6 26./27. OKTOBER 2019
W
eresindieamerikanischen
TalkshowsvonJimmyFallon,
James Corden oder Jimmy
Kimmelbringt,derhatesge-
schafft.ImmerhinsitzendortPopikonenvon
BarackObamaüberMadonnabisKimKar-
dashian.DieSängerinAliceMertonwarbei
allen,seitdemsieAnfang 2018 inFallonstra-
ditionsreicher„TonightShow“ihren Hit„No
Roots“ spielte,dessen Titel Fallon naturge-
mäß alsRunning Gagmit seinerHausband
The Roots besetzte,der besten HipHop-
Band der Welt. „Sehr witzig“, erinnertsich
Merton.„Undkrass.“
EinschönerErfolgauchfürdasDebütei-
ner24-jährigenNewcomerin. Verdienthatte
sich „N oRoots“ dieAufmerksamkeit durch
kantige Funkyness und stattlicheGoldver-
käufe in den USA, einenEintrag in denTop
100der BillboardchartsunddieSpitzenposi-
tionderAlternativeCharts .Dasssieauchin
einigen europäischen Ländern–zum Bei-
spiel in Frankreich,Italien, Polen, Deutsch-
land –Gold undPlatin abräumte,zählt in
den Vereinigten Staaten weniger.Bemer-
kenswertindes,dassMerton,ihreBandund
ihrPopausDeutschlandkommen–wasab-
seitsgrollenderGermanenklischeesinÜber-
seekeineEmpfehlungist.
Andererseits beschreibtMerton in „No
Roots“ dynamisch und entschlossen die ei-
gene Wurzellosigkeit:In Frankfurtgeboren,
verbrachte sie dieKindheit in den USA und
Kanada, bevor sie alsTeenager nach Mün-
chenkam,späternochinEnglandlebte,und
nachAugsburgundMannheimnuninBerlin
wohnt. „Deutsch ist nicht meineErstspra-
che,ichkamjaschonmitdreiMonatennach
Amerika“, sagt sie mitweichem Akzent,
„aber ich fühle mich, je länger ich hier bin,
mehrmitdemLandverbunden.Ichfindees
schön, wenn sich die Leute freuen, dass es
eineDeutscheindenUSAgeschaffthat.“Sie
denkt kurznach, lacht: „Natürlich sagen
auch dieKanadier,dass es eineKanadierin
geschafft hat, in München bin ich die
Münchnerin, in Frankfurt,die gebürtige
Frankfurterin‘, jetzt die ,Wahlberlinerin‘ –
ichkannmichüberalleinbisschenzuHause
fühlen.“
SIE SITZT AUFGERÄUMT IN BUNTEN OVER-
SIZE-KLAMOTTEN AUF EINEM SOFAim La-
denbüroihres LabelsPaper Plane,amF uß
vonPrenzlauerBerg .Sieführ tesg emeinsam
mitihrembestenFreundundManagerPaul
Grauwinkel und hat darauf Anfang dieses
Jahres auch ihrDebütalbum „Mint“veröf-
fentlicht.DorthörtmaneinenbisindieNew
York Times gelobten Overgroundpop,der
sichsogelungenwieihrLebenslaufvonder
Konfektion, schon gar der deutschen, ab-
hebt. Da ist zum einen ihreselbstbewusste
Stimme,die an den großenTonvon Sänge-
rinnen wieFlorence Welsh oder auchAdele
erinnert;zumanderendieMusik,diesiege-
meinsammitihremProduzentenNicoReb-
scherentwirft–vollgültigerPrimärreiz eund
eingängigerTanzbarkeit, aber eigenständig,
angelehntanAchtzigerpopundihrergroßen
Popliebe The Killers,abwechslungsreich
zwischenIndierockundelektronischausge-
bautemPopgebaut.
MertonhatdasHandwer kand erbaden-
württembergischenPopakademieinMann-
heimgelernt.AmGymnasiumhattesiefest-
stellenmüssen,wiewenighier ,andersalsin
Kanada,KreativitätgeförderterSchulstoffist.
„Mir hat buchstäblich einTeil vonmir ge-
fehlt“,sagtsie,umd ieländerfinanzierteAka-
demie umso mehr zu preisen: „Sie war ein
Riesengeschenkfürmich,ichhabewahnsin-
nigvielgelernt“,schwärmtsie,„weildudort
nichtnurerfährst,wiemanmitverschiede-
nen Genres ,Instrumenten, Arrangements
umgeht,wiemanSongsaufbaut,Schreibblo-
ckadenübersteht,ineinerBandklarkommt.
