Flüchtlingspolitik
Seehofer hofft auf Solidarität
Bei seinen EU-Kollegen will
der Innenminister für die
Verteilung von Flüchtlingen
und eine Erneuerung des
EU-Türkei-Pakts werben.
O. Demircan, T. Hoppe, F. Specht
Istanbul, Brüssel, Berlin
B
undeskanzlerin Angela Mer-
kel hat es gesagt, ebenso In-
nenminister Horst Seehofer:
Das, was sich 2015 auf dem Höhe-
punkt der Flüchtlingskrise zugetra-
gen hat, dürfe sich nicht wiederho-
len. Unkontrolliert kamen Hundert-
tausende Schutzsuchende über die
offenen Grenzen, die Behörden wa-
ren überfordert, Kritiker sahen einen
Kontrollverlust, die Große Koalition
kam an den Rand des Zusammen-
bruchs.
Insofern lässt es aufhorchen, wenn
der Innenminister nun vor einer Wie-
derholung solcher Zustände warnt:
Ohne gemeinsame europäische Kraft-
anstrengung und ohne größere Un-
terstützung für die Länder an der EU-
Außengrenze „werden wir eine
Flüchtlingswelle wie 2015 erleben –
vielleicht sogar noch eine größere als
vor vier Jahren“, sagte Seehofer der
„Bild am Sonntag“. In den vergange-
nen Tagen hatte der CSU-Politiker
deshalb gemeinsam mit EU-Flücht-
lingskommissar Dimitris Avramopou-
los in Athen und Ankara Gespräche
mit dem griechischen Bürgerschutz-
minister Michalis Chrysochoidis und
seinem türkischen Amtskollegen Sü-
leiman Soylu geführt. Denn die Zahl
der Flüchtlinge, die über die Ägäis
aus der Türkei nach Griechenland
kommen, steigt derzeit deutlich.
Beim Treffen mit seinen EU-Kolle-
gen an diesem Dienstag in Luxem-
burg wird der Bundesinnenminister
zudem versuchen, weitere Länder
für einen provisorischen Verteil -
mechanismus für Bootsflüchtlinge
auf der zentralen Mittelmeerroute zu
gewinnen. Vor zwei Wochen hatte er
mit Italien, Malta und Frankreich ei-
nen freiwilligen Pakt geschlossen, der
das schnelle Anlanden der Rettungs-
schiffe und die Verteilung der Asylsu-
chenden erlauben soll. Für die Zusa-
ge, dass Deutschland bereit sei, jeden
vierten auf dem Mittelmeer Gerette-
ten aufzunehmen, hatte Seehofer Kri-
tik von der AfD, von der FDP und
auch aus der Union einstecken müs-
sen.
Überzeugungsarbeit nötig
Er hoffe, dass sich etwa ein Dutzend
EU-Staaten an dem Arrangement be-
teiligen werde, sagte Seehofer im
Vorfeld des Treffens in Luxemburg.
Dafür wird er aber noch viel Über-
zeugungsarbeit leisten müssen. Auf
konkrete Zusagen könne man höchs-
tens bei einer Handvoll Ländern hof-
fen, heißt es in Brüssel, darunter Ir-
land, Luxemburg und Litauen. Ande-
re seien wie Portugal zwar
aufgeschlossen, bräuchten aber mehr
Zeit. Mehrere Staaten haben bereits
abgewinkt, darunter Polen, Ungarn,
Österreich und die Niederlande. Sie
warnen, die Verteilung der Asylsu-
chenden könne zum Pull-Faktor wer-
den – also weitere Flüchtlinge auf
den Seeweg nach Europa locken.
Daneben werden die Innenminis-
ter beim Mittagessen auch über wei-
tere Hilfen für die Türkei sprechen.
Die EU muss den Andrang auf die
griechischen Inseln wieder in den
Griff bekommen – die Ankunftszah-
len sind in den vergangenen Wochen
stark gestiegen und die Zustände in
den griechischen Lagern katastro-
phal. Dafür aber braucht sie die Tür-
kei. Seehofer drängt daher gemein-
sam mit Merkel darauf, das EU-
Flüchtlingsabkommen mit Ankara
aus dem Jahr 2016 zu erneuern.
In dem Pakt hatte die EU der Tür-
kei zugesagt, in zwei Tranchen insge-
samt sechs Milliarden Euro an finan-
zieller Hilfe zur Verfügung zu stellen,
um die Lebensbedingungen der
mehr als 3,5 Millionen Flüchtlinge im
Land zu verbessern. Die Gelder sind
inzwischen fest verplant, wenn auch
erst gut zur Hälfte ausgezahlt. Die
Türkei verpflichtete sich im Gegen-
zug dazu, Migranten, die es über die
Ägäis illegal nach Griechenland
schaffen, zurückzunehmen. Dafür
sollen dann anerkannte Flüchtlinge
aus der Türkei in die EU gebracht
werden.
Die EU-Staaten diskutieren nun im
frühen Stadium darüber, eine dritte
Finanzierungsrunde aufzusetzen.
Nicht nur Deutschland, auch andere
Mitgliedstaaten halten das für ange-
bracht: „Wir sollten die Türkei weiter
unterstützen“, sagt ein hochrangiger
EU-Diplomat, schließlich sei das
Land weiter erheblich belastet. Aller-
dings solle die EU in der dritten
Tranche weniger geben als die drei
Milliarden Euro in den ersten beiden.
Schon die Finanzierung der zweiten
Tranche hatte zu Gezerre zwischen
den Mitgliedstaaten und der EU-Kom-
mission über die Aufteilung geführt.
Kommentar Seite 14
Innenminister Seeho-
fer (l.), Soylu: Mehr
Hilfe für die Türkei.
dpa
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Wirtschaft & Politik
MONTAG, 7. OKTOBER 2019, NR. 192
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