Die Welt - 05.10.2019

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05.10.19 Samstag, 5. Oktober 2019DWBE-HP


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DWBE-HP

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26 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG, 5. OKTOBER 2019


Alles, was im New Yorker Verlag Farrar, Straus & Giroux erscheint, ist erst mal inte-
ressant, wenn Zadie Smith einen Blurb schreibt noch mehr, zumal sie im Fall der
Graphic Novel von Nick Drnaso meint, es sei „das beste Buch über alle Genres hin-
weg“, das sie über „unsere momentane Welt“ gelesen habe. Erzählt wird die Ge-
schichte eines Verschwindens, auch wenn das Cover in matt-tomatigem Rot nichts
davon zu verraten scheint. Innen viele ruhige Linien und sanfte amerikanische La-
konie. MARA DELIUS

Nick Drnaso: Sabrina.Aus dem Englischen von Karen Köhler und Daniel Beskos.
Blumenbar, 208 S., 26 €.

JUDGE A BOOK BY ITS COVER


Vor dem Mittagessen bei Luc verbrachte
ich zwei recht langweilige Tage. Was hat-
te ich im Grunde auch zu tun? Ein wenig
fürs Examen arbeiten, das mich nicht
sehr weit bringen würde, in der Sonne he-
rumliegen, mich von Bertrand – ohne viel
Gegenliebe – lieben lassen. Übrigens hat-
te ich ihn gern. Vertrauen, Zärtlichkeit,
Achtung waren meiner Meinung nach
nicht zu verschmähen, und ich dachte
wenig an Leidenschaft. Dieser Mangel an
wirklichen Gefühlen erschien mir als die
normalste Lebensform.

DAS RÄTSEL


In dieser Woche suchen wir einen franzö-
sischen Klassiker der Fünfzigerjahre. Wie
heißt er? Und wer hat ihn verfasst? Lö-
sungsvorschläge bitte an die Redaktions-
adresse oder an [email protected].
Zuletzt suchten wir Jack Londons
„Wolfsblut“. Gewonnen hat Jörg-Peter
Schmidt aus Staufenberg.

Ist zwar noch ein wenig hin, aber in die-
sem Fall kann man mit dem Feiern gar
nicht früh genug anfangen: Am 15. Okto-
berwird der 175. Geburtstagdes Philoso-
phen, Philologen und wohl berühmtesten
deutschen Schnurrbarts Friedrich Nietz-
sche gefeiert. Um das Jubiläum gebüh-
rend zu begehen, könnte man Diverses
tun, allem voran zum Beispiel lesen, etwa
Heinrich Meiers „Nietzsches Vermächt-
nis. Ecce homo und der Antichrist. Zwei
Bücher über Natur und Politik“ (C.H.
Beck). Wem das nicht reicht, der sollte
sich noch einmal das komplette Werk ge-
ben, von den „Unzeitgemäßen Betrach-
tungen“ über „Also sprach Zarathustra“,
„Die fröhliche Wissenschaft“, „Zur Genea-
logie der Moral“ bis zu „Der Antichrist“
und „Ecce homo“, dazu die Gedichte und
Musikstücke, vielleicht auch noch Rüdiger
Safranskis Nietzsche-Biografie (Hanser).

DIE EMPFEHLUNG


Ach ja, bald ist Buchmesse und schon ist wieder allerorten aus dem Betrieb nostalgisches Gewimmer zu hören, wie sehr doch die gute alte Zeit der Messe-Exzesse fehle: ausufernde Partys,
wildeste Weißweingelage, sonorste Verlegergrößen in guten Anzügen, schönste Jungautorinnen in Minikleidern, bizarrste Paarungen auf den plüschigen Sofas des Frankfurter Hofs nachts
um halb vier, ach ja, früher war alles besser. Glauben wir nicht so ganz und freuen uns auf Frankfurt.

MESSE-EXZESS


UNWORT DER WOCHE


}


PROLEGOMENA


*

*PROLEGOMENA: „EINLEITUNG, WELCHE GEMEINGLICH VORGÄNGIG NÖTHIG IST, DER VÖLLIGEN UNTERWEISUNG EINER WISSENSCHAFT VORHERGESETZT ZU WERDEN, DAMIT DER LESER DIESELBE BESSER FASSEN MÖGE“ (ZEDLERS UNIVERSAL-LEXICON, 1754).