Duhastvorallemein Studiuml angZeit,dich
zu entwickeln, und ich staune,wenn ich
heute meine frühenSachen do rt höre.“So
hatte sie zum Beispiel ihreprägnante
Stimme(unddasKlavierspiel)seitderKind-
heitklassischtrainiert.„Eigentlichwollteich
Opernsängerinwerden, aber an denUnis
fanden sie mich zu jung und unerfahren“,
seufztsie.„Fürden Popmussteichtechnisch
komplettumdenken,dasSingenmitMikro-
fonlernen,dieStimmeganzandersstützen.“
DiehandwerklicheAusbildung spiegelt
sich in derZielsicherheit derSongs.Aber
zuminteressantenPaketgehörtauchdiege-
schäftlicheSchulung,Teildes Popstudiums,
wobei sie inMertons Fall auf offeneOhren
stieß.StattaufdieOpernreifezuwarten,stu-
dierte sie kurzerhand ein paarSemester
kunstfernWirtschaftinAugsburg.„MeinVa-
teristselbstHobbysongwriter,aberarbeitet
alsUnternehmensberater,undbeiihmklang
die Geschäftswelt immer sehr interessant“,
sagtsie .NurdurcheinenZufallhabesievon
der Popakademie erfahren, wo sie sogleich
und„krasserweiseangenommenwurde“.
Geradehatsie„Mint“nocheinmalaufge-
legt, er weitertume in paar hübscheStücke,
die„meineBandbreitezeigensollen“undsie
teils elektronischer,aber auch mit Klavier-
und Orchesterbegleitung vorstellen. Der
Zeitpunkt war natürlich günstig, denn Alice
Oversize-Klamotten über Oversize-Herz: Alice Merton am Rande des Halle-Solidaritätskonzerts am 19. Oktober. IMAGO
Machstes
eben selbst
KeinPlattenlabelwollteAliceMertonundihreMusikhaben,also
gründetesieeinfacheineigenes–undlandeteeinenWelterfolg.Eine
BegegnungmitBerlinsgrößtemPopstar,denkaumjemandkennt
VonMarkusSchneider
MertonsitztseitSeptemberinderJuryvon
„TheVoiceofGermany“,wosienununter
denentspanntabgehangenenErfolgspop-
pernetwasausdemRahmenfällt.Siehabe
langüberlegt,sagtsie,abernachdemsiemit
derBand–ganzalteSchule–dieOchsentour
durchkleineVenuesundFestivalsinden
VereinigtenStaatenundganzEuropadurch-
gezogenhatte,„konnteicheinePausebrau-
chen. Es macht mir außerdemSpaß, Neues
auszuprobieren.UndalsrelativeNewcome-
rinweiß ich, wie schwer es heute ist, in der
Musikdurchzustarten–geradealsFrau,wie
ich selbst erfahren habe.Das kann ichwei-
tergeben,undwieesbeimirohneLabel,mit
Netzplattformen undOut-of-the-box-Ideen
geklappthat“.
Einpaar potenzielle Labelkandidaten zu
finden und neue Hörerschichten zu gewin-
nen, schadet sicher ni cht. Aber bei allem
Realismus ist „Mint“ eben nicht nur eine
SammlungvonSongs,sondernein Album,
miteinemeigenenStilundCharakter.„Mir
ist das Albumformat extrem wichtig, ob-
wohl ich auchweiß, dass wir heute eine
Playlistgesellschafthabenundesimmerum
Singles geht“, nickt sie.„Ichproduziereei-
nenSongnichteinfachzumAbspielenund
Vergessen;ichwill,dasseineGeschichteda-
hintersteht.Mitdem Album kann ich ver-
schiedeneFacetten als Kapitel zusammen-
fassen und abschließen. Unddann ein
neuesbeginnen.“
Wieals Motto an den Albumanfangge-
stellt, singt sie in „LearnToLive“ vom
schwierigenWeginserwachseneLeben,um
in„Homesick“vondenvielenÄngstenihrer
Kindheit zu erzählen, vonder Fremdheit in
derSchule,odervomMythosdesflatterhaf-
ten Künstlerlebensihres „Funny Business“.
Undstatt vonLiebe spricht sie meist eher
vonFreundschaft,wiein„2Kids“,woesum
die erste Begegnungmit ihrem damaligen
Kommilitonen Paul Grauwinkel an einer
BushaltestelleinMannheimgeht.
DASSCHWERWIEGENDEDRAMAUMABLEH-
NUNG,SELBSTBEHAUPTUNG,Durchhalten
kennt man als gängigePoprhetorik, aber
Merton hat schon rechtfrüh gelernt, sich
durchzubeißen.ZumBeispielinderSchule,
wosieinderMünchnerachtenKlassenoch
in den Naturwissenschaftengegen Sprach-
defizitundLehrerbayrischkämpfenmusste.
