Neue Zürcher Zeitung - 22.10.2019

(John Hannent) #1

10 MEINUNG & DEBATTE Dienstag, 22. Oktober 2019


ROMAIN LAURENDEAU

FOTO-TABLEAU

Diki – das heimliche


Leben 1/


Ein Land derJugend mit vergreister Mentalität – so
beschreibt der algerischeJournalist Abdou Semmar
seine Heimat. Der im April 2019 aus dem Amt
gedrängte Präsident Abdelaziz Bouteflika verkör-
perte jenen Ungeist auf makabreWeise; seitJahren
krallte sich der Schwerkranke, der kaum mehr vor die
Öffentlichkeit tretenkonnte, an seinemPosten fest
und wollte heuer für eine weitere Amtsperiode
kandidieren. Unterdessenkönnten europäische
Länder neidisch werden auf den breiten Sockel der
algerischen Alterspyramide:Rund dreiViertel der
Bevölkerung sind jünger als 35Jahre. Aber für ihre
Hoffnungen, ihre Bedürfnisse undWünsche findet
diese Generation wenigRaum; viele sind auf die
improvisierten Zufluchtsorte angewiesen, die man in
Algerien «Diki» nennt. DerFotografRomain
Laurendeau hat solche Dikis aufgespürt – darunter
auch eines, wo Konservatismus und die kleine
Freiheit direktkollidieren.Dass dieWellenbrecher an
der Mole vonBab el Oued ein beliebter Begegnungs-
ort für Liebespaare sind, ist den selbsternannten
Sittenwächtern nicht entgangen: «Möchtest du das für
deine Schwester?», fragt das Graffito und rührt dabei
ans oft unausgewogene Ehrgefühl der Männer. Denn
möglicherweise wäre der Bursche zurRechten
tatsächlich alles andere als begeistert, wenn seine
Schwester sich ebenfalls dasRecht auf ein solches
Rendez-vous nähme.

Aktienge sellschaften in staatlicher Hand


Wenn sich Gemeinwohl und Gewinnstreben paaren

Gastkommentar
von MARKUS MÜLLER


Die Aktiengesellschaft ist die typischeRechtsform
für ein privates, gewinnorientiertesWirtschafts-
unternehmen. AlsRechtskleid für die Organisa-
tion der öffentlichenVerwaltung eignet sie sich
hingegen schlecht.Verwaltungseinheiten sindkeine
Wirtschaftsunternehmen, egal wie sie organisiert
sind und wie nah sie am Markt agieren. Ihre Be-
stimmung ist eine grundlegend andere: dieFör-
derung des Gemeinwohls, nicht das Streben nach
Gewinn.Trotzdem wurden in den vergangenen
Jahrzehnten zahlreicheVerwaltungseinheiten in
Aktiengesellschaften umgewandelt.Auf Bundes-
ebene sind es allen voran die grossen Service-
public-Betriebe SBB, Swisscom,Post oder dasRüs-
tungsunternehmenRuag. Kantone und Gemein-
den verwenden diese Organisationsformetwa für
Verkehrsbetriebe,Energieunternehmen, Spitäler
und Kliniken. Die in der Privatwirtschaft bewährte
Aktiengesellschaft soll für die staatlicheAufgaben-
erfüllung ein Mehr anFlexibilität, Dynamik,Wirk-
samkeit undWirtschaftlichkeit bringen–in einem
Wort: Marktkompetenz.


