Jahren des Nationalsozialismus, danach
in beiden Teilen Deutschlands wiederge-
gründet, im Osten zwangsvereinigt mit der
KPD. Nochmals wiedergegründet in der
Wendezeit. Am 7. Oktober feierte die ost-
deutsche SPD ihren 30. Geburtstag; nein,
es geht ihr nicht gut.
Moritz Kalthoff war auch nicht immer
Ostdeutscher, geboren ist er in Lüden-
scheid. Er kommt aus Nordrhein-Westfa-
len, dorther also, wo das sozialdemokrati-
sche Milieu am längsten überlebt hat. Der
Vater Schlosser, die Mutter Lehrerin. Bei-
de mit großer Selbstverständlichkeit SPD-
Wähler.
Vielleicht wählten sie auch aus dem
Grund sozialdemokratisch, weil es Men-
schen wie diese stellvertretende Schullei-
terin gab, die befand: Das Abi schafft der
Moritz nie. Er schaffte es, nicht so gut wie
die Mädchen an der Schule, aber immer-
hin mit 2,3. Ging nach Jena zum Studieren,
weil das Leben da weniger teuer war, schei-
terte am Latinum. Verliebte sich, blieb,
wurde Briefträger, die Arbeit, sagt er, ge-
falle ihm gut.
Ein Briefträger weiß, wo Armut sitzt
hinter sanierten Dorffassaden, weiß, wo
der Bus kaum jemals fährt. Und wo je-
mand die »Junge Freiheit« abonniert, was
er natürlich nicht weitererzählen darf. Er
weiß, wo die jungen Leute wegziehen oder
längst weggezogen sind. Seit 1990 hat Thü-
ringen sieben Prozent seiner Bevölkerung
durch Abwanderung verloren, weil es lan-
ge keine Arbeit gab. Heute ist das anders,
nur 5,1 Prozent sind arbeitslos, aber gut
bezahlt ist die Arbeit nicht. Nur 43 Pro-
zent werden nach Tarif entlohnt. Mit
durchschnittlich 2500 Euro brutto für Voll-
zeit liegt Thüringen unter den Bundeslän-
dern auf dem vorletzten Platz.
Kalthoff findet, wenn man Dinge än-
dern wolle, wenn man ein Anliegen habe –
dass es eigentlich ein logischer Schritt sei,
dieses Anliegen in die Politik zu tragen. In
eine Partei. Die SPD ist die Partei, die die
Kleinen größer machen wollte und die
Großen bändigen, so war das jedenfalls
mal.
Man kann in eine solche Partei eintre-
ten, um Karriere zu machen; das allerdings
ist schwierig, wenn einen die Partei auf
den Listenplatz 27 setzt.
Man kann Wärme suchen. Vertrautheit.
Man kann dort Menschen suchen, mit de-
nen man sich nicht jedes Mal neu über
Grundsätzliches verständigen muss.
Man kann auch der Meinung sein, dass
diese Welt etwas besser werden könnte,
als sie ist. Das braucht Idealismus. Man-
chem Sozialdemokraten hilft dabei der
Blick in die Geschichte, es ist ja die älteste
der deutschen Parteien. Der Vorteil: Die
schwierige Gegenwart schrumpft zum Aus-
schnitt. Wo es so viel Gestern gibt, muss
da nicht auch ein Morgen sein?
Kalthoff und sein Wahlkampfmanager
Bermig laufen oft in roten T-Shirts herum,
auf denen ein Wahlslogan der Sozialde-
mokraten von 1946 abgedruckt ist: »Er
wies uns den Weg. Seine Lehre ist unsere
Lehre«. Gemeint ist Karl Marx.
Gemeint ist eine SPD, die »tatsächlich
noch Sozialpolitik betrieben hat«, sagt Ber-
mig, der Wahlkampfmanager, der die T-
Shirts bedrucken ließ.
Gemeint ist eine Partei mit Anführern,
die sich nicht im italienischen Anzug als
»Genosse der Bosse« fotografieren lassen,
wie Gerhard Schröder es tat, der Mann
mit der Agenda 2010. Die Schröder-Bilder
wirken nach, an der Basis. Es sind Bilder,
die sagen: Ich hab’s geschafft. Nicht: Wir
haben es geschafft.
Kalthoff setzt ein anderes Bild dagegen:
Ich bin Briefträger. Ich bin einer von euch.
Das Gefährt, mit dem er an einem Sonn-
tagnachmittag auf dem Eisenberger Markt-
platz zum Wahlkampf vorfährt, ist kein
Bus mit aufgeklebtem Kandidatenporträt,
sondern ein Roller von Peugeot.
Zahlt er das Bier eigentlich selbst, das
er ausgibt?
»Ja, klar. Den Roller auch, ich hab ja
was gespart im letzten Jahr. Tolles Wahl-
kampfmobil. Bis auf die Probleme mit
dem Vergaser.«
Es ist Wochenende. Wo sind die Men-
schen? Im Kleingarten. Also fährt er da
hin.
»Kalthoff mein Name, SPD-Landtags-
kandidat. Darf ich Ihnen was vorbeibrin-
gen?«
Es gibt Flugblätter, Flaschenöffner mit
SPD-Logo und Grillzangen aus Holz.
»Kann man auch Schnecken mit sam-
meln«, sagt Kalthoff.
»Gibt wenig Schnecken dieses Jahr«,
sagt eine Frau in Arbeitshose. »Gibt Wühl-
mäuse.«
»Stimmt, Wühlmäuse. Hab ich auch.«
Es ist jetzt wichtig, dass der Kandidat
wirklich einen Garten hat. Und wirklich
Wühlmäuse. Dass er das nicht einfach so
hinsagt. Vielleicht glaubt man ihm dann
auch, was auf seinen Flugblättern steht.
Von gebührenfreier Kita ist da die Rede,
überhaupt von Bildung, von Digitalisie-
rung. Anständig bezahlte Arbeit, Woh-
nung, Familienleben, es klingt nicht revo-
lutionär, was er einklagt, es passt nicht
recht zu dem Marx auf dem T-Shirt, aber
weil es für manche so weit weg ist von ih-
rer Wirklichkeit, ist es vielleicht doch bei-
nahe revolutionär.
Es ist schwer, Leute zu finden in der
Kleingartenanlage. In vielen Parzellen wu-
chern Goldrute und Weißer Gänsefuß, die
Menschen sind fortgezogen oder zu alt ge-
worden für ihren Garten.
»Halloho, guten Taahag, Kalthoff mein
Name, SPD-Landtagskandidat, darf ich Ih-
nen was hierlassen? Alles klar, schönen
Sonntag noch.«
Hundegebell. Ein Briefträger weiß den
Tonfall von Hunden zu deuten. Der hier
klingt nicht freundlich.
»Kalthoff mein Name. Darf ich Ihnen
was geben?« Die Frau, unter ihrer Pergola,
zögert und kommt dann doch.
Sie wirft einen kurzen Blick auf den Zet-
tel und redet über Verwahrlosung. Sie re-
det über Leute, die die Parzellen nur dazu
nutzen, Partys zu feiern, manche reißen
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Gesellschaft
Kandidat Kalthoff in Kleingartenverein: »Wühlmäuse hab ich auch«