„DiehärtesteZeitinmeinemLeben“,schau-
dertsie.„DasBildungssystemin Deutsch-
land ist schwierig für Leute,die integriert
werden müssen,wobei ich noch das Glück
hatte,dass sich eine der Lehrerinnen jeden
Nachmittag zwei Stunden Zeit für mich
nahm. Hast du das nicht, schickensie dich
auf die Hauptschule, wo du dein Potenzial
nichtumsetzenkannst.“
Auch der Poperfolg flog Grauwinkelund
Mertonnichtzu.Alssie2016mitdenersten
vier selbst erjobbten und produzierten
Songs um „NoRoots“ ein Label suchten,
winktenalleab.Einigesitzenheutevermut-
lichaufdeneigenenBissnarben.„Nachdem
Erfolg war das Interesse natürlichgrößer“,
sagt sie und lächelt.„Aber ich war bei allen
Firmen,und wenndirallenursagen,dasses
hier rockiger od er do rt poppiger sein soll,
dass du andereProduzenten brauchst oder
kürzenmusst –dann hast du ja eigentlich
keineWahlun dmachstesebenselbst.“
Wobei, ergänzt sie,„wir ja auchMusik-
businessgelernthattenundnichtvölligah-
nungsloswaren.ImschlimmstenFall,haben
wirunsgesagt,scheiternwirebenundhaben
ein bisschenGeld verloren“.Sielacht. Ist
auchwitzig.
Markus Schneiderschätzt wurzel-
losenPop. Auch mitWurzeln in Frank-
furt, Mannheim oder Berlin.
SPIELPLATZ
VonJan Bojaryn
BLZ/REEG
I
ndem Computerspiel„Draugen“ fährtein
jungerMannin Begleitungeinernochjün-
geren FrauindasnorwegischeDorfGraavik.
Er sucht seine geliebte Schwester,aber die
scheint nicht da zu sein. Überhaupt ist nie-
mandda.DasDorfistleer .Gespieltwirdind er
Ich-Perspektive; wie in einemEgoshooter,in
demnurgelaufenundgeschautwird.Gegner,
GewaltundGefahrengibtesnicht.„Draugen“
beginnt als eineDetektivgeschichte mit der
LandungineinerDorfruine.Dannziehtsich
derFokusimmerengerzusammen.
Bevo resi nteressantwird,muss„Draugen“
sichersteinmalfinden.DiezahllosenVorbil-
der sind allgegenwärtig.Hier wi rd eine iso-
lierte Spielweltentdeckt,dienichtnurSpuren
verbirgt,sonderndieauchalsSpiegelbildder
menschlichenPsychefunktioniert–sohaben
es auch die modernenSpieleklassiker„Dear
Esther“und„GoneHome“gemacht.DieLite-
raturvorbilder Agatha Christie undEdgar Al-
len Poewerdenn icht nur zitiert, siewerden
vonden Helden Edwardund Alice nament-
lich erwähnt.Undüber allem schwebt H.P.
Lovecraft, der posthum in denMainstream
Auf den SpurenAgatha Christies
gerutschte Horror-Autor.LovecraftsGe-
schichten über dieGrenzendes menschli-
chenBegreifenstaucheninermüdendvielen
Spielen auf, und sehr häufigwerden si eein-
fach nacherzählt.„Draugen“ steckt auch tief
in der trübenSuppe seinerEinflüsse,aber
dann entsteigt es demBadals etwasNeues,
Eigenes.
Neuan„Draugen“ istnicht, was erzählt
wird,sondernwie.Dasliegtwohlvoralleman
dem begnadetenAutorund Game Designer
RagnarTørnquist.Tørnquistkommtaufden
Punkt,erbrauchtnureinpaarStundendafür.
Seine zweiTitelr ollen haternicht besonders
originell, abersehr lebendig geschrieben.
Undsie werden vonzweiguten Synchron-
sprechernmit Leben gefüllt. Edward und
seineB egleitungAlicesindungewohntnatür-
licheCharaktere,diesor eden, wieMenschen
ebenreden.Dasistbeso ndersin Spieleneine
Errungenschaft, denn hier ist derDialog sel-
tenmehralseinZettelkastenmitErklärnoti-
zen.SpieleentwicklernutzenSprache,umei-
nerseitseineneinfallslosenPlotüb erzuerklä-
ren, andererseits denHelden ihrerKindheit
Tributzu zollen.UnddieHeldender Kindheit
sindimmerdieselben.
In „Draugen“wirddas Quellenmaterial
nicht nur zitiert, sondernumgedeutet.Die
Grusel -und Detektivmomente bilden einen
eher unverbindlichen Hintergrund. Angst
oderAnspannungkommtseltenauf,dasDorf
istnunmalleer.AlldiemöglichenTäterund
Opfersind weg,EdwardistmitseinerAliceal-
leinam Endeder Welt.WasinG raavikpassiert
ist, das wirdimmer mehr zu einemSpiegel-
bildderbeidenundihrerBeziehungzueinan-
der.DieGeschichtewillihreSpielerfürMen-
scheninteressieren,stattsiemitGimmickszu
unterhalten.Wenn Videospiele mehr liefern
wollen,alsgefälligeGenreerzählungen,dann
können sie sichruhig an„Draugen“ einBei-
spielnehmen.
Draugenist fürrund
20 Euro für den PC
erhältlich.EineVersion für
Playstation4und Xbox
One wird späterind iesem
Jahrerscheinen.