Dienstag, 22. Oktober 2019 MEINUNG & DEBATTE
Macrons Veto gegenEU-Osterweiterung
Brüssels Wortbruch ist riskant
Einsamkeit istJupiter gewohnt. Es störte Präsi-
dent Emmanuel Macron nicht, als Einziger der
EU-Staats- und -Regierungschefs letzteWoche
einVeto gegen Beitrittsverhandlungen mit Nord-
mazedonien und (unterstützt von den Niederlan-
den undDänemark) mit Albanien einzulegen. Die
Reaktionen sind heftig. Enttäuscht und wütend
sei er, rief der nordmazedonischeRegierungs-
chef Zoran Zaev aus.EU-Kommissions-Präsident
Jean-ClaudeJuncker sprach von «einem schweren
historischenFehler» und Erweiterungskommissar
Johannes Hahn vonWortbruch.
ZuRecht: Mit hohem politischem Einsatz
hatte Zaev 20 18 einenKompromiss im Namens-
streit mit Griechenland akzeptiert und innen-
politischdurchgedrückt:AusMazedonien wurde
Nordmazedonien. DieKonzessionwar nur mög-
lich, weil ihm Brüssel dafür Beitrittsverhandlun-
gen versprochen hatte. In Albanien sollte eine an-
spruchsvolleJustizreform dieTür zuVerhandlun-
gen öffnen. Doch jetzt kann die EU nicht liefern.
Erbittert verlangte der nordmazedonischeAus-
senminister wenigstens Ehrlichkeit. Die Bürger
hätten ein Anrecht, zu wissen, ob es eine europäi-
sche Zukunft gebe oder nicht.
Macron begründet seinNein nicht nur damit,
dass dieLänder fürVerhandlungen nichtreif
seien.Erzweifelt grundsätzlich an der Metho-
dik des Beitrittsprozesses. Damit hat er einen
Punkt. Serbien und Montenegro verhandeln seit
2012 und 2014. Sie machen zwar wirtschaftspoli-
tischeFortschritte, dochRechtsstaat und Gewal-
tenteilungsind unter ihren autokratischen Präsi-
dentenschwächer geworden. Die Gespräche zie-
hen sich hin. Eine «endlose soap opera», mokiert
sich die französische Europaministerin.
Macron ist europapolitisch bisher nicht vieles
gelungen.Jetzt versucht er sich in «Disruption»
und nimmt sich dabei nicht zufällig die Erweite-
rung vor. Sie zielt auf die Identität der EU, denn
sie definiert, werdazugehört und wer draussen
bleibt. Die entscheidendeFrage ist nun, ob der
Zwangspause auch wirklich ein Neuanfang fol-
gen wird, also eine neue Methode, mit der Kan-
didatenländer künftig integriert werden.
Dazu gibt es bedenkenswerte Überlegungen
von Experten: Fortschritte undRückschritte soll-
ten kurzfristiger belohnt beziehungsweise be-
straft werden, um den Prozess dynamischer zu
gestalten.Auchüber einen stufenweisen Bei-
tritt wird diskutiert, der mit der wirtschaftlichen
Integration beginnt und erst später in eine politi-
sche Mitgliedschaft mündet.Bei alldem darf nicht
vergessen werden: Die sechsLänder zusammen
haben eine Einwohnerzahl, die 3,8 Prozent der
500 Millionen EU-Bürger entspricht.
MacronsVeto ist jedoch riskant.Vor allem
dann,wenn der Integrationsprozess blockiert blei-
ben sollte. DieEUist für die multiethnischen Staa-
ten desBalkans sicherheitspolitisch attraktiv, weil
ihre inneren Grenzen gleichzeitig fest und durch-
lässig sind.Verschwindet dieAussicht auf den Bei-
tritt,kommt die ethnisch-nationale «Integration»
in Südosteuropa wieder aufsTapet. Zum Beispiel
in Gestalt einerVereinigung von Albanien und
Kosovo:Mit AlbinKurti alsRegierungschefKoso-
vos hätteTirana schon heute einenPartner, der
sich dieVereinigung alsFernziel gesetzt hat.
Ähnlich die Serben in Bosnien-Herzegowina:
Milorad Dodik, der Präsident des serbisch domi-
niertenLandesteils, spricht seitJahren von einem
Anschluss an Serbien.Dass der serbische Präsi-
dentAleksandarVucic sich darauf nicht einlässt,
liegt daran, dass er EU-Beitrittsverhandlungen
führt und Brüssel nicht beunruhigen will.Das
könnte sich ändern, wenn er zum Schlusskommt,
dass dieVerhandlungen nirgendwohin führen.
