Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 06.10.2019

(Axel Boer) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 6. OKTOBER 2019, NR. 40 leib&seele 15


H


atten Sie in diesem Sommer bei
der Hitze manchmal dicke,
schwere Füße? Bleibt beim Drü-
cken eine Delle? Schnürt Ihr Socken-
bündchen ein? Juckt die Haut an den Un-
terschenkeln, oder erkennen Sie dort
ockerfarbene Punkte? Entdecken Sie Be-
senreiser an den Beinen?
Diese Hauterscheinungen haben häu-
fig etwas mit unseren Venen zu tun. Die
Venen sind die Rücktransportwege des
Blutgefäßsystems. Über sie gelangt das
sauerstoffarme Blut aus allen Organen
und den entferntesten Ecken unseres
Körpers wieder zurück zu Herz und Lun-
ge in die Wiederaufbereitung.
An den Beinen haben wir zwei große
Venensysteme: die oberflächlichen und
die tiefen Beinvenen. Die oberflächli-
chen können wir mit bloßem Auge se-
hen, es sind jene blauen Schläuche unter
der Haut, die oft an Gelenken und auf
harten Muskeln deutlich hervorsprin-
gen. Sie haben zwei Haupt- und viele Ne-
benschläuche, die sich zu immer kleine-
ren Venen verzweigen, bis zu den soge-
nannten Haargefäßen oder Kapillaren.
An vielen Stellen gibt es Kurzschlussver-
bindungen zu den tiefen Beinvenen. Die
sind aber nur mit radiologischen Metho-
den wie Ultraschall einsehbar.
Die Beinvenen müssen ihr Leben lang
gegen die Erdanziehung arbeiten, um das

Blut von unten nach oben zu transportie-
ren. Drei Mechanismen helfen den Ve-
nen dabei: Pumpen, Sog und Schleusen.
Wadenmuskeln und Schlagaderpulse
pumpen das Venenblut gen Herzen. Es
ist also sehr wichtig, eine stramme Wa-
denmuskulatur zu haben, sie dient als
Kompressions- oder Stützstrumpf von in-
nen. Zudem saugen das Zwerchfell bei
der Atmung und der rechte Herz-Vorhof
das Blut über Unterdruck nach oben zu
sich hinauf. In den Venenschläuchen sind
Venenklappen als Schleusentore befes-
tigt. Wenn nun Beinvenen genetisch be-
dingt oder in einer Schwangerschaft lang-
sam ausleiern, die Venenwände auseinan-
derdriften, können die Venenklappen
nicht mehr vollständig schließen. Das
Blut fällt ständig nach unten zurück und
versackt. Ein Rücktransport erfolgt erst,
wenn man sich in die Horizontale begibt
oder die Beine hochlegt. Tagsüber, wenn

man eher sitzt oder steht, kommt es so-
mit zu einer Überfüllung der Venen. Da-
durch werden sie weiter auseinanderge-
dehnt und im Laufe der Jahre langsam
auch für die Außenwelt sichtbar: als
Krampfadern, die sich blau und dick un-
ter der Haut entlangschlängeln.
Krampfadern machen entgegen der
weitverbreiteten Annahme keine Krämp-
fe, wohl aber schwere Beine. Denn
durch den Blutstau wird immer auch ein
wenig Gewebsflüssigkeit in die Umge-
bung gepresst. Krampfadern verursa-
chen lange keine fühlbaren Beschwer-
den. Doch sie sind heimtückisch. Das an-
gestaute Gewebewasser führt zu einem
längeren Reiseweg für Sauerstoff, die
Vernarbungszellen im Gewebe werden
stimuliert, das Gewebe ist versteckt ent-
zündet und altert. Unterhalb der ausgelei-
erten Venen geben die noch intakten Ge-
fäßabschnitte wegen des dauernden

Rückstaus ebenfalls nach. Gut zu erken-
nen am Fuß unter dem Innenknöchel, be-
sonders bei Männern im besten Alter,
zeichnet sich kranzartig die Corona phle-
bectatica ab, die „Krone erweiterter Ve-
nen“. Wenn sich Fuß und Unterschenkel
langsam verfärben und Blutaustritte für
gelb-braune Flecken und Punkte sorgen,
dann spricht der Dermatologe franzö-
sisch-elegant von Purpura jaune d’ocre.
Also punktförmige Einblutungen in
Gelb und Ocker. Manchmal wird das Ge-
webe aber auch dünn und weiß wie eine
Narbe, was hier aber ganz ohne sichtba-
re Verletzung schleichend von innen her-
aus entsteht, dann lautet die Diagnose
Atrophie blanche. Typisch sind auch ein
juckendes Stauungsekzem, manchmal
eine Venenentzündung, eine Thrombose
oder ein Geschwür (offenes Bein).