«Staatsnah»gibt es nicht


Nicht sie ist es jedoch,die in letzter Zeit immer wie-
der einmalAufsehen erregt hat; es ist vielmehr die
Häufung von Betriebspannenund Skandalen aller
Art. Dabei sind es nicht nur die grossen Schlag-
zeilen wie z.B. der Postauto-Skandal,die die Bevöl-
kerung umtreiben, sondern auch die unspektaku-
lären Alltagsärgernisse,die unzuverlässigeA-Post,
unzureichender Gepäckraum in Zügen, Helpline-
Warteschlaufen mit überforderten Mitarbeitern
usw. Natürlich:Wo gearbeitet wird,da p assieren
Fehler.Wo Fehler aberSystem haben, muss der
Sacheauf den Grundgegangen werden.Auf der Su-
che nachUrsachen und «Schuldigen» gerät zwangs-
läufig auch diePolitik in denFokus. Sie muss sich
Fragen gefallen lassen:Passt dieRechtsform der
gewinnstrebigen Aktiengesellschaft in den öffent-
lichen Sektor?Werden damit die richtigen Signale
undAnreize gesetzt? Ist sich diePolitik der Schärfe
des Zielkonflikts zwischen Gemeinwohl und Ge-
winnstreben bewusst,und nimmt sie ihreFührungs-
und Aufsichtsverantwortung entsprechend wahr?
Aufgrund der Entwicklungen in den letztenJah-
renerscheinen Zweifel berechtigt. Unter anderem
zeichnet sich das Problem (wie so oft) bereits bei
der Wortwahl ab: Geht es um die grossenAktien-
gesellschaften des Bundes, ist regelmässig von
«bundesnahen Unternehmen» dieRede.Auch auf
kantonaler undkommunaler Ebenehat sich für
st aat liche Aktiengesellschaften die Bezeichnung
«kantonsnah» bzw. «gemeindenah» eingebürgert.
Bundesnah, kantonsnah,gemeindenah – staatsnah?


Aktiengesellschaften, die der Staat kapital- und
stimmenmässig beherrscht, sind dem Staat nicht
einfach nur nah;sie sind Staat. Sie gehören – ob-
wohl aus der Zentralverwaltung ausgegliedert und
als juristischePerson konzipiert – nach wie vor zu
seiner (dezentralen)Verwaltung und sind demzu-
folge mit der Erfüllung von Staatsaufgaben betraut.
Dementsprechend dient als Richtschnur das Ge-
meinwohl und nicht die Gewinnmaximierung. Und
schliesslich unterstehen Aktiengesellschaften, wie
alle anderenVerwaltungseinheiten auch, derAuf-
sicht durch dieRegierung;sie tr ägt (zusammen mit
demParlament) für derenWirken die politische
Letztverantwortung.
Das alles ist nicht einfach juristische Klügelei,
sondern nüchternes Verwaltungsorganisations-
recht. Politik und Unternehmensleitung bekun-
den damit aber bisweilen Mühe.Viele mögen einer
Verwaltungseinheit, einmal in dieRechtsform der
Aktiengesellschaft gekleidetund mit unternehme-
rischerFreiheit (und entsprechender Unabhängig-
keit von derPolitik) ausgestattet, höchstens noch
eine abgeschwächte Staatlichkeit zugestehen. Stra-
tegische und operative Entscheide obliegen diesem
Verständnis zufolge einzig und allein demVerwal-
tungsrat und der Geschäftsleitung. Einmischun-
gen seitens derPolitik sind dementsprechend nur
in Ausnahmefällen opportun.Aus der Optik des
Aktienrechts ist diesgewi ss richtig.Allerdings darf
diese Zurückhaltung nicht einerLaisser-faire-Hal-
tung Platz machen. Denn diePolitik bleibt stets in
der Verantwortung.
Das Rechtskleid der Aktiengesellschaft ändert
daran nichts. DasAktienrecht und imFalle der Bör-
senkotierung auch die Börsenregeln mögen der
politischenFührungs- undAufsichtstätigkeit ge-
wisse Grenzen setzen. Gerade die Geschäftsstrate-
gie ist deswegen aber für diePolitik nicht tabu.Viel-
mehr verleiht ihr die staatliche Mehrheitsbeteiligung
mannigfache Möglichkeiten, um bei Bedarf auf die
Entscheidungsprozesse der Unternehmensorgane
(Generalversammlung, Verwaltungsrat, Geschäfts-
leitung) einzuwirken.Bleibt zusätzlich noch ein bun-
ter Strauss an aufsichtsrechtlichen Massnahmen,der
es derRegierung und unter Umständen auch dem
Parlament erlaubt,nötigenfalls zu intervenieren.
Trotz offensichtlichen Krisensymptomen wer-
den diese Einfluss- und Interventionsmöglichkei-
ten wenig genutzt. Dementsprechend führen die
Unternehmen ein strategisches und operatives
Eigenleben,welches den Zielkonflikt zwischen Ge-
meinwohl und Ge winnstreben auf eleganteArt auf-
zulösen und dem Credo zu folgenscheint: «Stim-
men müssen vor allem die Zahlen. Geld nützt ja
schliesslich auch dem Gemeinwohl.»Dass diese
Denkweise auf dieLänge zuProblemen führen und
Kritik hervorrufen musste, war vorhersehbar. Die
aufkeimende Unzufriedenheitin der Bevölkerung
fand denn auchAusdruck in der Service-public-In-