UVerantwortlich: Mara Delius Redaktion:Wieland Freund, Philipp Haibach, Marc Reichwein Gestaltung: Anja FreyeU 1 0888 Berlin, Axel-Springer-Straße 65, [email protected]

Die Gewinner des Buchhandelspreises
stehen fest. Kulturstaatsministerin Moni-
ka Grütters zeichnet in diesem Jahr die
Buchhandlung Slawski in Buchholz,
Buchstäbchen in Stuttgartund denTa-
schenbuchladen in Freibergals Beste
Buchhandlungen aus. Die Prämie beträgt
25.000 Euro. Der entscheidende Satz aus
dem Mund der Ministerin: „Während die
Algorithmen der Online-Händler sich auf
Bestseller konzentrieren und Abweichen-
des eher ausblenden, lotsen die Buch-
händler ihre Kunden durchgeistiges
Neuland.“

DER BETRIEB


Kurt Vonneguts Klassiker „Schlachthof 5“entsteht an seinem Schauplatz Dresden
noch einmal neu. Der Amerikaner Tim Youdwill den 1969 erschienenen Roman vom


  1. bis 16 Oktober in der Elbmetropole auf einer Schreibmaschine abtippen, wie sie
    auch Vonnegut seinerzeit genutzt hat. Die Aktion ist Teil des Kunstprojektes „100
    Novels“, bei dem Youd insgesamt 100 Romane an Orten abtippt, die mit den Bü-
    chern in Verbindung stehen. Angefangen hat Youd dabei mit Hunter S. Thompsons
    „Fear and Loathing in Las Vegas“, was insofern hintersinnig ist, als Thompson
    selbst vorher Fitzgerald und Hemingway abgetippt hatte. Im Militärhistorischen
    Museum kann man Youd am 10. und 11. Oktober nun bei der Arbeit an Vonnegut zu-
    sehen. Wer es nicht weiß: „Schlachthof 5“ erzählt von den Luftangriffen auf Dresden
    im Februar 1945. Als Kriegsgefangener hatte Vonnegut die Angriffe im Keller des
    städtischen Schlachthofs überlebt.


DIE AKTION


„Bei sehr schönem Frostwetter, morgens
um 6 Uhr, ging ich am 11. März aus Mün-
chen“, so beginnt Friedrich Hebbel sein
Reisejournal aus dem Winter 1839. Der
junge Dichter will zurück nach Hamburg,
wo er drei Jahre zuvor seine Geliebte Eli-
se Lensing zurückgelassen hatte und zum
Studium aufgebrochen war, zunächst
nach Heidelberg und weiter nach Mün-
chen. Statt in Juravorlesungen hält er
sich in der bayerischen Residenzstadt lie-
ber in Biergärten oder Kunstausstellun-
gen auf und verwendet seine intellektuel-
le Energie vorwiegend auf sein Tagebuch,
das er bis in die 1860er-Jahre führt und
das zu den größten Werken des 19. Jahr-
hunderts gehört. Hebbel ist der sprich-
wörtliche arme Poet, seine Kleidung
mehr als dürftig, Elise unterstützt ihn aus
der Ferne mit „Vorschüssen“, was Hebbel
ihr dankt, indem er drei Jahre lang ein
erotisches Doppelleben mit Johanna
Schwarz, genannt „Beppi“, der Tochter
des Tischlers von gegenüber, führt.
Um den Jahreswechsel 1838/39 wird
Hebbels Situation endgültig prekär. Seit
üüüber zwei Jahren hat er nichts Warmes ge-ber zwei Jahren hat er nichts Warmes ge-
gessen, als er sich eine Angina holt, kann er
keinen Arzt bezahlen, schließlich bleibt er
die Miete schuldig, sogar das Geld für
Briefporto wird knapp. Nach dem tragi-
schen Tod seines besten (und einzigen)
Freundes durch eine Krankheit hält ihn al-
len Kunstschätzen zum Trotz nichts mehr
in München. Auch Beppi nicht, die ihm sein
„Ränzchen“ noch bis ans Ende der Ludwig-
straße trägt. Dann wandert Hebbel, beglei-
tet von seinem Hund Hänschen, über Pfaf-
fffenhofen, Ingolstadt, Eichstätt bis nachenhofen, Ingolstadt, Eichstätt bis nach
Nürnberg, wo er die erst vier Jahre zuvor
eröffnete erste deutsche Eisenbahnlinie
nach Fürth ausprobiert: „Die Bewegung ist
von steigender Geschwindigkeit; wie
schnell es geht, bemerkt man am besten,
wenn man gerade an einem Gegenstand
vorüberkommt: Meilensteine, Bäume, Häu-
ser verschwinden, wie sie auftauchen.“
Danach geht es wieder langsamer vo-
ran, zwischendurch gönnt er sich einen
„Wagen“ bis Coburg und lässt sich auf-
schwatzen, mit dem „Brief-Felleisen“, al-
so dem Posttransport, Richtung Gotha zu
fahren: „Ein Wägelchen, auf dem man
kaum sitzen konnte, schneidende Kälte,
ohne Mantel, mit nassen Stiefeln; eine
wahre Tortur.“ Der Hund, erkältet und
mit blutig gelaufenen Füßen, droht zu er-
frieren. Hebbel springt ab und nimmt ei-
nen schmalen Fußweg über verschneite
Berge. Ein „höchst widerwärtiger Kerl“
trägt sich ihm „zum Gesellschafter an“
und ist nicht abzuwimmeln; immer bleibt
er in der Nähe. „Dann schwang er, indem
er weiterschritt, seinen keulenförmigen
Knittel um den Kopf“; Hebbel will nicht
umkehren auf dem schmalen Pass zwi-
schen hohen Schneewänden: „Ich ... hüte-
te mich nur, dass der unheimliche Gesell
mir nicht in den Rücken kam.“
Der „Kerl“ geht also voran, hält immer
wieder an und wendet sich um: „Fortwäh-
rend mit Frechheit beobachtet, machte
ich den Weg durch den Wald; die Hand-
schuh hatte ich ausgezogen, um nötigen-
falls meinen Stockdegen ziehen zu kön-
nen, und eigentlich verdross es mich,
dass ich keine Gelegenheit fand, ihn zu
gebrauchen.“ Hebbel ist entnervt und
kampfbereit. In Suhl angekommen, wird
er noch einmal angebettelt, dann ist Ru-
he. Die Reise kann weitergehen: über den
Thüringer Wald nach Gotha, Göttingen,
Celle. Schließlich erreicht Hebbel mit
letzter Kraft, den fast toten Hund auf
dem Arm, am 31. März Harburg, wo ihm
die treue Elise schon entgegenkommt
(die er später trotz zweier gemeinsamer
Kinder doch nicht heiraten wird). Vom
Tiefpunkt seines Lebens aus wagt er in
Hamburg den Neuanfang: Ein Jahr später
gelingt ihm mit „Judith“ der Durchbruch
als Dramatiker. RICHARD KÄMMERLINGS