Anspruch auf Bundesratssitz
Wo ist die grüne Kraft in Sachfragen?
Im demokratischenAusland käme dasWahlergeb-
nis vom Sonntag wohl einer Abwahl derRegie-
rung gleich. Sämtliche vier Bundesratsparteien
mussten Sitzverluste hinnehmen, zumTeil deut-
liche. ZusammengenommenkommenSVP, FDP,
CVP und SP noch auf 68,9 Prozent derWähler-
stimmen. Seit der Einführung der Zauberformel
ist dies, abgesehen von der kurzen Phase nach der
Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat,
ein historischerTiefststand. Nie zuvor war ein so
geringerTeil desWählerwillens in derRegierung
abgebildet. In einemSystem, das darauf ausge-
legt ist, möglichst sämtlicherelevanten Kräfte in
derRegierung abzubilden, lässt dies aufhorchen.
ImVergleich zu früherenJahren ist nicht nur
dieRepräsentanz desWählerwillens wesentlich
tiefer, gewandelt hat sich auch die Opposition.
Noch nie wiesen Nichtbundesratsparteien imPar-
lament eine inhaltlich sokohärente Stossrichtung
auf, wie dies jetzt derFall ist. Grüne und Grün-
liberalekommen zusammen auf über 20 Prozent
Wähleranteil. Zwar mag zutreffen, dass die beiden
Parteien vor allem dem Namen nach Gemeinsam-
keiten aufweisen und lediglich eine ähnliche Pro-
blemwahrnehmung bei Umweltfragen haben, sich
hinsichtlich der Lösungsansätze jedoch erheblich
unterscheiden. Dessen ungeachtet kann jedoch
konstatiert werden, dass die Klimafrage mittler-
weile rund einFünftel derWähler umtreibt.
Es erstaunte daher auch nicht, dass Grünen-
PräsidentinRegulaRytz am Sonntag in der Ele-
fantenrunde vorsichtig die Bundesratsfrage in
denRaum stellte. Im Nationalrat hat ihrePartei
schliesslich die CVP überflügelt. Ginge es nach
einer streng arithmetischen Logik, so stünde den
Grünen nun ein Bundesratssitz zu.
Dass dieseForderung bisher nicht vehementer
vorgetragen wurde, dürfte nebst taktischen auch
handfeste Gründe haben. Die Einbindung sämt-
licherrelevanten Kräfte in den Bundesrat hatte
stets auch zum Ziel, dieReferendumsdemokra-
tieeinStück weit einzudämmen. Eine allzu starke
Opposition an der Urne, die den ohnehin schon
eher schleppenden SchweizerPolitikbetrieb zu-
sätzlich lähmt, soll damit verhindert werden.
Anders als so manche Bundesratspartei sind
die grünen Kräfte in dieser Beziehung bisher nicht
als erfolgreiche Streiteraufgefallen. So scheiter-
ten die Grünen 20 16 mit der Initiative «Grüne
Wirtschaft» genauso wie mit der Atomausstiegs-
initiative deutlich. Die GLP musste einJahr zuvor
bei derVolksinitiative «Energie- statt Mehrwert-
steuer» eine schon fast historische Schlappe ein-
stecken. Dies istkeinPalmarès, vor dem die eta-
bliertenBundesratsparteien erzittern. DiesesBild
könnte sich mittelfristig jedoch ändern. Denn die
Klimafrage dürfte bleiben und den grünen Kräf-
ten neue Chancen bei Abstimmungen eröffnen.
Als dieSVP 20 16 auf einen zweiten Bundes-
ratssitz drängte, brachte sie nicht nur die eigene
Wählerstärke mit, sondern auch eine Handvoll ge-
wonnener Urnengänge in wichtigen Sachfragen.
Die 20 14 gewonnene Abstimmung zur Massen-
einwanderungsinitiative beispielsweise dürfte der
Forderung derSVP nach einer angemessenenVer-
tretung im Bundesrat förderlich gewesen sein.
Wollen die Grünen in absehbarer Zukunft einen
Sitz in derLandesregierungerhalten, so dürften
sie nicht darum herumkommen, diesen Anspruch
mit Abstimmungserfolgen zu untermauern. Denn
eines istklar: Mit den notwendigenWählerpro-
zenten allein bekommt man in der Schweiz er-
fahrungsgemäss erst nach mehreren aufeinander-
folgendenWahlerfolgen einen Bundesratssitz.
