Jessye Norman, * 15. 09. 1945, † 30. 09. 2019
Anatol Kotte/laif
Jessye Norman ist tot. Die US-amerikanische
Sopranistin war eine der letzten Königinnen der
klassischen Musik VON ANDRÉ HELLER
Erstens.
Sie besaß, wie alle bedeutenden Wunder der Na-
tur, eine atemberaubende Wirkung auf Menschen
jeden Alters und auf jedem Erdteil. Einmal war sie
die Iguazú-Wasserfälle, dann eine fliehende Herde
von Zebras oder ein Vollmondaufgang über dem
Pazifik. Bei ihren gesegnetsten Auftritten sang sie
nicht, sondern ihr ganzer Körper wurde auf Befehl
ihrer weisen Seele überirdische Musik. Sidney Poi-
tier sagte: »Wenn Gott singen würde, hätte er die
Stimme Jessye Normans.« Und mein Sohn Ferdi-
nand lief, als er neun Jahre alt war (nachdem er im
Studio Zeuge von Filmaufnahmen geworden war,
in denen wir Normans an Intensität unübertreff-
liche Ver sion von Schuberts Erlkönig und zwei
herzzerreißende Gospelverkündungen für die
Ewigkeit dokumentiert hatten), staunend zu ihr
mit der Frage: »Tante Jessye, wie viele Singvögel
wohnen in dir?«
Zweitens.
Sie arbeitete hart und manisch. Eine selbstquäleri-
sche Perfektionistin war sie, die sich keine Nuance
von Einsamkeit und von Barfußtanzen auf dem
Nagelbrett maßloser Qualitätsansprüche ersparen
konnte und wollte. Gelegentlich stürzten Dämo-
nen des Zweifels sie in tiefste Finsternis, und sie
musste sich von dort einen Weg zurück ins Licht
erkämpfen. Bittere Schilderungen in über 200
Briefen, die sie mir im Laufe der Jahre schrieb, ge-
ben Auskunft über den irritierend hohen Preis, den
sie für die Herrlichkeiten ihres Daseins bezahlte.
Drittens.
Im Herbst 2002 inszenierte ich mit Jessye Norman
im Pariser Théâtre du Châtelet zwei Kurz opern: Er-
wartung von Arnold Schönberg und La Voix Hu maine
von Jean Cocteau mit der Musik von Francis Poulenc.
Nach dem ersten Durchlauf mit dem Dirigenten und
den Musikern war sie wütend und empört über die
geringe Anzahl von Orchesterproben, die uns noch
bis zur Premiere blieben. Sie sagte: »Ich habe mit
Sicherheit den falschen Beruf gewählt. Mein ur-
sprünglicher Wunsch war es, Ärztin zu werden, und
ich wurde nur deshalb Sängerin, weil man mir für ein
Musikstudium ein Stipendium anbot und an der För-
derung von künftigen Ärzten zu diesem Zeitpunkt
nicht im Geringsten interessiert schien. Wäre ich
Ärztin, könnte ich Menschen heilen, und jeder mei-
ner Arbeitsaugenblicke hätte einen tiefen Sinn.« Ich
antwortete ihr: »Aber du bist ja eine wesentliche
Heilerin geworden. Man kann doch durchaus in den
unvergleichlich positiven Schwingungen deines
Singens Trost und dadurch Hilfe zur Gesundung
finden. Und ich bin überzeugt, dass es Zehntausende,
wenn nicht Hunderttausende in der Welt gibt, die dir
das mit großer Dankbarkeit bestätigen würden.« –
»Meinst du das wirklich?«, fragte sie. »Ja«, sagte ich.
Viertens.
Es muss 1952 oder 1953 im Herbst gewesen sein,
als meine Großmutter in ihrem eleganten und in-
spirierenden Haus in Niederösterreich eine Schall-
platte der früh verstorbenen Maria Cebotari spielte.
Ich schaute gerade zum Fenster hinaus, auf den
Himmel über dem Piestingtal, und unvermittelt
dachte ich, dass die Wolken von der Macht des
Gesanges bewegt würden. Seither nenne ich Sän-
gerinnen und Sänger »Wolkenschieber«. Je schö-
ner und inniger und reiner die Töne, desto schnel-
ler das Gleiten der Wolken – bis hin zur Raserei.
Immer singt irgendwo jemand aus Freude, aus
Traurigkeit oder um Ängste und böse Geister zu
verjagen. Und deshalb ziehen immer irgendwo
Wolken. Mir erscheint der Einfluss der Musik auf
das Meteorologische ganz und gar plausibel, und
ich könnte ihn bei Bedarf wahrscheinlich auch
wissenschaftlich erklären.
Manche, wie Elisabeth Schwarzkopf oder Lu-
ciano Pavarotti oder Jessye Norman, fegen mit ih-
rem Genie die Himmel leer, und ihnen verdanken
wir die makellosesten Tage und jene seligmachenden
Nächte, die das Sternengetümmel aufs Unvergess-
lichste präsentieren.
Fünftens.
Sie stand für einige Sekunden im Künstlerein-
gang des Wiener Konzerthauses, gewandet mit
einer wie gehämmertes Silber wirkenden Robe
von Issey Miyake, ihr leuchtendes und altersloses
Gesicht von jener Schönheit, die afrikanischen
Göt ter statuen vorbehalten ist, den Kopf umwun-
den von einem blauen Tuareg-Turban. Dann trat
sie ins Freie.
Eine Hundertschaft wartender Enthusiasten
fing an zu applaudieren und »Bravo« zu rufen. Von
links stürmten drei japanische Mädchen auf sie zu,
warfen sich auf die Knie und versuchten den Saum
ihres Gewandes zu berühren. Sie erstarrte inmitten
des Tumultes und schloss instinktiv die Augen, bis
ihr ein Body guard mitteilte, dass er die Anbeter
zurückgedrängt habe und sie in die wartende Li-
mousine einsteigen könne. Zum Chauffeur, neben
dem ich saß, sagte sie traurig: »Fahren wir bitte
ziellos durch die Straßen. Nur fahren, immer nur
fahren; wenn’s geht, bis ans Ende der Welt.«
Dort ist sie, am 30. September 2019, mit
74 Jahren angekommen.
André Heller ist gebürtiger Wiener und
Universalkünstler. Mit Jessye Norman verband ihn
eine lange Freundschaft. 2005 drehte er mit ihr den
Film »Ich leb allein in meinem Himmel, meinem
Lieben, meinem Lied« (online verfügbar bei arte.tv
noch bis zum 4. November)
Sie fegte den
Himmel leer
NACHRUF
64 FEUILLETON 10. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 42
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