Möglicherweise haben Sie bei sich bis-
her aber „nur“ Besenreiser bemerkt?
Auch wenn ich Sie nun vielleicht einer Il-
lusion beraube: Auch das sind Krampf-
adern, allerdings solche der kleinsten
Beinvenenverzweigungen. Sie gelten als
kosmetisch störend, aber nicht als krank-
haft. Dennoch sind sie oft eine wichtige
Spur: Sie können darauf hinweisen, dass
größere, vor dem bloßen Auge noch ver-
borgene Krampfadern darunterliegen.
Viele möchten sich ihre Besenreiser
entfernen lassen. Wie der Name schon
sagt, erinnern die feinen Gebilde an Rei-
sigbesen aus dünnen Zweigen, wie man
sie früher noch benutzt hat. Entfernt wer-
den sie durch Einspritzen von Ver-
ödungsmittel oder mit Hilfe eines spe-
ziellen Lasers. Bevor Sie das machen las-
sen, sollten Sie unbedingt die großen

Beinvenen, die Seitenäste und die Kurz-
schlussverbindungen zwischen oberfläch-
lichem und tiefem Beinvenensystem
gründlich untersuchen lassen. Sonst ge-
lingt die Besenreisertherapie möglicher-
weise nicht, weil große Krampfadern die
kleinen Besenreiser wieder aufdrücken
und der ganze Aufwand umsonst war.
Vorbeugen kann man mit viel Bewe-
gung, mit Kompressionsstrümpfen in
der Schwangerschaft, bei langen Flügen
und beim Stehen. Die heutigen Kompres-
sionsstrümpfe haben nichts mehr mit
den alten Gummistrümpfen von früher
zu tun. Sie sind aus atmungsaktivem
Hightech-Material und in vielen schi-
cken Farben erhältlich. Für die Dame
gibt es sie auch mit Spitzenstrumpfband.
Mit Operation, Schaumverödung oder
Laserfasern wird man die Plagegeister
schnell los.
Und hier meine Bitte: Sollten Sie rät-
selhafte Haut- oder Nagelerscheinun-
gen, hartnäckige Erkrankungen an Ih-
ren Füßen oder Unterschenkeln haben


  • dazu gehören juckende Rötungen,
    Nagel- und Fußpilz, Dornwarzen,
    Schuppenflechte und Wundheilungsstö-
    rungen –, ist es immer richtig, nach ver-
    steckten und offensichtlichen Krampf-
    adern zu fahnden, auch nach einzelnen
    Seitenästen, und diese behandeln zu las-
    sen. Ausgeleierte Venen werden niemals
    von alleine besser.


Frau Professorin Geiger, Sie haben
gemeinsam mit dem Bundesverband
der Deutschen Chirurgen eine Studie
durchgeführt, die zeigt: Immer mehr
Chirurgen arbeiten auch dann noch
in der Klinik, wenn sie das Renten-
alter schon erreicht haben. Was für
eine Motivation steckt dahinter?
Die Hauptmotivation dieser Ärzte ist, et-
was für ihren Selbstwert zu tun, Wert-
schätzung zu erhalten, ebenso wie das
Gefühl, noch gebraucht zu werden.
Aber es ist auch der Wunsch, Erfahrung
und Wissen an die jungen Ärzte weiter-
zugeben.

Bis auf die Motivation, Wissen weiter-
zugeben, sind das eher egoistische
Gründe der älteren Ärzte. Tut das
den jüngeren und den Patienten gut?
Von den Kliniken und auch von jünge-
ren Kollegen wird schon anerkannt,
dass ältere Chirurgen gerade im Bereich
des Teachings wichtige Leistungsträger
sein können und dass es sinnvoll sein
kann, sie in der Wissensvermittlung ein-
zusetzen.