Verurteilung des Rohstoffhändlers Gunvor
Die Schweizer Justiz zeigt Zähne
In der Schweiz wird der Name Gunvor häufig mit
einer Sängerin verbunden, die dasLand einmal
wenig erfolgreich beim Eurovision Song Contest
vertreten hat. Gunvor ist neben Glencore, Tr afi-
gura,Vitol und Mercuria aber auch einer der gröss-
tenRohstoffhändler desLandes. 20 18 setzte die in
Genf ansässigeFirma 87 MilliardenFranken um
–nur etwas weniger als der Lebensmittelkonzern
Nestlé, wobeidie Umsätze im Handelnur bedingt
mit jenen der Industrie vergleichbar sind.
In der vergangenenWoche stand Gunvor jäh
im Scheinwerferlicht: Die Bundesanwaltschaft
verurteiltedasUnternehmen wegenKorruption
zu einer Zahlung von insgesamt 94 Millionen
Franken, davon 4 MillionenFranken als Busse.
Erstmals wurde ein grosserRohstoffhändler in
der Schweiz in einem solchenVerfahren gebüsst
- mit einer hohen Summe.Auch wenn es auf den
ersten Blick nicht so aussieht, stärkt dieVerurtei-
lung den SchweizerRohstoffhandelsplatz.
Ein hohes Risiko geht mit demRohstoff-
handel einher, denn vieleressourcenreicheLän-
der haben Defizite inRechtssicherheit, Demo-
kratieundMenschenrechten. DieKorruption ist
in solch «schwierigenLändern» allgegenwärtig.
Häufig nutzen Unternehmen auch die Dienste
vonVermittlern mit «gutenVerbindungen».
Die Bundesanwaltschaft wirft Gunvor vor,
nicht alle erforderlichen und zumutbarenVor-
kehrungen getroffen zu haben, um Bestechun-
gen zu verhindern. Zudem arbeitete der Erdöl-
händler mitVermittlern zusammen. Die Schwei-
zer Behörde hatte die Aktivitäten inKongo-
Brazzaville und Côte d’Ivoirevon 2008 bis 2011
unter die Lupe genommen. Bereits im vergange-
nenJahr verurteilte das Bundesstrafgericht einen
Ex-Mitarbeiter von Gunvor zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von 18 Monaten.Das Fazit lautet:
Das Unternehmen habeKorruptionsrisiken als
Teil der Geschäftstätigkeit in Kauf genommen.
Gunvor steht damit nicht alleine da: Die US-
Justiz forderte denRohstoffkonzern Glencore
vor gut einemJahr dazu auf, Dokumente im
Zusammenhang mit möglicherKorruption und
Geldwäscherei auszuhändigen.WeitereRoh-
warenhändler stehen imVerdacht, in Brasilien
Schmiergelder fürAufträge mit dem Staats-
konzernPetrobras gezahlt zu haben. Die Bran-
chereagiert darauf, dass die Behörden und die
Öffentlichkeit bei ihren Geschäften genauer hin-
schauen. Es entstehen Compliance-Abteilungen,
mehrereRohstoff-Händler schwören der Zu-
sammenarbeit mitVermittlern ab, und in ersten
Schritten werden Zahlungen an öffentliche Stel-
len offengelegt.
Korruptionsermittlungen und -prozesse wie
imFall vonGunvorsind ein gutesZeichen da-
für, dass die Behörden die Missständekorrigie-
ren wollen. Es gibt eine Gesetzesgrundlage, wo-
mit es hapert, ist diekonsequente Anwendung
undDurchsetzung derVorschriften.
Die Schweiz wirdregelmässig dazu aufgeru-
fen, härtereRegeln einzuführen. Manche Beob-
achter warnen sogar davor, dass der Schweizer
Rohstoffhandelsplatz ähnlich wie derFinanzplatz
seitens der Amerikaner unter Druckkommen
könnte; dabei verweisen sie auf dieUntersuchung
gegen Glencore.Mit der hohen Zahlungsforde-
rung gegen Gunvor wird dieser Kritik teilweise
derWind aus den Segeln genommen. Die Unter-
nehmen erleben schonheute hautnah, dass es sich
lohnt,sauber zuagieren. EinkonsequentesVor-
gehen gegen schwarze Schafe stärkt daher den
Rohstoffhandelsplatz.
