Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

14 familien leben FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40


E


lte rn fußballverrückter Jungen
und pferdevernarrter Mädchen
können sich entspannt zurück-
lehnen und diesen Text über-
springen. Es mag lästig sein, Wochen-
ende für Wochenende in müffelnden
Hallen oder auf windigen Sport- und
Reitplätzen zu verbringen, gefühlt einen
Zweitjob als Chauffeur und die Wasch-
maschine im Dauereinsatz zu haben.
Aber ein gewichtiges Problem plagt El-
tern sportbegeisterter Kinder nicht: Sie
haben keine Stubenhocker zu Hause,
die sie mühevoll zu mehr Bewegung –
möglichst an der frischen Luft – motivie-
ren müssen. Moppelig sind ihre kleinen
Fußballspieler und Reiterinnen auch nur
in den seltensten Fällen.
Mehr Bewegung für Deutschlands Kin-
der tut dringend not: Sie sind insgesamt
zu dick und zu unbeweglich. Nur jedes
fünfte Kind hierzulande ist mindestens
eine Stunde am Tag intensiv körperlich
aktiv, so wie es die Weltgesundheitsorga-
nisation empfiehlt. Eine Generation von
Couchpotatoes wächst heran.
Jens Wagenknecht ist Mediziner im
Bundesvorstand des Deutschen Hausärz-
teverbands und mit Eltern konfrontiert,
deren Kinder an Rückenschmerzen lei-
den und die deshalb fordern: Mein Kind
braucht Physiotherapie! – „Nein, das
braucht es nicht; es muss springen, lau-
fen, tanzen, Basketball spielen“, erklärt ih-
nen dann der Arzt aus dem norddeut-
schen Varel – und auch, dass es mental sti-
mulierend wirkt, regelmäßig etwas zu
tun, was einen körperlich herausfordert.
Er zitiert die Studie „Fit für Pisa“ und
bringt es auf die Kurzformel: „Sport
bringt gute Noten.“ Kopfschüttelnd be-
richtet er von Eltern, die im Klassen-
Chat ankündigen, dass Jonas nicht zum
Training kommen könne, weil er am
nächsten Tag eine Deutscharbeit schrei-
be. „Wie blöd kann man sein?! Nach dem
Training wäre der Junge viel aufnahmefä-
higer fürs Lernen.“
Kein Lehrer möchte, dass sein Unter-
richt gekürzt wird. Aber bei einem Fach
wie Sport geht es ums Ganze. Um den
Leib, um die Seele und den Geist.
„Sportunterricht hat einen Bildungsauf-
trag. Das betont die Kultusministerkonfe-
renz. Trotzdem wird der Unterricht zu
oft gekürzt. Leider gehen die Eltern da-
für nicht auf die Barrikaden“, bedauert
Michael Fahlenbock, Sportwissenschaft-
ler an der Universität Wuppertal. Dem
Präsidenten des Deutschen Sportlehrer-
verbands ist vor allem das soziale Mitein-
ander beim Sport wichtig. „Dabei wer-
den so viele Kompetenzen trainiert, wird
geübt, mit Begeisterung, Angst, Konflik-
te, umzugehen, es geht ums Mitfreuen,
Trauern, ums Hinfallen und Aufstehen.
Das dürfen wir den Kindern nicht neh-
men.“ Personalmangel lasse sich durch
engagierte Sportstudenten oder Eltern
abfedern oder auffangen, sekundiert Arzt
Wagenknecht.

Mit solchen Thesen laufen sie bei Men-
schen wie Willi Haag offene Türen ein.
Der drahtige Aachener hat 38 Jahre lang
an einem Gymnasium Sport unterrichtet.
Er ist Sportler durch und durch, wurde in
der Kantine der Kölner Sporthochschule
für den Fußball entdeckt, spielte für Bay-
er Leverkusen und Alemannia Aachen als
Außenverteidiger und trainierte später
zehn Jahre die Aachener Amateure. Inzwi-
schen ist er pensioniert und auf Golf um-
gestiegen. Die 75 Jahre sieht ihm nie-
mand an. Haag kann sich ein Leben ohne
Sport nicht vorstellen, aber wohl, dass

das anderen anders geht. Im Unterricht
hatte er natürlich immer wieder Schüler,
die mäßig begabt waren. Ihnen wäre ge-
holfen, wenn sie nicht nur in den weni-
gen Sportstunden, sondern ebenso zu
Hause motiviert würden. „Lassen Sie die
Kinder, die sich mit Sport schwertun,
möglichst viel ausprobieren. Es geht
nichts über einen Versuch“, sagt Willi
Haag den Schlüsselsatz. Das kann durch-
aus Zeit, Geld und Phantasie kosten.
Nicht wenige Eltern kennen das: Erst
entflammt das Kind für Karate, dann will
es Hockey spielen, der neue Kumpel ist