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt
es. In dieser Reihe treten wir den Gegen-
beweis an.

ACTIONSZENEN DER
WELTLITERATUR

Hebbel auf dem


Survivaltrip


An dieser Stelle erscheint monatlich die
Empfehlungsliste mit der größten Ver-
breitung im deutschsprachigen Raum.
Medienpartner sind LITERARISCHE
WELT, WDR 5, „NZZ“ und Österreich 1.
Experten küren zehn Sachbücher(keine
Fachbücher) aus Geistes-, Natur-, Sozial-
und Wirtschaftswissenschaften. Die Liste
für Oktober führt ins Herz der Debatten
der Gegenwart: Es geht um Digitalisie-
rung, Urbanisierung, Klima, Migration
und – gewissermaßen als alles umschlie-
ßende Klammer – unsere ins Gerede ge-
kommene Streitkultur.


  1. Armin Nassehi: Muster. Theorie der di-
    gitalen Gesellschaft. Beck, 352 S., 26 €.
    2. Naika Foroutan: Die postmigranti-
    sche Gesellschaft. Transcript, 276 S.,
    19,99 €.
    3. Julia Ebner: Radikalisierungsmaschi-
    nen.Wie Extremisten die neuen Techno-
    logien nutzen und uns manipulieren.
    Suhrkamp, 335 S., 18 €.
    4. Vittorio Hösle: Globale Fliehkräfte.
    Karl Alber, 224 S., 24 €.
    5. Patrice G. Poutrus: Umkämpftes Asyl.
    Vom Nachkriegsdeutschland bis in die
    Gegenwart. Chr. Links, 248 S., 25 €.
    6. Samuel Strehle: Kollektivierung der
    Träume. Eine Kulturtheorie der Bilder.
    Velbrück, 346 S., 29,90 €.


7.-8. Friederike Otto: Wütendes Wetter.
Auf der Suche nach den Schuldigen für
Hitzewellen, Hochwasser und Stürme.
Ullstein, 240 S., 18 €.

Herbert Renz-Polster: Erziehung prägt
Gesinnung. Wie der weltweite Rechts-
ruck entstehen konnte – und wie wir ihn
aufhalten können. Kösel, 320 S., 20 €.


  1. Jack Miles: Gott im Koran. Hanser,
    288 S., 26 €.

  2. Friedrich v. Borries/Benjamin Kasten:
    Stadt der Zukunft. Fischer, 207 S., 13 €.


Die Jury
Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Brei-
tenfellner, Falter; Peter Ehmer, WDR 5;
Dr. Eike Gebhardt; Daniel Haufler; Prof.
Jochen Hörisch; Günter Kaindlstorfer,
Wien; Dr. Otto Kallscheuer; Petra Kam-
mann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter
Kogel; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof.
Dr. Herfried Münkler; Marc Reichwein,
WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zei-
tung; Prof. Dr. Sandra Richter, Literatur-
archiv Marbach; Wolfgang Ritschl, ORF;
Florian Rötzer, Telepolis; Dr. Frank Schu-
bert, Spektrum der Wissenschaft; Nor-
bert Seitz; Prof. Dr. Joachim Treusch; Dr.
Andreas Wang; Michael Wiederstein,
Schweizer Monat; Prof. Dr. Harro Zim-
mermann; Stefan Zweifel

DIE BESTENLISTE



  1. Jack Miles:


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