte sich nicht für unsere Meinung, er
wollte, dass wir die Dinge machten, wie er sie
richtig fand. Ich glaube, dass viele Ostdeutsche,
wenn sie heute an schlechte Erlebnisse mit
westdeutschen Chefs denken, solche Momente
vor Augen haben.
Raithel: Als ich Kahla übernahm, konnte ich
die Geschichten kaum glauben. Wenn der
Vorbesitzer zum Beispiel Baumaßnahmen
durchführte, holte er Firmen aus dem Westen
dafür. Mit welchen aus dem Osten arbeitete
er prinzipiell nicht. Das machte die Leute
wütend.

»Es gab bei uns


auch dynamische


Leute, die nicht


nur kuschten«


Barbara Schmidt, 52, geboren
in Ost-Berlin

»Ich merkte, dass


es lange keine


Konkurrenz gegeben


hatte, keinen


Anreiz, gut zu sein«


Günther Raithel, 79, geboren im
oberfränkischen Marktredwitz

»Die Ossis waren


obrigkeitshöriger –


damals jedenfalls«


Hartwig Hochstein, 67,
geboren in Werdohl im Sauerland

»Man merkte schon,


dass die Westdeutschen


anders waren. Allein


die Outfits!«


André Böhmer, 57, geboren im
sächsischen Dippoldiswalde

Foto: Felix Adler für DIE ZEIT
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