itiative. Diese scheiterte zwar 2016 vor Volk und
Ständen, stiess aber eine wichtige Diskussion an.
Dabei ist klar: Eine als Aktiengesellschaft orga-
nisierte und gezieltmit wirtschaftlichen Handlungs-
und Entscheidungsspielräumen ausgestatteteVer-
waltungseinheit ist von derPolitik, will diese sich
nicht selber widersprechen, an der langen Leine zu
führen. Aber, und das scheint gelegentlich verges-
sen zu gehen: Die Leine bleibt fest in ihren Hän-
den, um sie bei Bedarf enger und straffer an sich
zu ziehen. Und diesen Bedarf gibt es: Etwa wenn
Wirtschaftsinteressen die Gemeinwohlinteressen
überlagern und sich der Blick der Unternehmens-
leitung auf Gewinn verengt. Oder wenn die Erfül-
lung der staatlichenAufgabe zugunsten profita-
bler Geschäftsfelder vernachlässigt wird und da-
bei private Anbieter in ordnungspolitisch fragwür-
digerWeise aus dem Markt gedrängt werden. Hier
hat diePolitik auf eineKurskorrektur hinzuwirken.
Die staatlicheAufgabe, auch die ökonomisch ris-
kante oder unrentable,ist wieder ins Zentrum der
Geschäftstätigkeit zu rücken.Wer, wenn nicht der
Staat, nimmt sich sonst ihrer an?

Problemein Führung undAufsicht


Die Politik ist ferner gefragt, wenn die Saläre für
die Unternehmensspitze die Gemüterbewegen.
Denn es gibt beim bestenWillen wederrechtliche
noch sachliche Gründe, der Vorsteherin oder dem
Vorsteher einer als Aktiengesellschaft organisier-
ten Verwaltungseinheit das Mehrfache eines nor-
malen (Verwaltungs-)Kaderlohns auszurichten.
Zwar entscheiden nach Aktienrecht derVerwal-
tungsrat und die Generalversammlung über das
Vergütungsmodell.Dadurch wird aber diePolitik
nicht als Zuschauerin an den Seitenrand gestellt.
Sie hat allein schon durch ihreVertretung imVer-
waltungsrat und im Aktionariat die nötigen Hebel
in der Hand, umkorrigierendeinzugreifen.
Verwaltungsträger als Aktiengesellschaften zu
organisieren, bedeutet also den Zusammenprall
zweierKulturen: die gewinnorientierte Unterneh-
menskultur der Privatwirtschaft einerseits und
die gemeinwohlorientierteVerwaltungskultur der
Staatswirtschaft anderseits. Probleme in derFüh-
rung und Beaufsichtigung staatlicher Betriebe sind
damit programmiert.Dasdie schlechte Nachricht.
Die Probleme sindaber lösbar, wenn diePolitik sich
nicht scheut, ihre Interventionsmöglichkeiten bei
Bedarf auszuschöpfen.Das die gute Nachricht.Und
schli esslich ist es immer möglich,bereichsspezifisch
danach zu fragen, ob andere Organisationsformen
(z. B. dieAnstalt oder dieReintegration in die Zen-
tralverwaltung) nicht passender wären.

Markus Müllerist Professor für Staats - und Verwaltun gs-
recht sowie öffentliches Verfahrensrecht an der Universi-
tät Bern.

Aktiengesellschaften,


die der Staat kapital- und


stimmenmässig beherrscht,


sind dem Staat


nicht einfach nur nah;


sie sind Staat.

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