im Basketballverein, nun also dahin. Was
sich nach einer ruhelosen, durchaus teu-
ren Vereins-Odyssee anhört, dem ge-
winnt Pädagoge Haag einiges ab.
„Manchmal dauert es einfach, bis ein
Kind den Sport für sich entdeckt hat, der
ihm Spaß macht.“
Er macht niederschwellige Vorschlä-
ge: Seilspringen, Staffelläufe, Musik an
und lostanzen. Enkelin Luisa liebt nicht
nur Klettern und Tanzen, sondern hüpft
bei schlechtem Wetter über Hürden
durch den Hausflur. „Die drei einfachen
Hindernisse kosten nicht einmal zehn
Euro“, sagt er.
Um zu toben, braucht es nur einen
Ball und genügend Mitspieler. Werfen,
ausweichen, fangen, all das vereint Völ-
kerball. „Das haben die jüngeren Schü-
ler gerne gespielt, da sind alle in Bewe-
gung, es geht wirklich ums Team. Schü-
ler, die nicht so sportlich sind, werden
oft spät getroffen und haben so ein Er-
folgserlebnis. Sogar die Abiturienten
konnten dem Spiel Freude abgewinnen,
mit denen ließ ich die Regeln ändern,
zum Beispiel, sie mit der schwachen
Hand spielen zu lassen.“
Die so beliebten Trampoline, die ge-
fühlt jeden dritten Familiengarten zie-
ren, sieht er hingegen kritisch. „Für gut
trainierte Kinder ist ein Trampolin sinn-
voll, für weniger trainierte ist die Verlet-
zungsgefahr zu hoch.“ Schade, dass
Tischtennisplatten nicht mehr ganz so
gefragt seien.
Denn eins ist klar. Während sich diszi-
plinierte Erwachsene ihrer Gesundheit

und Figur wegen zur morgendlichen Jog-
gingrunde aufraffen, bringen Kinder, de-
nen eine Sportart keine Freude bereitet,
diese Disziplin nicht auf. Dauerhaft
schon einmal gar nicht. Ein Kind, das
Tennisspielen nichts abgewinnen kann,
Woche für Woche zum Training zu drän-
gen, tut dem Familienfrieden nicht gut.
Spätestens wenn es 18 Jahre alt ist, wird
der Tennisschläger in die Ecke fliegen.
Manchmal kommt von unerwarteter Sei-
te Hilfe, etwa durch Gruppendruck –
wenn alle Freunde auf dem Pausenhof ki-
cken, dann spielt auch Tim Fußball, ob-
wohl er weder begabt noch begeistert ist.
Sportpädagoge Fahlenbock bringt in
diesem Zusammenhang die Angebote der
Ganztagsbetreuung ins Spiel. „Da lassen
sich viele, medial nicht so präsente Sport-
arten ausprobieren. Mädchen begeistern
sich oft für Tanz-AGs. Oder denken Sie
zum Beispiel an Rudern. Was meinen
Sie, wie viele Leute aus dem Deutsch-
land-Achter das Rudern als Schulsport
kennengelernt haben?“ Hinzu komme
noch ein Naturerlebnis; Wasser übt auf
Kinder ohnehin eine Faszination aus.
„Verhalten wird kopiert“, betont Arzt
Jens Wagenknecht. Die Wahrheit, die mit-
unter unbequem ist, lautet: Kinder sau-
gen den Lebensstil ihrer Eltern mit der
Muttermilch auf. Kokettiert der Vater mit
„Sport ist Mord“-Sprüchen und nimmt
die Mutter das Auto für die fünf Minuten
zum Bäcker, wie soll ein Kind dann Freu-
de an Bewegung empfinden? Familien,
die sich nach einem aufreibenden Arbeits-
tag hingebungsvoll dem Netflixen wid-
men, womöglich ausgerüstet mit XXL-