MICHAEL SURBER
SEITENBLICK
Rohe Reflexe
gegen Handke
Von KONRADPAUL LIESSMANN
EinekomplizierteWelt wird schnell einfacher,
wenn man es sich angewöhnt hat, nur noch auf
wenige Schlüsselreize mit standardisierten
Verhaltensweisenreflexartig zureagieren. Die
Logik der moralischen Empörung, die den
Mediendiskurs beherrscht, ohne dass deshalb
dieWelt besser würde, gehorcht zunehmend
diesem Prinzip. Kaum hatte die schwedische
Akademieverkündet, dassPeter Handkeden
Nobelpreis erhalten sollte, schnurrte das
Lebenswerk des Dichters auf eine politisch
prekäre Episode zusammen, die angeblich
alles andere in den Schatten stellt und den
Nobelpreis in ein schräges Licht rückt.
Abgesehen von derFrage nach dem
Verhältnis vonPolitik und Moral war man gar
nicht willens, genauer hinzusehen. Handke hat
sich mit dem Bösengemeingemacht,und da
das Böse bekanntlichrechtssteht, hat eine
österreichische Qualitätszeitung denKommu-
nisten und Sozialisten Slobodan Milosevic
flugs in einenRechtspopulisten verwandelt,
um zu zeigen, wie böse Handke wirklich ist.
Eine lächerliche Episode fürwahr – aber wenn
man schon auf dieser Ebene Geschichtsfäl-
schung betreiben muss, um seine moralischen
Ansprüche plausibel zu machen, sind die
Empörungen dasPapier nicht wert, auf dem
sie sich tummeln.Während man theoretisch
wortreich die Ambiguitätstoleranz beschwört,
ist man praktisch auf eine Eindeutigkeit
fixiert, diekeine intellektuelleRedlichkeit,
sondern nur nochroheReflexekennt.
Der Empörungsreflex zeitigt auch andere
tragikomische Effekte. In der grossen wie in
der kleinenWelt äussert sich die moralische
Entrüstung gerne in einer Handlung, der man
eine gewisseAngemessenheit an den Geist
unserer Zeit nicht absprechen kann: dem
Boykott. AlsReaktion auf dasVerwerfliche
verweigern wir jeden Umgang mit diesem. Ob
es sich um den Boykott vonWirtschaftsbezie-
hungen zwischen Staaten handelt oder um den
Aufruf, die Produkte eines missliebigen
Unternehmens nicht zu kaufen – das Prinzip
ist das gleiche: Schliesse das Böse aus dem
Warenverkehr aus. Dass manchekeine
Orangen aus Israel kaufen wollen, gehört
ebenso in diese Kategorie wie die ökonomi-
scheÄchtung eines Biobauern, der Mitglied
der AfD ist, und dass man in einer Buchhand-
lung nicht mehr auftreten kann, wenn ruchbar
wird, dass die engagierte Betreiberin sich
selber alskonservativ und bürgerlich bezeich-
net, versteht sich für einen moralisch sensiblen
Schriftsteller von selbst.
Die alterömischeWeisheit, dass Geld nicht
stinke, gilt nicht mehr in einerWelt,in der in
derWare nicht, wie noch Marx glaubte, die
Arbeitskraft, sondern die moralische oder
politische Gesinnung der Produzenten steckt.
Vielleicht sollte vorgeschrieben werden, neben
der Liste mit den Inhaltsstoffen einenAufkle-
ber mit den politischen Präferenzen der
Hersteller an allenKonsumgütern anzubrin-
gen,auchan Büchern.Dann hätte das Nobel-
preiskomitee ohne Nachdenken die richtige
Entscheidung treffenkönnen.
Reflexartig warauch die Empörung, als
bekanntwurde, dass ein Kabarettist es in einer
Kabarettsendung gewagt hatte, einen harm-
losenWitz über GretaThunberg zu machen.
Merke:Wenn es heiss wird, hört jeder Spass
auf. Der Kabarettist hatte überdies gegen ein
ehernes Gesetz des deutschen Kabaretts
verstossen:Lachen darf man nur über die
Bösen – und diese gibt es eben nurrechts von
der Mitte. Dass derWitz, zumindest nach
SigmundFreud,eineRegung des Unbewuss-
ten ist und demTabuisierten einenAusdruck
verleihen kann, ist in einer freudlos geworde-
nenWelt vergessen.Aber dengrossen Psycho-
analytiker sollte man wahrscheinlich ohnehin
wieder einmal ein wenig boykottieren – ein
Blick in die Untiefen der Seelekönnte das
Empörungsgeschäft empfindlich stören.
Konrad Paul Liessmannist Professor für Methoden
der Vermittl ung von Philosophie und Ethik an der Uni-
versität Wien.