Und für den Patienten? Gerade in
der Chirurgie spielen motorische Fä-
higkeiten, präzises Sehen und neue
Techniken entscheidende Rollen. Es
ist kein Geheimnis, dass im Alter ein-
fach gewisse Fähigkeiten nachlassen
können.
Beim Berufsverband der Deutschen Chi-
rurgen ist das Thema Self -Assessment,
also die Selbsteinschätzung der eigenen
Fähigkeiten, ein diskutiertes Thema
und auch eine klare Zielsetzung. Des-
halb haben wir in der Studie auch ge-
fragt, ob die Mediziner dazu bereit sind.
Und die Mehrheit der 1420 Befragten

wäre bereit, sich ab 60 in Bezug auf die
chirurgischen Fähigkeiten überprüfen
zu lassen.
Wird eine solche Überprüfung im Sin-
ne der Patientensicherheit auch
schon aktiv in Kliniken umgesetzt?
Mir ist ein solches Vorgehen aus keiner
Klinik bekannt. Bisher war das auch
noch nicht das Ziel. Vielmehr soll erst
einmal dem Thema Self-Assessment
mehr Aufmerksamkeit geschenkt und
dazu eine Haltung entwickelt werden
Die Statistik zeigt aber: 2018 gab es
in Deutschland 37853 niedergelassene
oder stationär tätige Chirurgen. 1072
von ihnen waren unter 34 Jahre alt
und 2522 über 65. Das sind einige. Als
Patientin wäre es mir schon lieb,
wenn da eine Kontrolle der Fähigkei-
ten stattfinden würde.
Absolut. Die Kliniken sind sich dieser
Verantwortung auch bewusst. Es wird
meinem Eindruck nach schon sehr ge-
nau geschaut: Wo sind Mitarbeiter im
Rentenalter sinnvoll einzusetzen, wo
können sie bereichernd wirken? Sehr
oft ist das in der Lehre oder dem
Coaching. Aber es ist auch einfach so,
dass man es sich in Zeiten von Fach-
kräftemangel an manchen Stellen gar
nicht mehr erlauben kann, Leistungs-
träger über 65 Jahre nicht mehr zu be-
schäftigen.
Also sind diese sogenannten „Silver
Worker“ in der Medizin auch ein Re-
sultat des Ärztemangels in unserem
Land?
Ob Silver Worker eine Folge des Nach-
wuchsmangels sind, kann ich so nicht
sagen. Der Nachwuchsmangel begüns-
tigt auf jeden Fall die Nachfrage nach
Silver Workern.

Spricht man mit jungen Ärzten, be-
schweren sie sich häufig über den
Umgangston von Vorgesetzten, der in
einem solch hierarchischen System,
wie es ein Krankenhaus noch immer
darstellt, besonders auffällt. Sorgen
mehr ältere Ärzte so dafür, dass sich
daran nichts ändert?
Es gibt sehr offene Silver Worker, die
vorbildlich mit diesen hierarchischen
Strukturen umgehen. Aber es gibt, das
stimmt, auch noch viele, die in der alten
Welt verhaftet sind, was zu Konflikten
führt. So hat die Studie ergeben, dass
nur 30 Prozent der älteren Generation
das Gefühl haben, in der Klinik herr-
sche ein autoritärer Ton. Von den jünge-
ren Generationen geben hingegen 52
Prozent an, dass sie Probleme mit dem
autoritären Umgangston haben. Aber es
gibt noch ein anderes Problem.

Welches?
Ein weiteres Problem ist, dass Kliniken
oft hinterherhinken, wenn es darum
geht, neue Kommunikationsformen aus-
zuprobieren – seien es Mitarbeiter-Apps
oder andere interne Plattformen. Erhält
so etwas mit der Zeit mehr Einzug,
kann ich mir schon vorstellen, dass das
die Kommunikationsprobleme zwischen
Jung und Alt in der Klinik verschärft.
Das Thema Kommunikation ist ja
überhaupt ein Problem im Kranken-
haus. Immer wieder passieren Be-
handlungsfehler, weil zwischen dem
Personal nicht richtig kommuniziert
wird. Warum bekommt man dieses
Problem nicht in den Griff?
Es gibt im Gesundheitswesen einfach zu
viele alte und überkommene Kommuni-
kationswege und Kommunikationsre-
geln. Gerade im Bereich der digitalen

Kommunikation liegt man weit hinter
dem zurück, was möglich wäre. Aber
auch das Thema wertschätzende Kom-
munikation ist und bleibt ein Problem.