Chips-Tüten, tun sich in jeder Beziehung
schwerer damit, einen gesunden Lebens-
stil vorzuleben. Wenn sie dann noch de-
mütigende Erinnerungen an Unterrichts-
drill haben, wenn sie die Letzten waren,
die in die Mannschaft gewählt wurden,
und die Ersten, die vom Barren ge-
plumpst sind, überträgt sich das.
Und was ist mit dem Fitnessstudio?
Ein Vater, der mit den Kindern eine Rad-
tour macht, wäre Hausarzt Wagenknecht
deutlich lieber. „Radfahren kann man ei-
nem Bewegungsmuffel anpreisen, das löst
auch bei dicken Kindern keine Schmer-
zen aus. Es gibt kein negatives Feedback,
und man hat ein positives Nebenerlebnis,
egal, ob man durch die Stadt oder über
Land radelt.“ Kritisch sagt er: „An Ma-
schinen bewegen würde ich meinem
Sohn verbieten. Es macht einfach keinen
Spaß, ein Stück Metall rauf- und runter-
zubewegen, wenn ich einen Schläger in
die Hand nehmen und einen anderen
über den Platz jagen kann.“
Willi Haag gerät ins Schwärmen,
wenn er an sein Studium denkt und dar-
an, dass sich ab und an Olympiasieger die
Ehre gaben. „So ein Vorbild wirkt extrem
motivierend, erspart viele Erklärungen
und ist respektfördernd.“ Ein Argument,
das laut Haag dafür spricht, Sportverei-
nen eine Chance zu geben. „Es gibt heu-
te überall so viele Vereine, wo Begeiste-
rung spürbar ist – einfach hingehen und
ausprobieren.“ Voraussetzung ist aller-
dings, dass man einen Platz bekommt,
denn gerade in Großstädten sind die
Sportvereine oft heillos überlaufen. Wa-
genknecht, Vater von vier Kindern, hat
bei aller Lockerheit einen elterlichen
Wunsch durchgesetzt. Alle seine Kinder
betreiben einen Mannschaftssport.
„Dazu haben wir sie gedrängt. Auch die
Anerkennung der Eltern kann Motivati-
on sein.“ Denn natürlich daddelt auch
sein Nachwuchs. Bei Konsolenspielen
oder Online-Spielen zu versacken, das
hat Suchtpotential.
Michael Fahlenbock kann verstehen,
dass das eine Faszination ausübt. Gut fin-
det er das natürlich nicht. Was rät er?
„Heranwachsenden herausfordernde Be-
wegungsräume eröffnen, wo sie sich aus-
probieren können: Klettern, Boldern,
Scooterfahren, Inlineskaten.“ Einen
Kick, endlich loszulegen, könne auch ein
Ausflug in Kletterhallen bringen, findet
Willi Haag. „Nebenbei lernen Kinder,
sich hundertprozentig aufeinander zu ver-
lassen, wenn sie ihren Partner sichern.
Das tun besonders Mädchen hervorra-
gend, weil sie das penibel machen.“
Nicht nur Jens Wagenknecht kritisiert,
dass Toben an der frischen Luft von El-
tern aus Sorge vor Verletzungen ge-
bremst werde, sei es beim Spielen im
Park oder im Hinterhof. „Da wird viel
mit Angst gearbeitet, das hemmt Verhal-
ten, unterdrückt Phantasie. Ich finde das
schlimm, denn Kinder stecken ohnehin
in engen schulischen Strukturen.“ Angst
war noch nie ein guter Ratgeber. Schon
gar nicht, wenn es darum geht, auszutes-
ten, wohin die kleinen Beine einen tragen
können oder wohin eben nicht.
Dass das alles kein Selbstläufer ist, hat
Haag bei einem viel zu drallen Fünftkläss-
ler erlebt. „Der Junge war sympathisch,
immer gut gelaunt, aber einfach zu dick.“
Haag hatte sich allerlei zurechtgelegt, um
mit der Mutter über gesunde Ernährung
zu sprechen. Als diese dann zur Sprech-
stunde kam, war Haag sprachlos. Die
Frau hatte eine Adipositas, brauchte drei
Stühle. „Ich hätte diese freundliche Frau
beleidigt und war mit meinem Latein ein-
fach am Ende.“

Runter von der Couch, Potato!


Bewegung in den Alltag der Kinder
einbauen, aber bloß nicht zerreden:
Staubsaugen, Blätter zusammenre-
chen, ein Kilo Mehl besorgen, zu
Fuß oder mit dem Rad, auch das
hält fit. Ganz ohne Stoppuhr. Das
Elterntaxi bleibt stehen.
Wetten, dass ich als Erster an der
Weggabelung bin? Wer zuerst auf
dem Hügel steht, hat gewonnen.
Kinder lieben es, sich mit anderen
zu messen, wenn sie nicht von vorne-
herein auf verlorenem Posten und
aus der Puste sind.
Gemeinsam losziehen, zusammen
ins Schwimmbad oder in den Kletter-
wald mit dem Fahrrad inklusive schö-
ner Zwischenstopps aufbrechen. Es
gibt Erhebenderes, als auf der lächer-

lich-labbrigen Sprossenleiter zwi-
schen Bäumen zu hangeln, aber es
gibt nichts Besseres fürs Selbstbe-
wusstsein einer Neunjährigen, wenn
die Mutter die Notausstieg-Stricklei-
ter wählt und die Tochter behende
weiterkraxelt und sich in Richtung
Wipfel verabschiedet.
Sportarten ausprobieren, Schnupper-
stunden vereinbaren, aufs Kind hö-
ren, wenn ihm der autoritäre Kom-
mandoton des Vereins nicht passt;
das kann beim Turnverein im Nach-
barort oder anderen Stadtteil schon
ganz anders laufen. Und vor allem:
die Suche nach der passenden Sport-
art nicht vorzeitig abbrechen. Aufge-
ben gilt nicht. Denn vor dem Spiel
ist nach dem Spiel.

Mein Kind ist ein


Sportmuffel, was


kann ich tun?


In erster Linie


mit gutem Vorbild


voranlaufen.


Von Ursula Kals


BEWEGUNGSMUFFEL MOTIVIEREN


Foto dpa
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