Immer mehr Frauen gehen in die Me-
dizin. Frauen und Männer kommuni-
zieren anders, auch das ist kein Ge-
heimnis. Können Frauen etwas zur
besseren Kommunikation im Kran-
kenhaus beitragen?
Es gibt Studien, etwa die von Frans de
Waal, die zeigen, dass OP-Teams, die
aus Frauen und Männern bestehen, er-
folgreicher sind und dass sich dort nach-
weislich das Arbeitsklima und die Zu-
sammenarbeit ändern. Daraus kann
man schon den Schluss ziehen, dass sich
das Kommunikationsverhalten ändert,
wenn Frauen dabei sind.
Anders als in Wirtschaftsunterneh-
men werden in Kliniken nicht diejeni-
gen zu Chefs, die gut führen oder in
Personalfragen ausgebildet sind, son-
dern diejenigen, die eine besondere
Expertise in dem jeweiligen Fach auf-
weisen. Ist das nicht auch ein Pro-
blem?
Bisher ist es tatsächlich so, dass man
meist aus fachlichen Gründen Chefarzt
wird. Die Soft Skills spielen eine unter-
geordnete Rolle, ebenso der Wille, je-
manden gezielt für Personalführung aus-
zubilden. Es dominiert klar das medizi-
nisch Fachliche; andere Kriterien bei
der Förderung von Karrieren werden
kaum berücksichtigt in der Medizin.

Sollte man schon im Medizinstudium
beginnen, Ärzte auch in Führungsauf-
gaben auszubilden?
In der Medizin werden in vielen Berei-
chen Führungsqualitäten verlangt; von

daher sollte das unbedingt im Medizin-
studium berücksichtigt werden, ebenso
wie die Ausbildung von sozialen und di-
gitalen Kompetenzen. Man könnte sich
auch vorstellen, dass es ähnlich wie in
Unternehmen auch in Kliniken Füh-
rungspersonal mit unterschiedlichen
Aufgaben gibt: Die einen sind mehr
fürs Fachliche zuständig, die anderen
für Personalführung.
Geht es um Veränderungen, heißt
es häufig von Medizinern: Das
Gesundheitswesen kann man nicht
mit Unternehmen vergleichen.
Außerdem ist im System kein Geld
vorhanden.
Mit dem Argument „Wir sind hier aber
im Krankenhaus“ kann man nicht alles
wegdiskutieren. Das reicht mir nicht.
Da ist schon Wille und Offenheit ge-
fragt. Wenn man Veränderung will, ist
das auch im Krankenhaus möglich. Gu-
tes Führungsverhalten kostet nicht unbe-
dingt mehr Geld. Auf lange Sicht wird
das aber der Markt regeln: Wenn Chef-
ärzte und Kliniken sich nicht auf die Di-
gitalisierung und eine wertschätzende
Kommunikation besinnen, bekommen
sie kein Personal mehr.
Die Fragen stellte Lucia Schmidt.

In dieser Woche
geht es beim
Gesundheitspod-
cast noch einmal
um dieHarninkontinenz.
Diesmal gibt eine Fachärztin
Rat und Tipps. Sie finden die-
se unter: blogs.faz.net/podcasts

SAGEN SIE MAL, FRAU DOKTOR VON YAEL ADLER


„LEIB & SEELE“
IM PODCAST

Wie gefährlich


sind Krampfadern?


„Ältere Chirurgen wollen noch gebraucht werden“


Obwohl sie längst im


Rentenalter sind,


operieren viele


der Ärzte weiter.


Was bedeutet das für


die Patienten – und


für Hierarchien


und Kommunikation


im Krankenhaus?


HABEN SIE AUCH EINE FRAGE?
Haben Sie auch Fragen, die Sie
schon immer mal einem Arzt stel-
len wollten, ohne dass Sie sich ei-
nen Termin in der Sprechstunde ge-
ben lassen? Dann fragen Sie doch
einfach Dr. Yael Adler. Sie ist Ärz-
tin für Haut- und Geschlechtskrank-
heiten, Venenheilkunde und Ernäh-
rungsmedizin und Autorin unter an-
derem des Bestsellers „Haut nah. Al-

les über unser größtes Organ“. Yael
Adler beantwortet an dieser Stelle
Ihre Fragen. Für ihre Publikationen
recherchiert sie aktuell zu diversen
medizinischen Themen. In der
nächsten Kolumne geht es um das
Thema Body Shaming. Bitte sen-
den Sie Ihre Frage bis zum
13.10.2019 an: [email protected].
Ausgewählte Fragen drucken wir in
der nächsten Kolumne ab.

Wer hat hier das Sagen? Gerade wenn es schnell gehen muss wie im OP-Saal, ist eine klare Kommunikation vonnöten. Und die kann zwischen alten und jungen Ärzten manchmal schwierig sein. Foto s Getty Images/ haraldhempel

Professorin Margit Geiger
arbeitet an der Hochschule
Bochum im Fachbereich
Wirtschaft und ist Mitglied
des Initiativkreises neue
Personalarbeit in Kranken-
häusern.
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